9. November 1989 – Schicksalstag der Deutschen

Eine sehr persönliche Betrachtung eines Zeitzeugen.
Titelbild
Links: Das im November 1989 aufgenommene und am 9. November 2019 zur Verfügung gestellte Bild zeigt einen Mauerspecht, der versucht, Reste der Berliner Mauer in Berlin niederzureißen. Rechts: West-Berliner sitzen und hämmern am 9. November 1989 an die Berliner Mauer, um deren Fall zu fordern.Foto: Getty Images
Von 9. November 2023

In der Nacht vom 9. zum 10. November 1989 haben die Ostdeutschen die Berliner Mauer mit den Füßen eingerissen. Das Schicksal der DDR war besiegelt. Die in der Geschichte erste und einzige Revolution von Weltgeltung, bei der kein Schuss fiel, kein Tropfen Blut vergossen wurde. Die NVA war zwar in Alarmbereitschaft, doch die Soldaten blieben in den Kasernen, weil das Placet aus Moskau zum Eingreifen – Gorbatschow sei Dank – ausblieb.

34 Jahre ist das nun her und für alle, die hautnah mit dabei waren, als die Schlagbäume hochgingen, die uniformierten Grenzschützer beiseite traten und Tausende Ostberliner im Freudentaumel Westberliner Boden betreten durften, wird jene Nacht unvergesslich bleiben. Ich war dabei.

Angefangen hat alles mit jener ominösen Pressekonferenz von Günter Schabowski, in der er die neuen Reiseregeln für DDR-Bürger in Richtung Westen verkündete: keinerlei Einschränkungen mehr, ohne Vorlage eines triftigen Grundes, jederzeit möglich und „… Nach meiner Kenntnis ist das sofort, unverzüglich“. „Unverzüglich“ war das Zauberwort des Abends. Während ich noch zweifelte, ob dieses Statement des SED-Funktionärs ernst zu nehmen war oder ob es sich vielleicht doch nur um einen billigen Propaganda-Coup handelte, hatten sich unzählige Ostberliner schon auf den Weg gemacht in Richtung Grenzübergänge. Erst als ich in einer Schalte des Westberliner Senders SFB zur Bornholmer Straße sah, wie die ersten Trabis und Wartburgs, umringt von jubelnden Menschen die Grenzlinie passierten, war mir klar: Was der leicht verwirrt wirkende Schabowski da von seinem handgeschriebenen Notizzettel abgelesen hat, entsprach der Wahrheit.

Frustriert dreinblickenden Grenzer und jubelnde Menschen

Eine halbe Stunde später fuhr ich, „bewaffnet“ mit meiner Spiegelreflexkamera und reichlich Rollfilmen (die digitale Fotografie war noch nicht erfunden), in meinem Wagen die Bismarckstraße runter Richtung Invalidenstraße. Am Ende der Straße des 17. Juni angekommen, dirigierte mich ein Polizist in die Entlastungsstraße. „Sieh zu, dass du da irgendwo parken kannst. Weiter kommst du mit dem Auto nicht. Alles dicht.“ Nachdem ich den Wagen abgestellt hatte – an keinem anderen Tag hätte ich gewagt, so zu parken, aber die joviale-freundschaftliche Art des Beamten hatte mir Mut gemacht – machte ich mich auf in Richtung Grenzübergang, um schnell festzustellen, dass ich ganzen Körpereinsatz aufbringen musste, um gegen den Strom zu schwimmen. Massen waren in Gegenrichtung unterwegs, doch ich hatte mir vorgenommen, bis ganz nach vorne, bis zum zur Seite geschobenen Schlagbaum vorzudringen. Dann war ich da, machte Fotos von frustriert dreinblickenden Grenzern, von jubelnden Menschen, die ihr Glück nicht fassen konnten, von Männern und Frauen, die sich nie zuvor gesehen hatten und jetzt weinend umarmten. Irgendwann war der Druck zu groß und ich ließ mich mit der euphorisierten Menge gen Westen treiben.

„Wahnsinn“, das Wort der Stunde

Dort lichteten sich die Reihen etwas und ich traf auf vier junge Leute, zwei Pärchen, die sich in den Armen hielten und immer nur ein Wort, mal schluchzend, mal in voller Lautstärke von sich gaben: „Wahnsinn“! Das war das Wort der Stunde. Wir unterhielten uns kurz und für den Rest der Nacht waren sie „meine“ Ostberliner. Was sie vorhatten? Zum Ku’damm wollten sie. Na ja, mal sehen. An meinem Wagen angekommen – ein 3er-BMW, silbergrau, mit Alu-Speichenfelgen – streichelte Alex, von Beruf Kfz-Mechaniker, sanft über das Dach und seufzte: „So was will ich auch mal haben“. Für westliche Verhältnisse war das nichts Besonderes, wie wohl ich doch die Finanzierung Rate für Rate abstottern musste, denn auch für mich war es ein Traum, den ich nicht aus der Portokasse finanzieren konnte. Aber ich hatte die Möglichkeit, es zu tun, er bis dahin nicht. Im Autoradio wurde dringend davon abgeraten, in die Nähe des Kurfürstendamms zu fahren. Dort ging gar nichts mehr. Also machte ich mit meinen Gästen eine kleine Stadtrundfahrt: Goldelse, Charlottenburger Schloss, ICC, um mich gewissermaßen von hinten meiner Stammkneipe in der Emser Straße in Wilmersdorf zu nähern. Auch hier parkte ich verboten in der Gewissheit, dass das in dieser Nacht keinen Polizisten interessieren würde.

„Kannst du dir vorstellen, dass das bei uns ist?“

Im „Menta“ war die Hölle los, doch mithilfe der beiden Wirte, die mich gut kannten, ergatterten wir einen Platz und ich bestellte eine Runde Bier. Susi, die blond gelockte Friseurin, brachte sogleich ihre Bedenken vor, dass man ja kein Westgeld dabei habe, um sein Getränk zu bezahlen. Diese Sorge konnte ich ihr schnell nehmen. Dann entdeckte Frank den Telefonapparat an der gegenüberliegenden Wand (auch das Handy war noch nicht erfunden). „Meinst du, ich kann da mal meinen Kumpel in Pankow anrufen?“ „Keine Ahnung. Versuch’s. Hier hast du fünf Groschen. Sollte reichen. Wenn du mehr brauchst, sag Bescheid.“

Frank ging zum Telefon, betätigte die Wählscheibe und steckte sich den Zeigefinger seiner linken Hand ins Ohr. Der Lärm in der Kneipe war unbeschreiblich. Wie es aussah, hatte er Verbindung, redete und plötzlich drehte er sich um und hielt den Hörer in den Raum. Zurück an unserem Tisch berichtete er von dem Gespräch mit seinem Kumpel, der die Aufregung der Nacht schlicht und ergreifend verschlafen hatte. Als er ungläubig nachfragte, ob Frank nicht Märchen erzählte, hielt dieser den Telefonhörer hoch, um die Lautstärke einzufangen und fragte seinen Kumpel dann: „Kannst du dir vorstellen, dass das bei uns ist?“ Die Uhr hinter dem Tresen zeigte 3 Uhr 30 und der Kollege am anderen Ende der Leitung musste zugeben, dass er sich das nicht vorstellen konnte.

Abschied von „meinen“ Ostberlinern

Meine Gäste erwiesen sich als ziemlich trinkfest. Die Männer blieben beim Bier, die Frauen sprachen dann lieber dem Prosecco zu. Gegen vier Uhr wurde Alex unruhig. „Ich denke, es wird Zeit. Wir müssen morgen alle zur Arbeit.“ Seine Freunde stimmten zu und auch ich hatte das Gefühl, dass es genug war und ich mein Glück mit der Polizei nicht unnötig herausfordern sollte. Ich strengte mich an, sehr konzentriert zu fahren und kurz vor dem Grenzübergang Invalidenstraße entließ ich „meine“ Ostberliner in den Menschenstrom, der jetzt wieder Richtung Osten unterwegs war. Herzliche Verabschiedung, ein paar Tränchen von den Frauen – das war’s. Obwohl ich jedem eine Visitenkarte gegeben hatte, habe ich nie wieder etwas von meinen Begleitern durch die Nacht des 9. November gehört. Das ist nicht weiter tragisch und es ändern nichts an meiner uneingeschränkten Freude über die Ereignisse jener Nacht und das unglaubliche Gefühl, diesen historischen Moment hautnah miterlebt zu haben. Aus dem Fotomaterial, meinen Notizen und Gesprächserinnerungen habe ich dann zwei Tage später vier Sonderseiten für meine Zeitung produziert. Die Auflage war großartig.

Warum erzähle ich so ausführlich von meinen persönlichen Erfahrungen dieser Nacht? Weil es eben ein großer Unterschied ist, ob ich am nächsten Tag in Bayern, Thüringen, Hessen oder Mecklenburg-Vorpommern die Bilder im Fernsehen sehe, oder ob ich selbst mitten drin war. Das, was die Montagsdemonstranten in Leipzig und andernorts skandiert haben: „Wir sind das Volk“ hat sich am 9. November manifestiert und mehr noch war das Bewusstsein „Wir sind ein Volk“ für alle Menschen, die dabei waren, eine selbstverständliche Übereinkunft. Die Nähe, die sich da spontan zwischen Menschen aus Ost und West entwickelt hat, repräsentiert die Wahrheit der Wiedervereinigung – ungeachtet all der Schwierigkeiten und Ungerechtigkeiten, die damit einhergingen.

„Blühende Landschaften“ in fünf Jahren war eine Utopie

Bundeskanzler Kohl hat damals vollmundig von den „blühenden Landschaften“ gesprochen, die die Menschen der ehemaligen DDR binnen fünf Jahre erleben würden. Dieses Versprechen war allzu optimistisch, wie wir wissen, doch man muss dem Helmut und seiner Regierung auch zugutehalten, dass sie nicht ahnen konnten, wie kaputt dieser Arbeiter- und Bauernstaat in Wirklichkeit ist, wie marode die Städte sind, wie unbrauchbar die Infrastruktur, wie unproduktiv die Wirtschaft. Das alles hat sich erst nach und nach gezeigt. Dass die Treuhand und andere Heuschrecken diese Phase des Umbruchs und der Ungewissheit schamlos ausgenutzt haben, um getrieben von schamloser Profitgier ganze Regionen wirtschaftlich platt zu machen und Hunderttausende in die Arbeitslosigkeit zu treiben, ist eine nicht zu widerlegende Tatsache, für die man sich als Westdeutscher auch fremdschämen kann. Für die politische, wirtschaftliche, kulturelle und soziale Vereinigung von zwei Staaten, die noch dazu zwei sich grundsätzlich feindlich gegenüberstehenden ideologischen Lagern angehörten, gab es allerdings keine Blaupause. Etwas Derartiges hat es noch nirgendwo auf der Welt gegeben. So darf es nicht verwundern, dass im Zuge dieses Transformationsprozesses auch Fehler gemacht wurden und dieser historische Kraftakt keineswegs nur Gewinner, sondern auch jede Menge Verlierer hervorgebracht hat.

Hubert von Brunn ist Buchautor und Journalist.

Dieser Beitrag stellt ausschließlich die Meinung des Verfassers dar. Er muss nicht zwangsläufig die Sichtweise der Epoch Times Deutschland wiedergeben.


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