Das Problem mit dem Marxismus
Karl Marx war zunächst Philosoph und dann Ökonom.
Er folgte zwar Georg Hegels Ansicht, dass die Geschichte dialektisch in dreifacher Hinsicht voranschreitet – These, Antithese und Synthese -, aber er stellte Hegel auf den Kopf, indem er den Vorrang materieller Faktoren bekräftigte.
Demnach provoziert die alte Sklaverei ihre Antithese und produziert den Feudalismus als eine Synthese; der Feudalismus provoziert seine Antithese und produziert den bürgerlichen Kapitalismus als eine Synthese; der Kapitalismus provoziert seine eigene Antithese, die proletarische Revolution, die zu einer neuen Synthese des klassenlosen, kommunistischen Staates führt. Dies war Marx‘ großer Entwurf der Geschichte.
Der Motor, der diese Transformationen vorantreibt, war die Wirtschaft. Die Wirtschaft ist grundlegend, während Ideen, Kultur und Religion nur „Überbau“ sind. In dieser Hinsicht lehnte Marx Hegel ab, der ein philosophischer Idealist war; Marx war ein Materialist, wie es heute viele sind, die sich rühmen, „Realisten“ zu sein.
Materialismus und Moral
Der philosophische Materialismus hat jedoch viele Probleme, die er nicht lösen kann. Zunächst einmal kann sich die Materie nicht selbst erschaffen, weil sie, um sich selbst zu erschaffen, sich selbst vorausgehen müsste, was unmöglich ist. Zweitens ist der Materialismus rigide deterministisch, indem er implizit den freien Willen des Menschen verweigert. Wenn der Mensch ein vollkommen materielles Wesen ist – ein System von Elektronen, Atomen und Molekülen, die in einer vorbestimmten Weise umherwirbeln – kann es keine objektive Moral geben.
Moral impliziert Handlungsfähigkeit, Verantwortlichkeit, die Macht zu wählen und die eigenen Entscheidungen zu ändern. Wie kann es Moral geben, wenn wir materielle, vorbestimmte Wesen sind? Dies resultiert natürlich in einem moralischen Relativismus: Welche Moral wir auch immer verfechten, sie spiegelt unsere materiellen Umstände, wie etwa unsere soziale Klasse, vollständig wider.
Aber wie können wir dann erklären, dass wir das Gefühl haben, freie Menschen zu sein, mit Handlungsfähigkeit und mit der Macht, zwischen richtig und falsch zu wählen und für unsere Entscheidungen zur Rechenschaft gezogen zu werden? Hier lohnt es sich, darüber nachzudenken, wie der materialistisch-relativistische Mensch reagiert, wenn jemand seine Brieftasche stiehlt. Er ist empört, und wenn der Täter identifiziert werden kann, möchte er ihn unbedingt vor Gericht bringen. Das setzt natürlich voraus, dass es sich bei dem Dieb um einen freien Agenten handelt, der für seine Tat zur Verantwortung gezogen werden sollte. Kein moralischer Relativismus hier!
Das nächste Problem ist das Phänomen des Denkens. Der Verstand ist nicht dasselbe wie das Gehirn. Es ist der Verstand, der mit Hilfe des Gehirns über Probleme nachdenkt und zwischen verschiedenen Handlungsmöglichkeiten wählt – mit anderen Worten, er übt Handlungsfähigkeit aus. Eine rein physische Einheit kann keine Handlungsfähigkeit ausüben.
Dann ist da noch das Problem des Bewusstseins. Wir sind lebendig; wir sind bewusste Wesen – wir sind selbstbewusste Wesen. Wir können über uns selbst reflektieren und nachdenken. Ein rein materielles Wesen kann über nichts reflektieren oder nachdenken.
Andere Probleme: Was ist ein Gedanke? Ist er eine materielle Einheit? Was ist ein Gefühl? Ist das etwas, das als materieller Gegenstand identifiziert werden kann? Was ist die materialistische Erklärung für Musik und die starken Emotionen, die sie hervorruft?
Soweit ich das beurteilen kann, liefert der Materialismus keine befriedigenden Antworten auf diese Fragen, und weil er die Existenz einer objektiven Moral grundsätzlich leugnet, hat er katastrophale Folgen, wenn man ihn ernst nimmt, wie es im Marxismus der Fall ist.
Marx verwarf die konventionelle Moral als bloßes bürgerliches Eigeninteresse. Ich behaupte, dass diese Ablehnung der Moral für die schreckliche Korruption und die Missachtung des menschlichen Lebens verantwortlich ist, die jedes kommunistische Regime, das wir bisher erlebt haben, geplagt hat – Russland, seine osteuropäischen Satellitenländer, Kuba, China, Nordkorea, Kambodscha, Vietnam und Venezuela.
Dabei war der Marxismus in seinen Anfängen sehr idealistisch. Im „Kommunistischen Manifest“ und anderen Schriften forderten Marx und Engels die unterdrückten Arbeiter Europas auf, sich zu erheben, ihre Ketten abzulegen und einen Arbeiterstaat zu errichten, in dem Freiheit und Gleichheit herrschen, der Reichtum geteilt wird und die Menschen entsprechend ihren Fähigkeiten geben und entsprechend ihren Bedürfnissen empfangen.
Dieser klare Aufruf zum Handeln zog viele durch seine Vision eines Paradieses auf Erden an, aber natürlich lehnte er implizit materialistischen Determinismus ab. Denn wie können sich Arbeiter entscheiden, „aufzustehen“, wenn all ihre Handlungen von Kräften außerhalb ihrer selbst vorbestimmt sind? Dies ist nur einer von mehreren Widersprüchen im Herzen des Marxismus. Die moralische Empörung gegen die Kapitalisten ist ein weiterer.
Revolution
Marx war ein selbsternannter Revolutionär, der unverfroren die Gewalt als unverzichtbares Werkzeug für sozialen Wandel begrüßte. Schließlich gibt die herrschende Klasse niemals freiwillig die Macht ab; sie muss mit Gewalt gezwungen werden, ihre dominante Position aufzugeben.
Als Historiker beschäftige ich mich seit über 50 Jahren mit Revolutionen. Diejenige, über die ich am meisten weiß, ist die englische Revolution (1640-1660), aber ich bin auch mit der französischen (1789-1815), der russischen (1917-1921) und der chinesischen (ca. 1930-1949) recht vertraut.
Bei jeder Revolution war das Muster ähnlich. Eine kleine, entschlossene, leidenschaftlich idealistische Gruppe organisiert sich, um die unterdrückerische und/oder korrupte herrschende Klasse ihrer Zeit zu stürzen, um einen Neuanfang zu machen und mit einem nicht korrupten Regime, das vollkommene Gerechtigkeit für alle schaffen wird, neu zu beginnen. Sie finden anfangs viel Unterstützung, aber sie erzeugen auch starken Widerstand. Um diesen „reaktionären“ Widerstand zu überwinden, ist ein langwieriger, gewalttätiger Kampf notwendig.
In der englischen Revolution wurden die menschlichen Kosten in Hunderttausenden von Menschenleben gemessen; in der französischen Revolution, wenn wir die Tyrannei Napoleons, die das direkte Ergebnis der Revolution war, mit einbeziehen, wurden die Kosten in Millionenhöhe gemessen; in der russischen und chinesischen Revolution, wenn wir die totalitären Nachwirkungen mitzählen, wurden sie in Zehnmillionenhöhe gemessen
Schon bald ist die Mehrheit des Volkes entsetzt über das, was sie entfesselt hat, wendet sich gegen die Revolution und setzt sich dafür ein, das alte Regime in der einen oder anderen Form wiederherzustellen. In England erleben wir 1660 die Wiederherstellung der Monarchie; in Frankreich bringen sie 1815 den König zurück; in Russland ist das Regime bis 1989 moralisch so diskreditiert und so derart ohne wirtschaftliche Erfolge, dass es von selbst zusammenbricht, ohne dass sogar ein Schuss abgefeuert wurde. Das chinesische Regime ist immer noch an der Macht, nachdem es viele der wichtigsten Lehren des Marxismus aufgegeben hat, aber es ist immer noch enorm unterdrückend, mit Hunderttausenden (wenn nicht noch mehr), die immer noch im Gefängnis sitzen, und nach allem, was man hört, eine sehr unzufriedene Bevölkerung. Es ist nicht sicher, wie lange es noch dauern wird.
Ich stelle fest, dass in den Gesellschaften, die einen gradualistischen Ansatz gewählt haben, der das Beste aus der Vergangenheit bewahrt und auf diesen Errungenschaften aufbaut, eine echte Verbesserung der menschlichen Lage eingetreten ist. Genau das hat Großbritannien nach 1660 getan, Frankreich nach dem Sturz Napoleons, und Russland versucht es jetzt zögerlich.
Die Vorzüge des gradualistischen Ansatzes zeigen sich auch in Ländern, die den Marxismus abgelehnt haben: Skandinavien, Finnland und der größte Teil Europas, Jordanien, Marokko, Kanada, Japan, Indien, Singapur, Taiwan, Südkorea und (ja) die Vereinigten Staaten sowie der größte Teil Afrikas und Lateinamerikas.
Schließlich muss sich jeder Verteidiger des Marxismus (zu denen leider allzu viele Universitätsprofessoren gehören) der Realität stellen, dass der Marxismus bei weitem mehr menschliches Leid verursacht hat als jedes andere System politischer Ideen. Die folgenden Bücher, unter vielen anderen, dokumentieren die Tatsache, dass der Marxismus zwischen 1917 und heute für weit über 100 Millionen Tote direkt verantwortlich ist:
Aleksandr Solschenizyn, „Der Gulag-Archipel“ (eines der großen Werke der historischen Literatur des 20. Jahrhunderts); Stéphane Courtois u.a. „Das Schwarzbuch des Kommunismus“ (1997); Robert Conquest, „Der große Terror“ (1968); und Jung Chang und Jon Halliday, „Mao: die unbekannte Geschichte“ (2005).
Kurz gesagt, der Marxismus ist eine Sackgasse, und leider nicht die erste, in die die Menschheit verführt wurde.
Über den Autor: Ian James Gentles, Ph.D., ist emeritierter Professor der York University in Toronto und derzeit angesehener Professor für Geschichte und globale Studien an der Tyndale University, Toronto.
Zuerst erschienen in The Epoch Times USA mit dem Titel: The Trouble With Marxism (Deutsche Bearbeitung von hl)
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