Jens Sembdner von den PRINZEN: „Ein Tal ist notwendig, damit man auch den Gipfel zu schätzen lernt“
Freitag, 7. April 2017. Als ich über die Glienicker Brücke nach Potsdam fahre, regnet es. Trotz des ungemütlichen Wetters freue ich mich auf die Begegnung mit Jens Sembdner, meinem heutigen Gesprächspartner. Mit seiner Band „Die Prinzen“ feiert er seit mehr als zwanzig Jahren große musikalische Erfolge. Er kennt die Hochs dieses Lebens und weiß, wie sich Erfolg anfühlt – doch auch die Schattenseiten, die tiefen Täler, sind ihm nur allzu vertraut.
Als ich am Park „Neuer Garten“ ankomme, lässt der Schauer nach. Ich genieße den Ausblick auf den Heiligensee. Ein kühler Wind weht mir entgegen, als ich die Beifahrertür öffne und meinen Dalmatiner Whiskey aus dem Auto springen lasse. Wenig später treffe ich wie verabredet Jens Sembdner und ich habe das Gefühl, dass er seinen Platz im Leben gefunden hat. Er strahlt jene innere Ruhe und Gelassenheit aus, die nur von Menschen ausgeht, die bei sich selbst – in ihrer Mitte – angekommen sind.
Während wir gemeinsam unseren Weg durch den frühlingshaften Park fortsetzen, sprechen wir über die Höhen und Tiefen seines Lebens, darüber, wie er nach dem Tod seiner Frau zurück ins Leben gefunden hat und warum es heute wieder so viel Schönes, Neues und Unerwartetes für ihn bereithält.
Herr Sembdner, Sie haben sich nach dem Suizid Ihrer Frau beeindruckend zurück ins Leben gekämpft. Ihr Buch „Von unten betrachtet geht es nur nach oben“ wird möglicherweise vielen Menschen Hoffnung und Zuversicht geben. Wann kam für Sie der Augenblick, in dem Sie gewusst haben, dass es weitergehen wird und dass das Leben noch eine Menge mit Ihnen vorhat?
Das hat Jahre gedauert. In der ersten Zeit wollte ich nichts weiter, als alles zu erhalten und weiterzuführen, wie es meine Frau gewollt hätte. Ich habe mich beispielsweise um unser Grundstück gekümmert und versucht, den Kindern ein guter Vater zu sein. Zunächst hat es mich aufgebaut, dass ich mir gesagt habe: „Du erhältst das Grundstück, du machst das mit den Kindern genauso wie sie es getan hätte. Und du schmückst zu Weihnachten das Haus genauso wie sie es immer getan hat.“ Erst Jahre später kam der Moment, als ich gemerkt habe, dass das alles Quatsch ist. Ich konnte eben nicht ihr Leben für sie weiterleben, sondern musste mein eigenes leben. Ich erinnere mich wie heute, dass ich damals mit einer Rosenschere im Garten stand und dachte: „Was tust du hier eigentlich?“ Erst da habe ich realisiert, dass es ja für mich weitergehen musste.
Bis dahin hat es zweieinhalb Jahre gedauert. Eine relativ lange Zeit.
Ich glaube sogar, dass es länger gedauert hat. Und wenn die Kinder nicht gewesen wären, hätte ich vermutlich aufgegeben und gesagt: „Das war’s.“ Sie haben mich am Leben gehalten. Dennoch hat es viele Jahre gedauert, bis ich verstanden habe, dass es in diesem Haus keine Zukunft für mich gab. Da steckte einfach so viel von uns beiden drin. Als ich damals auf die Rosenschere geblickt habe, habe ich entschieden, dass ich einen radikalen Schnitt machen und das Haus verkaufen muss, wenn ich noch irgendetwas vom Leben haben will. Dieser Schritt fiel mir nicht leicht, aber ich glaube, am Ende war es gut so.
Hat Ihnen dieser Schritt auch geholfen, das Vergangene loszulassen?
Ja. Wobei mir final erst das Buch geholfen hat. Darin habe ich alles verarbeitet und noch einmal aufgearbeitet, was mich all die Jahre beschäftigt hat. Manchmal werde ich gefragt: „Kann ich mit Ihnen darüber reden?“ Mittlerweile kann ich sagen: „Ja, das ist überhaupt kein Problem.“ Ich kann alles erzählen, ohne dass es mich aus der Bahn wirft. Früher habe ich immer Heulkrämpfe bekommen und wollte lieber für mich alleine sein.
Die Heulkrämpfe sind ja Bestandteil einer gesunden Trauerarbeit. Was hat Ihnen in der Trauerphase geholfen?
Anfangs haben wir, „Die Prinzen“, alle Konzerte abgesagt. Später haben wir das Konzertgeschäft wieder aufgenommen und sind auf Tournee gegangen. Das hat mir geholfen, denn es hat mich abgelenkt von meinen düsteren Gedanken. Obwohl unser Songrepertoire mit „Küssen verboten“ oder „Mann im Mond“ nicht gerade meinem Gemütszustand entsprach. Manchmal ist es mir auch auf der Bühne passiert, dass ich einen Heulkrampf bekommen habe. Das war mir peinlich und ich habe versucht, es zu unterdrücken. Heute weiß ich, dass das dazu gehört. Die Band hat mich immer unterstützt. Die Jungs haben mir gesagt: „Mach einfach so wie du kannst und wenn du nicht mehr kannst, dann hör auf.“ Das hat mir geholfen.
Gab es noch andere Menschen, die in besonderer Weise für Sie da waren?
Es gab eine Freundin in Hamburg. Sie hat das wirklich toll gemacht. Hamburg und Leipzig sind ja bekanntermaßen nicht gerade um die Ecke. Wir haben oft telefoniert und sie hat gespürt, wenn es mir nicht gut ging, Obwohl ich zu ihr gesagt habe: „Es ist alles gut“. Sie ist dann von Hamburg nach Leipzig gekommen, um mich zu besuchen. Weil sie am nächsten Tag wieder arbeiten musste, war sie nur für zwei Stunden da, doch diese Zeit hat mir sehr geholfen. Wir haben geredet, sie war für mich da und hat mich getröstet. Das werde ich ihr nie vergessen. Solche Menschen sind sehr rar.
Aber wenn man sie hat, ist es ein großes Glück …
Ja, dafür kann man wirklich dankbar sein.
Haben Sie auch die Erfahrung gemacht, dass sich einige Freunde in dieser Zeit zurückgezogen haben?
Ja, aber ich habe es ihnen nicht übel genommen. Ich glaube, dass der Grund ihre Unsicherheit war, denn in einer solchen Ausnahmesituation Worte zu finden, ist schwierig. Dabei ist es nicht einmal so, dass man Worte finden muss. Manchmal ist es einfach nur gut, dass jemand da ist.
… dass einem jemand die Hand hält oder einen in den Arm nimmt.
Ganz genau. Oder dass man einfach ganz alltägliche Dinge tut, wie zum Beispiel zusammen Kaffee zu trinken oder gemeinsam etwas zu kochen. Es ist das Alltägliche, das einen von dem Gedankenkarussell ablenkt und es für einen Moment zum Stillstand bringt. Denn die Frage nach dem Warum quält einen 24 Stunden am Tag …
Und die Frage nach dem Warum ist wahrscheinlich auch noch stärker, wenn man weiß, dass eine Depression die Ursache für den Verlust des geliebten Menschen war?
Ja.
War Ihre Frau in psychotherapeutischer Behandlung?
Nein. Das verstehen viele nicht. Aber wir kommen aus dem Osten. Vor der Wende wurde eine psychische Erkrankung gleichgesetzt mit Zwangsjacke, Irrenanstalt und Verrücktsein. Man hat nicht gerne zugegeben, dass man zum Psychologen geht. Es gab keinen Unterschied zwischen Psychotherapie und Psychiatrie, alles wurde in einen Topf geworfen. Und deshalb hat meine Frau alles versucht, um nicht die Hilfe eines Psychologen in Anspruch nehmen zu müssen.
Heutzutage hat sich das Image von Psychologen gewandelt. Es ist ein Stück weit normal geworden, zum Psychologen zu gehen …
Ich habe nach dem Tod meiner Frau auch die Hilfe von Psychologen in Anspruch genommen. Es waren etwa 20 Psychologen, aber keiner hat mir wirklich geholfen.
Warum nicht?
Eine Psychologin fragte mich: „Wie geht es Ihnen heute?“ und meine Antwort war: „Ganz gut.“ Dann kam die nächste Frage: „Was haben Sie denn heute gemacht?“ und ich hab erzählt: „Ich war spazieren, in der Sauna und dann noch eine Runde schwimmen.“ Dann schaute sie mich an und sagte: „Sehen Sie und das machen Sie jetzt immer.“ Ich hab sie damals ungläubig angestarrt und gefragt: „Und wie lange haben Sie studiert, um mir das zu sagen?“ Ich fand das einfach zu wenig. Das wusste ich ja selbst.
Man spürt ja auch, wenn die Depression kommt, sich das Gedankenkarussell im Kopf wieder dreht und man sich ständig die gleichen Fragen stellt: „Warum, wieso, weshalb?“. Ich hab dann für mich herausgefunden, dass es mir gut tut, mit meinem Hund rauszugehen. Wenn ich also merkte, dass die Depression zurückkam, hab ich einfach meine Jacke geschnappt und bin raus in die Natur gegangen. Das hat mir enorm geholfen.
… und die Erfahrung mit den Psychotherapeuten setzte sich fort?
Ja, leider. Die einschneidendste Erfahrung hatte ich bei einem Therapeuten, der mir in Leipzig als absolute Koryphäe empfohlen wurde. Ich kam zu ihm und er sagte: „Setzen Sie sich doch und erzählen Sie mir, was Sie auf dem Herzen haben.“ Und ich hab eine dreiviertel Stunde, in der er nichts gesagt hat, mein Innerstes offenbart. Als ich fertig war, schaute er mich über den Rand seiner Brille an und fragte: „Sagen Sie, haben Sie eigentlich Ihre Krankenversicherungskarte dabei?“ Ich war wie vor den Kopf gestoßen und sagte: „Das ist jetzt nicht Ihr Ernst. Ich packe hier mein Leben auf den Tisch und Sie fragen mich, ob Sie auch wirklich eine Abrechnung dafür bekommen? Nehmen Sie es mir nicht übel, aber dafür ist mein Problem zu heikel.“ Ich bin aufgestanden und hab ihm gesagt, dass ich keine zweite Sitzung bei ihm machen werde.
Es hat mir einfach nicht gut getan. Ich hab noch einige Anläufe gestartet und meine Geschichte immer wieder von vorn erzählt.
Man muss ja auch ein Vertrauensverhältnis aufbauen …
Genau. Und wenn du Negativerfahrungen gemacht hast, erzählst du beim nächsten Mal nicht mehr so frei. Du bist von vornherein skeptisch, schaust den Therapeuten an und fragst dich: „Verlangt der jetzt auch wieder nur deine Krankenkarte? Was hat er wohl mit dir vor?“
Ich glaube, dass man selbst herausfinden muss, was einem gut tut …
Richtig. Ich war oft in der Kirche. Offiziell wollte ich nicht zugeben, dass ich den Gottesdienst besuche, aber ich habe mich oft wochentags heimlich in die Kirche geschlichen. Dann hab ich mich auf eine der Holzbänke gesetzt und mit Gott geredet. Das habe ich manchmal stundenlang getan.
Ihre Erfahrungen mit der Kirche waren aber nicht nur positiv?
Ich war damals auch in einer Freikirche aktiv und bin zu den Gottesdiensten gegangen. Der Pfarrer hat mich auch zu Hause besucht. Irgendwann kam er dann mit der Idee, mein Haus für die Gemeinde nutzen zu wollen. Und später wollte er mir auch eine Frau aus der Gemeinde vermitteln. Dass mir der Pfarrer sagte, was ich mit meinem Haus und mit meinem Privatleben tun solle, ging mir wirklich zu weit.
Das klingt schon etwas übergriffig!
Den Eindruck hatte ich auch. Und meine natürlichen Instinkte haben dann Gott sei Dank so gut funktioniert, dass ich mir gesagt habe: „Vorsicht!“ Ich hab mich eben zu jener Zeit an alles geklammert, was mir Halt versprach. Und wenn in einer solchen Zeit jemand da ist, der einem das Gefühl gibt, dass er mit beiden Beinen im Leben steht und weiß, was richtig ist, gibt es gewiss Menschen, die ihm blind folgen werden.
Sie haben dann Ihren ganz eigenen Weg zu Gott gefunden. Haben Sie die Bibel gelesen?
Ich hab die Bibel komplett gelesen. Aber ich war heilfroh, als ich mit dem Alten Testament durch war. Wenn ich gelesen habe, was es da für Schlachten gegeben hat, habe ich teilweise an Gott gezweifelt.
Haben Sie sich darüber mit anderen ausgetauscht?
Ich war drei Wochen in einer Gemeinde in Winterthur in der Schweiz. Da haben wir viel geredet. Was mich jedoch gestört hat war, dass die Gemeindemitglieder pausenlos zu mir kamen und gefragt haben: „Bist du jetzt bekehrt?“ Das war nicht meins. Ich war auch nie der typische Kirchgänger, der sonntags in die Kirche geht, ein paar Münzen in die Kollekte wirft und glaubt, dass er dadurch mit dem Herrgott im Reinen ist. So läuft das nicht. Ich hab für mich etwas anderes gefunden, nämlich, dass Gott überall ist. Er ist in jeder Lebenssituation bei mir, ich kann immer mit ihm sprechen. Wenn ich einen schönen Baum oder einen Hund ansehe und Freude empfinde, ist das für mich das Göttliche. Ich begegne Gott nicht nur dann, wenn ich in die Kirche gehe.
Aber noch etwas habe ich für mich dabei entdeckt: Dass meine irdischen Werte nach dem Tod meiner Frau komplett verloren gegangen sind. Das Streben nach Anerkennung, Geld und Erfolg zählte für mich nicht mehr. Wenn ich beispielsweise im Taxi saß und der Taxifahrer wollte zehn Euro, hab ich ihm 20 Euro gegeben; ohne jetzt besonders nett sein zu wollen. Geld hatte keinen Wert mehr für mich. Und auf der anderen Seite war es genauso: Wenn ich einkaufen ging – im Buchladen oder auch in einem Blumengeschäft – habe ich immer ein Geschenk bekommen: Sei es ein Buch oder Blumen. Das heißt, ich habe mich auf einer Ebene bewegt, auf der alles eins war. Das Geben, das Nehmen, die Freude. Das war für mich das Göttliche.
Vielleicht müssen wir erst solche „Weckrufe“ erhalten, die uns mit der eigenen Endlichkeit konfrontieren, damit wir Dinge in Frage stellen, die wir einst als wichtig erachtet haben.
Ja, und es ist wichtig, dass man das tut. Ich bin überzeugt, dass wir auf diesem Planeten ziemlich viel falsch machen. Dass wir Ziele haben, die vollkommen sinnlos sind. Wenn man sich mal ansieht, wie lange es die Menschheit schon gibt und was wir schon alles erreicht haben: Wir fliegen ins Weltall, tauchen ins Meer, alles scheint möglich. Nur eines haben noch nicht geschafft: Dass wir uns gegenseitig gut behandeln, respektieren und achten, unabhängig von Religion und Herkunft.
Wenn Sie sagen, daß irdische Dinge wie Anerkennung, Karriere und Erfolg für Sie nicht mehr wichtig sind, was ist es denn dann, was zählt?
Ich möchte Ihnen ein Beispiel geben: Ich bin durch den Wald gelaufen, hab eine Blume gesehen und bin in Begeisterungsstürme ausgebrochen. Ich habe das wirklich so empfunden. Heute ist das natürlich wieder sozusagen in die Normalität zurückgekehrt. Ich vermisse manchmal, dass ich das so nicht mehr kann. Man wird natürlich durch das Leben wieder ein Stück geerdet: Man hat Verpflichtungen, muss sich um sein Kind kümmern und darum, dass es einen ordentlichen Abschluss macht.
Kürzlich hat mich mein Sohn gefragt: „Du Papa, was nützt mir dieser Abschluss, wenn ich damit nicht glücklich bin?“ Ich wusste, dass er mit seiner Frage den Nagel auf den Kopf getroffen hatte und habe zu ihm gesagt: „Dann überleg doch mal, was du gern machen würdest.“ Er sagte: „Ich würde jetzt gern meinen Rucksack packen und in die Welt hinaus gehen.“ Und ich antwortete: „Dann mach’s.“ Jetzt ist er in Australien.
Und wenn Sie das genauso tun könnten, was würden Sie machen?
Ich bin kurz davor. Ich schaue auch, was ich gern tun würde. Das normale Leben ist mir oft zu eng. Ich würde genau das Gleiche tun. Ich würde auch gern einen Rucksack packen und sagen: „Ich mach mich mal auf den Weg, egal wohin.“ Diese Freiheit zu haben, finde ich unglaublich wichtig. Einfach offen zu sein, nicht zu wissen, was der Tag dir heute bringt, wenn du morgens aufstehst …
… das muss man aber auch erst einmal zulassen können, sich in das Unvorhersehbare und in die Unsicherheit fallen zu lassen. Anfangs ist es schwer, damit umzugehen, dass plötzlich das Leben auf dem Kopf steht und man nichts mehr planen kann …
Ja, das ist schwer. Ich habe meinen ersten Schritt in diese Richtung mit dem Verkauf meines Hauses gemacht. Ich habe gemerkt, dass es Zeit für mich war, das Unerwartete in mein Leben zu lassen, offen zu sein und neugierig in die Zukunft zu blicken. Wenn ich heute unterwegs bin und Fischer am Meer beobachte und sehe, wie zufrieden sie aussehen, finde ich das toll. Sie haben bestimmt auch ihre Probleme, aber man spürt, dass sie ihr Leben lieben und es genießen. Jeden einzelnen Tag.
Das ist großartig. Den wenigsten Menschen gelingt es wohl, ihr Leben zu leben, es zu genießen und das Beste daraus zu machen, weil viele in Zwängen leben und diese nicht als solche wahrnehmen. Und plötzlich verrinnt die Zeit, das Leben fließt dahin und man findet sich in einem Hamsterrad wieder. Vielleicht auch deshalb, weil wir oft Dinge tun, die nicht für uns bestimmt sind, Dinge, die uns nicht vom Herzen her zufallen. Zu erkennen und loszulassen, wenn es nicht das Eigene ist, wenn es nicht das ist, das einen glücklich macht und erfüllt, ist, glaube ich, nicht einfach …
Stimmt, das ist nicht einfach. Wenn man es nicht tut, besteht die Gefahr jedoch darin, dass man sich irgendwann mit seinem Leben und seinem Schicksal abfindet und sagt: „Dann ist es eben so.“ Und dann kommt man irgendwann in ein Alter, in dem man plötzlich keinen geregelten Tagesablauf mehr hat, weil man im Ruhestand ist. Dann sitzt man da und fragt sich: „War das jetzt alles?“ Davor habe ich Angst. Ich möchte nicht, dass es mir einmal so geht. Deshalb will ich lieber verrückte Dinge tun, beispielsweise mal ein halbes Jahr lang eine Auszeit nehmen und nach Indien gehen. Viele Menschen erklären mich dann für verrückt. Aber das stört mich nicht. Denn jetzt kann ich das. Nach dem Tod meiner Frau hätte ich das am liebsten sofort getan. Aber damals ging das nicht, denn ich hatte ja ein Kind zu Hause.
Da hat man natürlich Verantwortung!
Eben. Dann kann seinem inneren Drang nicht einfach so nachgeben. Ich spüre jedoch, dass dieser Drang, seit mein Sohn weg ist, stärker wird. Aber ich habe natürlich noch Verpflichtungen mit der Band: Wir haben Verträge für Konzerte unterschrieben, die wir erfüllen müssen. Dennoch gibt es Zeitfenster, in denen ich auch sagen kann: „Ich schließe jetzt die Tür zu. Ihr kennt ja meine Telefonnummer. Sie funktioniert überall auf der Welt.“
Dank Internet und virtueller Welt sind wir ja überall und jederzeit erreichbar. Aber diese Welt auch einige Nachteile …
Gerade auf Facebook ist ja immer alles wunderbar und schön. Aber so ist das Leben eben nicht. Bei mir hat das eher negative Gedanken in Gang gesetzt. Das waren mir einfach zu viel „Mir-geht-es-gut“-Einflüsse von anderen. Ich gönne es ja jedem, dass es ihm gut geht, aber wenn es einem richtig dreckig geht, postet man das nicht auf Facebook. Das will niemand lesen.
Irgendwann hab ich gedacht: „Wie wäre es denn, wenn du einfach mal in ein Kloster gehst?“ Ich hab das dann schließlich umgesetzt und bin für eine Woche in ein Kloster der Stille gegangen.
Was war das für eine Erfahrung?
Wenn man aus unserer Welt kommt – mit Facebook, Twitter, WhatsApp und ständiger Erreichbarkeit – ist das erst einmal ein Schock. Man hat ja in diesem Kloster nichts, womit man sich ablenken kann, außer vielleicht mal ein Buch zu lesen. Es gibt keine Tageszeitung, kein Fernsehen …
.. nichts, das einen von sich selbst ablenkt.
Richtig. Das ist nicht einfach. Unsere Welt besteht schließlich aus Ablenkung. Wenn man dann jemandem sagt: „So, nun beschäftige dich mal drei Tage lang nur mit dir“, erntet man unverständliches Kopfschütteln oder verständnislose Kommentare wie: „Was soll ich denn da machen? Das wird ja langweilig.“
Die ersten zwei Tage im Kloster, das gebe ich zu, waren der Horror. Ich habe ja noch nicht einmal mit den Mönchen gegessen. Zu den Essenszeiten bin ich den Weg der Stille gegangen. Den liefen auch die Mönche in ihrer Kutte, und ich ging hinterher. Dann kam ich zu einer Essensausgabestelle. Dort befand sich eine Luke, durch die mir ein Mönch mein Essen im Korb herausreichte. Den habe ich genommen und bin zurück zu meiner Zelle gegangen. Ich war also nur für mich, 24 Stunden am Tag, mit Ausnahme von drei Gottesdiensten, morgens um 7, um 12 und 18 Uhr.
Welche Gedanken sind Ihnen im Kloster durch den Kopf gegangen?
Die ersten zwei Tage habe ich wirklich Ablenkung gesucht. Ich bin durch den Klostergarten spaziert und hab überlegt, ob ich nicht den ganzen Garten umgraben soll. Hauptsache, ich könnte etwas tun. Aber dann, am dritten Tag, habe ich mich damit abgefunden.
Im Kloster habe ich gelernt, dass ich alle Gedanken und Fragen nach dem Warum zulasse. Ich hab erkannt, dass das Schlimme immer dann eintrifft, wenn man sich dagegen sträubt. Oder wenn man die Fragen nach dem Warum verdrängt. Ich hab dann gedacht: „Okay, du willst also wieder in meinen Kopf rein? Gut, dann komm!“ Ich hab positiv darauf geschaut. Und dann wurden die Abstände, bis die Frage nach dem Warum kam, immer größer. Das ist, glaube ich, das Essenzielle: Dass man sich der Sache stellt.
Das ist wie mit der Depression. Wenn die alte Dame Depression an die Tür klopft, soll man öffnen, sie reinlassen und ihr zuhören.
Das ist das gleiche Prinzip. Dass man alle Türen öffnet und sagt: „Komm rein.“ Und dass man auch alles zulässt, was passiert. Wenn es Heulkrämpfe hervorruft, gehört das dazu. Ich habe mich irgendwann auch gefragt, ob vielleicht gewisse Denkstrukturen bei mir nicht stimmen. Vielleicht dachte ich zu negativ.
Würden Sie sagen, dass Sie eher ein Negativdenker sind?
Ich würde nicht sagen negativ, aber ich würde sagen, dass ich ein sehr tiefgründiger Mensch bin. Ich gehe den Dingen auf den Grund. Und ich bewundere andererseits die Menschen, die die Gabe haben, oberflächlich zu sein, nichts zu nah an sich ran zu lassen und über etwas drüber zu huschen. Denn diese Menschen haben es manchmal leichter. Ich bleibe dann oft hängen.
Als wir damals das Haus gebaut haben, habe ich mich in verschiedene Themen eingelesen, beispielsweise wie man Mörtel anrührt. Normalerweise sagt man ja: Ich beauftrage ein Bauunternehmen und die machen das dann. Aber ich wollte in die Tiefe gehen und am Ende habe ich es selbst gebaut. So ist das mit allen Dingen, die ich tue. Das ist einerseits gut, aber andererseits macht es mich manchmal auch verrückt, wenn ich immer bis auf den Grund bohren muss.
Ich hab auch mit meinen Brüdern gesprochen, über das Sterben und den Tod. Die schauten mich nur verständnislos an und sagten: Aber doch nicht in deinem Alter. Über den Tod sprechen, das macht doch erst mit 70. Das ist doch jetzt noch nicht wichtig. Viel wichtiger sind die schönen Dinge, schnelle Autos, viel PS …
Kommen wir noch einmal zurück zu Ihrer Frau und dem Thema Depression. Sie sagten ja, dass man zu DDR-Zeiten anders damit umgegangen ist. Man hat nicht darüber gesprochen. Aber als Angehöriger waren Sie ja täglich damit konfrontiert. Wie schwierig war es für Sie, mit der Depression Ihrer Frau umzugehen?
Das war sehr schwer. Ich hätte mich vielleicht mehr durchsetzen sollen. Vielleicht hätte ich auch sensibler sein müssen und die Zeichen wahrnehmen sollen. Ich war damals manchmal 295 Tage im Jahr mit der Band unterwegs und meine Frau saß alleine zu Hause. Sie hatte nur eine Freundin, und die wohnte 40 Kilometer entfernt. Das heißt, sie war auch nicht immer da. Und meine Frau wollte das auch nicht. Sie sagte immer zu mir: „Wenn du da bist, habe ich alles.“
Das ist ja einerseits schön …
… ja, aber andererseits ist das eine große Verantwortung. Irgendwann habe ich zu ihr gesagt: „Ich kann nicht dein Ehemann sein, Freundin und Freundeskreis zugleich.“ Wenn ich dann vorgeschlagen habe, dass sie auch mal mit ihrer Freundin was macht, oder sich einer Frauengruppe anschließt, schaute sie mich an und sagte: „Warum soll ich denn mit den ganzen Weibern da sitzen und mir anhören: ‚Mein Mann macht das oder jenes.’ Das interessiert mich nicht.“ Ich hab dann versucht ihr klar zu machen, dass es nicht darum geht, ob es sie interessiert oder nicht, sondern darum, dass sie mal raus kommt und mir auch mal etwas von ihren Erlebnissen erzählt. Aber das wollte sie nie. Für sie war es verschwendete Zeit. Und wenn ich dann mit der Band im Studio war und wir eine neue CD produziert haben, ist meine Frau manchmal drei Tage nicht ans Telefon gegangen.
Was haben Sie dann gemacht?
Ich hab’s weiter versucht und irgendwann hab ich sie dann erreicht und gefragt, warum sie nicht ans Telefon gegangen ist. Sie hat dann erwidert: „Ach, mir war nicht danach. Mir ging es nicht so gut. Aber jetzt ist alles wieder gut.“ Ich konnte auch nicht einfach weg, denn ich hatte ja einen Job, den ich erfüllen musste. Das Studio war damals in Hamburg.
Hatte Ihre Frau vorher bereits einen Suizidversuch unternommen?
Nein. Sie hat irgendwann einmal, als wir in den Skiurlaub gefahren sind und ich sie fragte, wo wir denn hin müssten, gesagt: „Mist, ich hab die Adresse auf dem Küchentisch liegen lassen.“ Dann hat sie plötzlich während der Fahrt die Autotür aufgerissen. Ich hab sofort angehalten und gesagt: „Das ist doch nichts Schlimmes.“ Es war das einzige Mal, bei dem ich vielleicht hätte hellhörig werden müssen.
Aber sie hat mir immer das Gefühl gegeben, dass alles in Ordnung ist, und dass sie alles im Griff hat – und dass zu ihrem großen Glück nur noch Kinder fehlen. Weil wir das auf normalem Weg nicht hinbekommen haben, haben wir es mit künstlicher Befruchtung versucht. Das komplette Programm mit Hormonbehandlung etc. Das bedeutete jahrelangen psychischen Stress. Wenn der Arzt dann anrief und sagte: „Es hat leider nicht geklappt“, war sie immer wieder niedergeschlagen und wurde zunehmend dünnhäutiger.
Sie hat dann zu mir gesagt: „Alles, was ich mit Kindern machen wollte, ist mir nicht vergönnt gewesen. Ich wollte Kindergärtnerin werden, aber das ging im Osten nicht, weil ich kein Instrument spiele. Ich wollte eigene Kinder, aber das hat nicht funktioniert.“ Dann sind wir zum Jugendamt gegangen, und haben den Wunsch geäußert, ein Kind zu adoptieren. Als ich mit der Band später auf Sardinien war, rief sie mich morgens an und sagte voller Freude: „Du, Schatz, es ist soweit. Ich gehe ins Krankenhaus. Wir bekommen ein Baby, weil eine Mutter ihr Kind abgeben möchte.“ Abends rief sie mich dann wieder an und schluchzte eine Viertelstunde und ich hab gefragt: „Was ist los?“ „Sie hat es sich anders überlegt“, sagte sie. Dann hab ich mich in den nächsten Flieger gesetzt und bin nach Hause geeilt, weil ich wusste, dass sie vollkommen am Boden zerstört ist. Jetzt musste ich da sein, das ging nicht anders.
Woher haben Sie die Kraft und die Stärke genommen, in diesen Situationen immer wieder für Ihre Frau da sein zu können?
Mir blieb nichts anderes übrig. Ein Arzt oder ein Psychologe kam für sie nicht in Frage. Also war ich auch Arzt und Psychologe zugleich. Ich hab sie dann ins Auto gepackt und gesagt: „Wir fahren jetzt einfach durch Deutschland, suchen uns die schönsten Plätze, und gehen den ganzen Tag spazieren und reden.“ Das hat ihr auch gut getan. Aber ich hab schon gespürt, dass die Zeit, in der ich das abfangen konnte, begrenzt war. Als die Adoption dann geklappt hat und wir Dominik bekamen, hab ich geglaubt, jetzt sei alles gut. Als ich jedoch gemerkt habe, dass damit nichts gut war, bin ich innerlich zusammengebrochen.
… weil die Depression blieb.
Ja, und dann hatte ich meinen Mut und meine Zuversicht verloren. Ich hatte einfach keinen Plan mehr, was ich noch tun sollte. Egal, was ich auch getan hätte, der Rucksack mit der Depression wäre immer im Gepäck geblieben …
Sprechen wir noch einmal über die Zeit nach dem Suizid Ihrer Frau. Suizid ist ja eigentlich ein Thema, über das man nicht spricht. Welche Erfahrungen haben Sie damit gemacht?
Die Presse ist unbarmherzig und gnadenlos. Wir haben damals über unsere Presseagentur eine Meldung herausgegeben, in der stand, dass es eine Vergiftung war. Suizid haben wir nicht erwähnt. Die großen Boulevardzeitungen witterten jedoch eine fette Story. Sie waren sofort da, sogar am Grab lauerten mir Fotografen auf.
Im engsten Freundeskreis bin ich natürlich offen damit umgegangen. Alle waren geschockt. Sogar meine Band, die sonst immer viel erzählt, saß am Tisch und war sprachlos. Und dabei hab ich darum gebetet, dass endlich jemand was sagt. Irgendwann bei unserem dritten Treffen hat dann unser Schlagzeuger einen Witz gemacht. Ich war so erleichtert, dass ich ihn umarmt habe
War die Sprachlosigkeit das Schlimmste?
Ja. Wobei ich die Menschen auch verstehen kann. Sie wussten nicht, wie sie dem gegenübertreten sollten und ich gehe auch mal davon aus, dass ich mich ebenfalls anders als sonst verhalten habe.
Manchmal hilft auch ein kleines Stück Normalität.
Das stimmt. Wobei ich auch festgestellt habe, dass es gar nicht so einfach ist, einem Kind ein guter Vater zu sein. Ich hab dann das gemacht, was meine Frau sonst immer gemacht hat: Frühstück, Mittagessen und Abendbrot zubereitet, mit meinem Sohn gespielt … Irgendwann hab ich Hausfrauen und Mütter wirklich vergöttert, weil ich erst jetzt gesehen habe, wie anstrengend das ist. Ich hab sie dafür bewundert, wie sie das alles unter einen Hut bringen.
Sie haben nach dem Tod Ihrer Frau auch versucht, sich das Leben zu nehmen. Wie sind Sie da wieder rausgekommen? Was hat Ihnen geholfen?
Wenn man einen Suizidversuch unternimmt, kommt man ja erst mal in eine psychiatrische Anstalt. Anschließend kam ich noch für zwölf Wochen in eine psychosomatische Klinik. Das Ziel war, Zeit zu gewinnen, denn das war kurz nach dem Tod meiner Frau.
Dort gab es natürlich auch psychologische Betreuung, aber in erster Linie wurde in Gruppen gearbeitet. Ich erinnere mich noch gut an eine Frau, die zum Frühstück immer mit krebsroter Haut erschien. Ich hab dann mal gefragt, was sie macht. Mir wurde erklärt, dass sie heiß duscht und sich verbrüht. Ihr Mann und ihre zwei Kinder hatten sich das Leben genommen, und sie bestrafte sich jeden Tag dafür.
Damit, dass sie sich verbrühte und Schmerzen zufügte?
Ja. Da habe ich das erste Mal gedacht: „Dieser Frau geht es ja noch viel schlechter als dir. Du musst ihr helfen.“ Dann bin ich mit ihr Kaffee trinken gegangen. Plötzlich hab ich gespürt, dass ich gebraucht werde. Ich zwar selbst in der Klinik, weil ich Hilfe brauchte, aber in dem Moment hat es mir geholfen, für andere Menschen da zu sein.
Was würden Sie sich heute am meisten wünschen?
Ich würde mir wünschen, dass die Welt mehr fühlt als denkt. Dass die Menschen mehr aufeinander achtgeben. Dass sie spüren, dass alles miteinander verbunden ist.
Aber ich weiß auch, dass es mir nichts nützt, wenn ich sage: „Ich wünsche mir etwas.“ Aus Erfahrung weiß ich: Wenn sich der Wunsch erfüllt, freut man sich zwar. Es dauert jedoch nicht lange, bis man zum nächsten Ziel aufbricht. Man will mehr. Aber das ist ein sinnloses Rennen, das ermüdet. Die größten Glücksgefühle habe ich, wenn mich wildfremde Menschen anlächeln und ich lächle zurück. Das ist das schönste Gefühl, das es gibt. Das ist unbezahlbar.
Wie wichtig ist es Ihnen heute noch, Anerkennung und Bestätigung zu erfahren?
Ich wünsche mir das manchmal schon. Als ich einmal in einer Gemeinde war, habe ich älteren Frauen Kaffee ausgeschenkt. Das war ein Gefühl, das viel schöner war, als vor zehntausend Menschen auf der Bühne zu stehen. Weil es anders ist. Sie haben mich als Mensch wahrgenommen. Das Publikum aber, das mir auf der Bühne zujubelt, kauft eine Karte, weil sie einen prominenten Sänger oder Entertainer erleben wollen.
Heute frage ich mich immer öfter: „Jubeln sie jetzt meinetwegen oder weil sie sich ein Bild von mir aufgebaut haben, dem sie zujubeln?“ Auf jeden Fall ist es eine Illusion, denn diesen Menschen gibt es nicht. Wenn ich jedoch in die dankbaren Augen der älteren Frauen schaute, denen ich Kaffee eingeschenkt habe, war das viel schöner, weil es echt und authentisch war.
Wäre es etwas für Sie, sich sozial zu engagieren?
Das würde ich mir sehr wünschen. Auch dafür ist jetzt der nötige Raum vorhanden. Ich bin noch dabei zu schauen, was es sein sollte.
Ich bekomme ja viele Briefe und Mails von Menschen, die sagen, dass es ihnen gut tut, dass ich so offen über das, was ich erlebt und erfahren habe, spreche. Ich glaube, dass so etwas eine gute Sache wäre. Dass ich Menschen durch Gespräche oder durch das Zusammensein dahin bringen könnte, dass sie innerlich gesunden.
Es gibt ein sehr schönes Zitat des libanesischen Schriftstellers Mikhail Naimy: „Lange habt ihr auf der Höhe gelebt. Heute müsst ihr hinabsteigen in die Tiefen. Wenn ihr nicht aufsteigt durch Absteigen und das Tal nicht mit dem Gipfel verbindet, werden die Höhen euch immer schwindlig und die Tiefen euch immer blind machen.“ Würden Sie diese Ansicht von Naimy teilen und wenn ja, warum?
Ich teile sie einhundert Prozent. Auch wenn ich jetzt niemandem wünsche, dass er das tiefste Tal erwischt, aber ein Tal ist einfach notwendig, damit man auch den Gipfel zu schätzen lernt. Das ist nun einmal das Leben. Das Leben bedeutet nicht, dass es von Geburt an bis zum Lebensende nur aufwärts geht. Es schwankt, mal geht es hoch, mal hinunter. Bei dem einen schwankt es mehr und bei dem anderen weniger. Aber je mehr es schwankt, um so mehr bekommt man ein Fundament. Auch wenn das jetzt vielleicht paradox klingen mag. Denn man baut eine innere Stabilität auf, die es einem ermöglicht, selbst nicht mehr so zu schwanken, weil man fester mit beiden Beinen im Leben steht und die Täler besser aushält und durchsteht. Schicksalsschläge und Krankheiten gehören eben zum Leben.
Und es kommt darauf an, was wir daraus machen.
Ich bin auch gespannt, was der Herrgott dann zu mir sagt, wenn ich irgendwann im Himmel sein sollte. Ob ich die Prüfungen gut bestanden habe? Vielleicht sagt er ja zu mir: „Du hast dich ganz wacker geschlagen mit dem, was ich dir mit auf den Weg gegeben habe.“
Vielleicht haben wir auch ganz falsche Vorstellungen von Glück. Vielleicht bedeutet Glück auch, all das erlebt und erfahren zu haben und trotzdem fest und stark zu sein, und mit der Erfahrung, die man beim Durchschreiten der Täler gemacht hat, Menschen helfen zu können. Denn wenn andere durch diese Täler gehen müssen, ist es ganz gut, wenn sie jemanden dabei haben, der sich dort auskennt und weiß, wie der Weg hindurch und wieder hinaus führt. Es ist gut, jemanden an der Seite zu haben, der die Hand nimmt und einen hindurch begleitet.
Was ist Glück heute für Sie?
Glück ist für mich, glückliche Menschen zu sehen. Menschen zu sehen, die ehrlich glücklich und zufrieden sind. Es gibt ja gerade in meinem Beruf viele aufgesetzte Menschen. Ich mag es, das reine Glück im anderen Menschen zu sehen. Ich bin erst seit einem Jahr in Potsdam und liebe Blumen und gehe gern welche kaufen. Und das tue ich bei der Blumenverkäuferin, die ein großes inneres Glück ausstrahlt. Bei ihr spüre ich, dass sie von innen heraus strahlt. Ich glaube, dass auch die Blumen dieses Strahlen annehmen, weil sie mit Liebe behandelt werden.
Was ist Liebe für Sie?
Liebe ist, wenn man sich komplett hingibt. Wenn es keine Grenzen gibt. Eine Liebe ist ein Kreis, der komplett ist. Liebe ist für mich immer etwas ganz Kompaktes. Ich liebe eine Frau nicht für ihre Schönheit, sondern ich liebe ihr Wesen, ihre Persönlichkeit. Einfach alles. Und genauso ist es mit dem Leben. Wenn man lernt, sein eigenes Leben in der Fülle zu lieben, dann hat man es auch leichter, mit der Liebe umzugehen.
Man muss sich auch selbst lieben können, um andere zu lieben.
Ja. Das ist sehr wichtig. Wenn man sich selbst liebt, kann man dem anderen auch viel geben.
Was ist es denn, das wirklich zählt im Leben?
Frei zu sein. Die Möglichkeit zu haben, das Leben von jetzt auf gleich komplett ändern zu dürfen. Und das hat nichts mit Geld zu tun. Ich hab kürzlich eine Dame kennengelernt, die als Aushilfs-Lehrerin in der Schweiz arbeitet. Sie tut das ein halbes Jahr und das andere halbe Jahr nimmt sie einen Rucksack und schaut sich die Welt an. Und das Geld, das sie mit ihrer Arbeit verdient hat, gibt sie da wieder aus. Das finde ich toll. Man muss es ja nicht machen, aber allein die Möglichkeit zu haben, es zu tun, ist schön.
Herr Sembdner, ich danke Ihnen herzlich für das Gespräch.
Gastautorin Dr. Sandra Maxeiner ist Gründerin des gemeinnützigen Vereins „Was wirklich zählt im Leben e.V.“.
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