Kissinger: „Welt nach Corona-Pandemie wird nie wieder dieselbe sein“ – Neuer Marshall-Plan nötig

Ex-US-Außenminister Henry A. Kissinger geht davon aus, dass die politischen und wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie noch über Generationen wirken könnten. Er sieht bei falscher Reaktion die „Werte der Aufklärung“ und den „Gesellschaftsvertrag“ in Gefahr.
Titelbild
Eine Frau hängt am 28. März 2020 im Hafen von Los Angeles in der Stadt San Pedro eine US-Flagge in einem Zaun vor dem Krankenhausschiff "Mercy" der US-Marine auf. Das Schiff verfügt über 1000 Betten, die für die Behandlung von Nicht-Corona-Patienten genutzt werden sollen.Foto: APU GOMES/AFP über Getty Images
Von 6. April 2020

Dass die Corona-Pandemie „für immer die Weltordnung verändern“ wird, dessen ist sich der ehemalige US-Außenminister und langjährige außenpolitische Berater US-amerikanischer Regierungen Henry A. Kissinger sicher. In einem Beitrag für das „Wall Street Journal“ attestiert er der Trump-Administration, solide Arbeit geleistet zu haben, als es darum ging, eine unmittelbare Katastrophe zu verhindern.

Die eigentliche Prüfung, so Kissinger, werde allerdings darin bestehen, die Verbreitung des Virus auf eine Weise und in einem Ausmaß zu stoppen, dass das öffentliche Vertrauen in die Fähigkeit der Amerikaner erhalten bliebe, sich selbst zu regieren.

Erstmals deutlicher Rückgang der Neuinfektionen in den USA

Am Sonntag (5.4.) war die Zahl der Neuinfektionen in den USA erstmals seit 21. März – damals noch auf deutlich niedrigerem Niveau – rückläufig. Nachdem der Samstag mit 34.196 neuen Corona-Fällen den bisherigen Höchststand gebracht hatte, ging die Zahl der Neuinfizierten am Sonntag deutlich zurück auf 25.316.

Derzeit sind in den Vereinigten Staaten 336.851 Menschen mit dem SARS-CoV-2-Virus infiziert, die meisten davon – nämlich 123.018 – in New York. Aktiv sind gegenwärtig 309.254 Fälle, in kritischem Zustand befinden sich 8.702 Infizierte, verstorben sind bis dato 9.620.

Mit 1.018 Infizierten auf eine Million Einwohner weisen die USA in Relation zur Bevölkerungszahl nach wie vor einen geringeren Wert auf als die meisten EU-Mitgliedsländer, inklusive Deutschland. In den USA wurden bislang mehr als 1,7 Millionen Menschen auf das Virus getestet.

Kissinger fühlt sich in der derzeitigen Situation – einer Bedrohung durch einen Feind, der jederzeit zuschlagen kann –, an seine Zeit als Soldat im Zweiten Weltkrieg erinnert. Anders als 1944, als sich die Amerikaner über alle Grenzen hinweg durch eine übergeordnete nationale Aufgabe vereint sahen, sei das Land nun gespalten. Das mache es angesichts der Größe der Aufgabe zur noch größeren Herausforderung, das öffentliche Vertrauen zu bewahren.

Corona-Folgen richten grenzüberschreitend Schaden an

Nationen würden durch das Vertrauen darauf zusammengehalten und gedeihen, dass ihre Institutionen bevorstehenden Schaden voraussehen, seine Wirkung im Zaum halten und Stabilität wiederherstellen, schreibt Kissinger. Und er fügt hinzu:

Wenn die COVID-19-Pandemie vorbei ist, werden die Institutionen vieler Länder als Versager wahrgenommen. Ob diese Einschätzung objektiv richtig ist, ist irrelevant. Die Realität ist, dass die Welt nach dem Coronavirus nie wieder dieselbe sein wird. Jetzt über die Vergangenheit zu streiten, macht es schwerer, das zu tun, was jetzt getan werden muss.“

Derzeit sei, so Kissinger, keine Heilung für COVID-19 in Sicht. Es könnte 12 bis 18 Monate dauern, bis es einen erfolgreichen Impfstoff gibt. Derzeit seien Intensivstationen überfüllt und die Kapazitäten vieler Krankenhäuser überbeansprucht. Die negativen Auswirkungen auf die Gesellschaft machten sich grenzüberschreitend bemerkbar.

Kissinger sieht drei Kernaufgaben für die USA

Während die Gefahr für die menschliche Gesundheit eine temporäre sei, würden die politischen und wirtschaftlichen Folgen länger andauern, möglicherweise für Generationen. Das gäbe dem Problem noch eine internationale Dimension:

Kein Land, nicht einmal die USA, kann das Virus in einer ausschließlich nationalen Kraftanstrengung besiegen. Zusätzlich zu den Erfordernissen des Augenblicks müssen wir eine Vision und ein Programm zur globalen Zusammenarbeit finden. Wenn wir beides nicht gleichzeitig schaffen, werden wir das Schlechteste von beiden Ebenen erleben.“

Die USA müssten nun, in der Tradition des Marshall-Plans und des Manhattan-Projekts, vor allem drei Aufgaben wahrnehmen: Zum einen gehe es darum, weltweit die Widerstandsfähigkeiten gegen Infektionskrankheiten zu stärken – was neue Techniken und Technologien zur Infektionskontrolle und Immunisierung größerer Bevölkerungen erforderlich mache. Dazu sei auch übergreifende Zusammenarbeit nötig.

„Prinzip der ummauerten Stadt“ ist zurück

Dann gehe es um die Heilung der Wunden der Weltwirtschaft. Zwar hätten Länder weltweit Lehren aus der Weltfinanzkrise gezogen. Die nunmehrige sei jedoch noch komplexer und der Schaden weltweit größer und schneller entstanden, zumal die sozialen Distanzierungsmaßnahmen dazu beitrügen.

Es müsse deshalb Programme geben, um vor allem die verwundbarsten Teile der Bevölkerung vor drohendem Chaos zu schützen.

Außerdem müsse man die „Prinzipien der liberalen Weltordnung“ schützen. Die Pandemie habe das mittelalterliche Konzept der ummauerten Stadt zurückgebracht, während unser Wohlstand von globalem Handel und Bewegungsfreiheit für die Menschen abhänge.

Deshalb müssten die Demokratien der Welt die „Werte der Aufklärung“ verteidigen und so den „Gesellschaftsvertrag“ bewahren:

Ein globaler Rückzug vom Gedanken der Balance von Macht und Legitimität wird dazu führen, dass der Gesellschaftsvertrag sowohl zu Hause als auch auf internationaler Ebene bröckelt. Die Jahrhundertaufgabe von Macht und Legitimität kann aber nicht zeitgleich mit dem Bemühen bewältigt werden, die COVID-19-Seuche zu besiegen. Sowohl in der Innenpolitik als auch im Bereich der internationalen Diplomatie ist auf allen Seiten Zurückhaltung nötig. Es müssen Prioritäten gesetzt werden.“

Politische Führer stünden vor einer historischen Aufgabe, schließt Kissinger. Ein Versagen könnte die Welt in Brand setzen.

Dieser Beitrag stellt ausschließlich die Meinung des Verfassers dar. Er muss nicht zwangsläufig die Sichtweise der Epoch Times Deutschland wiedergeben.


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