Gestrandet am Tor zur Freiheit

Sfax, zweitgrößte Stadt Tunesiens: Offener Rassismus, Verdrängung aus den Städten und nicht selten Deportation in die Wüste schaffen ein Abschreckungspotential, das die Flüchtlingszahlen sinken ließ. Unser Autor war vor Ort.
Titelbild
Beschlagnahmt von der Nationalgarde im Hafen von Sfax: mit primitiven Eisenbooten kommen Migranten über das Mittelmeer. Bei größeren Wellen schlagen sie voll und werden zu stählernen Särgen für die Migranten.Foto: Thilo Gehrke
Von 12. Januar 2025

Tunesien ist seit dem neuen Migrationspakt von 2023 eines der wichtigsten EU-Partnerländer zur Eindämmung der Flüchtlingszahlen nach Europa. Tunesiens Präsident Kais Saied geht nun, motiviert durch viel Geld aus der EU und Deutschland, mit harter Hand gegen die illegale Masseneinwanderung aus meist armen schwarzafrikanischen Staaten vor. Dabei dient das nordafrikanische Land nur als Transitkorridor.

„So wie ihr den Ukrainern helft, die vor einer Katastrophe fliehen, solltet ihr auch uns aufnehmen, wir sind alle Menschen und haben alle das Recht zu leben“, sagt Mohammed Ali Mohammed aus dem Sudan, ein junger durchtrainierter Mann in Fußballkleidung.

Sein Erscheinungsbild erinnert mich an die Spieler der Deutschen Nationalmannschaft, aber er steht mit anderen jungen Afrikanern im Schatten einer Palme. Auf dem staubigen Boden liegen Plastikfetzen und Pappen, sie dienen als Nachtlager.

In Blicknähe plätschert das Mittelmeer als Tor zur Freiheit, denn sie alle eint der Wunsch, Tunesien so schnell wie möglich in Richtung Europa zu verlassen. Vom wogenden Ufersaum aus Plastikflaschen, Algen und hin und wieder menschlichen Überresten ertrunkener Migranten umweht mich der Duft von Diesel und Fäkalien.

Wir befinden uns am Rande der tunesischen Großstadt Sfax. Sich im Zentrum aufzuhalten, finden diese Jungs zu gefährlich.

Fischereihafen von Sfax: deutsche Forschung soll helfen, Lösungen für Tunesiens Umweltmanagement zu finden. Foto: Thilo Gehrke

Unruhen nach Messergewalt durch Migranten

Seitdem letztes Jahr ein Tunesier durch einen Migrantenmob aus Subsahara-Afrika durch Messergewalt getötet wurde, eskaliert die Gewalt in der Hafenstadt. Diese Transitreisenden werden oft mit Kriminalität, Gewalt und Vergewaltigung in Verbindung gebracht. Einwohner machen Jagd auf „die Schwarzen“, Sicherheitskräfte transportieren sie regelmäßig in Konvois aus der Stadt in entlegene Gebiete.

Wie in Videos in sozialen Netzwerken zu sehen war, versuchte eine aufgebrachte Menge, Türen einzutreten und ein Gebäude in Brand zu stecken, um offenbar schwarze Migranten aus Sfax zu vertreiben. In einem anderen Video war zu sehen, wie sie bei Dunkelheit abgeführt und zu Polizeifahrzeugen gebracht wurden.

Auch nach dem Begräbnis des ermordeten Tunesiers war es zu Ausschreitungen in Sfax gekommen. Bewohner blockierten eine Hauptstraße, steckten Reifen in Brand und forderten ein entschlossenes Vorgehen gegen Migranten.

Subsahara-Migranten am Bahnhof von Sfax. Foto: Thilo Gehrke

Jene, die all dem entkamen, haben weiterhin ein konkretes Ziel: Europa, nicht selten Deutschland. In illegalen Camps, weit außerhalb der Stadt fernab jeglicher Versorgung, harren sie nun auf eine Gelegenheit zur Überfahrt aus.

Über diese Zustände vor Ort zu recherchieren, ist für Journalisten nicht ungefährlich, denn bereits im September 2022 wurde in Tunesien das Gesetzesdekret 54 eingeführt. Damit soll die Internetkriminalität eingedämmt werden, versprach Präsident Kais Saied. Für die Verbreitung von vermeintlichen Falschinformationen drohen seither Haftstrafen von bis zu zehn Jahren.

Der „Dschungel“ ist überall

Die Erinnerungen an meinen letzten Besuch eines solchen Ortes der Verzweiflung und des Chaos in Calais am Ärmelkanal vor 9 Jahren kommen hoch. Es ist ein Problem, dem die herrschende Politik bis heute nicht Herr wird. Schon von weitem umschloss mich ein fauliger Geruch.

Im „Dschungel“, einer bunten Camping-Zeltstadt inmitten schwelender Müllberge fernab jeglicher Zivilisation hausten unter einer toxischen Dunstglocke auch damals schon tausende überwiegend schwarzafrikanische Männer.

Viele geschickt von ihren Großfamilien als Pioniere für ein besseres Leben. Es sind Zustände, die bis heute anhalten. Aber auch die offiziellen Lager der Illegalen auf Lampedusa und Lesbos in Europa sind Horte der Kriminalität und fördern den Menschenhandel.

Tunesiens zweitgrößte Stadt war bis letztes Jahr das Epizentrum der Versuche, das Mittelmeer von der tunesischen Küste aus zu überqueren. Sie ist weniger als 130 Kilometer von Europa, der italienischen Insel Lampedusa, entfernt, so nah wie keine andere tunesische Großstadt. In überladenen kleinen Fischerbooten zahlen die überwiegend jungen Afrikaner etwa 1.000 Euro an ihre Schlepper.

Oberst Ferid von der tunesischen Küstenwache, ein drahtiger Offizier mit Bürstenschnitt und wachen Augen, arbeitet im Auftrag der EU. Er bestätigt nach einem Einsatz vor der Küste: „Die meisten Aufgegriffenen haben es schon fünf oder sechs Mal versucht, viele von Ihnen können nicht schwimmen. Sie wollen zwar gerettet, aber nicht zurück nach Tunesien gebracht werden.“

Mehr als 1.800 Menschen sind nach UN-Angaben 2023 bei Schiffsunglücken im zentralen Mittelmeer ums Leben gekommen. Das waren mehr als doppelt so viele wie im gesamten Jahr davor.

Men­schen­rechts­ak­ti­vis­ten aus Sfax schätzen, dass sich mehr als 70.000 Menschen ohne Aufenthaltsgenehmigung im Land aufhalten. Das Innenministerium geht dagegen von 21.000 illegal aus Subsahara-Afrika Eingereisten aus.

Immer wieder wird in deutschen Medien über Misshandlungen und rassistische Übergriffe auf Migranten durch tunesische Sicherheitskräfte berichtet. Von der Jagd auf vor allem schwarze Menschen in allen Städten und immer wieder Angriffe auf deren provisorische Lager in Olivenhainen nördlich von Sfax, Abschiebungen in die Wüste an die Grenzen zu Algerien oder Libyen, von Verhinderungen der Abfahrten per Boot durch tunesische Sicherheitskräfte.

Der deutsche Regierungssprecher Steffen Hebestreit kündigte auf Anfrage des „Bayerischen Rundfunks“ eine Überprüfung der Zusammenarbeit mit Tunesien an. Daran konnte er sich jedoch bei der letzten Pressekonferenz im September 2024, 4 Monate später, nicht mehr erinnern.

Dieser ehemalige DDR-Fischkutter diente bis 2018 als „Seenotretter“ im Mittelmeer und wird vom Regensburger Verein Sea Eye betrieben. Heute liegt die Sea Eye 1 als Mahnmal im Harburger Binnenhafen, die Nachfolgeschiffe sind größer und moderner. Foto: Thilo Gehrke

„NGO-Schiffe sind als Seenotretter immer wieder im Einsatz im zentralen Mittelmeer, auch zwischen Tunesien und Lampedusa, aber nur noch wenige Flüchtlingsboote schaffen es heute dorthin und können gerettet werden. Die meisten Überfahrten finden von Libyen aus statt, jetzt auch ganz vom Osten Richtung Kreta“, sagt Conni Gunsser vom Flüchtlingsrat Hamburg zur aktuellen Situation in Tunesien.

Besetzt mit Freiwilligen und finanziert mit Spenden auch von den deutschen Amtskirchen, kreuzen sie im Mittelmeer und halten gezielt Ausschau nach Migranten, um sie nach Europa zu bringen. Auch der Bundestag der Ampel unterstützt diese besondere Form der Seenotrettung im Mittelmeer mit acht Millionen Euro.

„Tunesien kann seine eigenen Grenzen schützen, wir weigern uns, ein Aufnahmeland für Migranten zu sein.“

Die Angst vor einer neuen anhaltenden Flüchtlingskrise und dem Sterben im Mittelmeer veranlasste die deutsche EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen und Innenministerin Nancy Faser zu einem Besuch bei Tunesiens konservativen Präsidenten Kais Saied zum Aushandeln eines neuen Migrationspaktes.

Der Umworbene genießt seine neue Vormachtstellung und verkündet selbstbewusst vor den EU-Vertretern: „Tunesien kann seine eigenen Grenzen schützen, wir weigern uns, ein Aufnahmeland für Migranten zu sein.“

Es geht um viel Geld, Arbeitsvisa, die Rücknahme abgeschobener Tunesier und vor allem um den Stopp der Migrantenströme von Tunesien über das Meer nach Europa. Die finanzielle Unterstützung des Migrationspaktes beträgt etwa eine Milliarde Euro aus der EU.

Seit 2015 bilden deutsche Bundespolizisten Mitglieder der tunesischen Grenzpolizei und Nationalgarde aus, außerdem liefert Deutschland Ausrüstung und Pickup-Fahrzeuge. Laut Bundesinnenministerium flossen bislang 31 Millionen Euro für Ausbildung und Ausrüstung nach Tunesien.

Geld, das der wirtschaftlich gebeutelte Staat gut gebrauchen kann. Gezahlt wird natürlich nur nach Einhaltung menschenrechtlicher Standards, wird stets medienwirksam betont. Gleichwohl kündigt der Präsident an, nicht der Torhüter Europas sein zu wollen.

Während Kais Saieds Rhetorik die Zusammenarbeit mit der EU und somit dem säkularen Westen leugnet, zeigen seine Handlungen Loyalität mit der europäischen Politik der vorgegebenen Abschottung.

„Tunesien ist nicht Torhüter Europas“

Insgesamt erhält Tunesien für 2024 und 2025 99,86 Millionen Euro deutsches Steuergeld an Entwicklungshilfe, unter anderem für Wirtschaft, erneuerbare Energien, aber auch für Wanderwege, Gender und Abfallwirtschaft. Der Etat der deutschen Entwicklungshilfe betrug im Jahr 2024 11,2 Milliarden Euro.

Tunesien ist ein Urlaubsland, in dem es das ganze Jahr warm ist, gilt aber nicht als sicherer Herkunftsstaat, was Abschiebungen erschwert. Berlin verfügt ein Winterabschiebestopp aus humanitären Gründen, da es in den Herkunftsländern zu kalt sei.

Auf einem muslimischen Küstenfriedhof: Solidarität mit Palästina als Staatsräson in der arabischen Welt. Foto: Thilo Gehrke

Das Urlaubsparadies lockt auch um die Weihnachtszeit mit milden Temperaturen und günstigen Preisen deutsche Rentner ans Mittelmeer zum Überwintern. Viele Hotelkomplexe in der Touristenregion Sousse stehen jedoch leer.

Auffällig sind aber die allgegenwärtigen Solidaritätsbekundungen mit Palästina und Fahnen, die zum Freiheitskampf mit den islamischen Glaubensbrüdern gegen Israel aufrufen.

Leerstehender Hotelkomplex in Sousse mit Solidaritätsbekundung. Foto: Thilo Gehrke

Synagoge als „Lost Place“

An einer Kreuzung fällt mir ein großes ruinöses Gebäude mit dem Davidstern auf. Die Beth-El-Synagoge von Sfax war einst die zweitgrößte des Landes. Mittlerweile existiert in der 300 Kilometer südlich der Hauptstadt Tunis gelegenen, 270.000 Einwohner zählenden Hafenstadt am Mittelmeer aber schon lange keine jüdische Gemeinschaft mehr.

Nun wurde ein Brandanschlag auf diesen „Lost Place“ verübt. Es ist nicht der erste Vorfall dieser Art in jüngster Zeit. Bereits im Oktober 2023 steckten Dutzende Menschen in Al Hammah im Landesinnern eine ehemalige Synagoge in Brand. Auslöser war offenbar der Gaza-Krieg.

Staatspräsident Kais Saied fährt einen harten Kurs gegenüber Israel. Die Deutsche Botschaft in Tunis hatte bereits unmittelbar nach der Terrorattacke der Hamas am 7. Oktober 2023 gegen Israel 50 Millionen Euro von der Bundesregierung an humanitärer Hilfe für Gaza verkündet.

Die Beth-El-Synagoge von Sfax als „Lost Places“. Sie wurde 1955 eingeweiht und dient schon seit Jahren nicht mehr als Gotteshaus. Foto: Thilo Gehrke

Aufbruch und Brandspuren am Eingang der einst als Lager dienenden Synagoge sind erkennbar. Foto: Thilo Gehrke

Allgegenwärtig: Solidaritätsbekundungen mit Palästina und Fahnen, die zum Freiheitskampf mit den islamischen Glaubensbrüdern gegen Israel aufrufen. Foto: Thilo Gehrke

Über den Autor:

Thilo Gehrke, Journalist für Wirtschafts-, Sozial- und Sicherheitspolitik, Autor und Fotograf in Hamburg, ist Herausgeber der Dokumentationsreihe „Forschung Geschichte, Gesellschaft und Gegenwart“. Er hat die Deutsche Wiedervereinigung und die demokratische Transformation arabischer Staaten unter sozialen, wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Aspekten medial begleitet.

Dieser Beitrag stellt ausschließlich die Meinung des Verfassers dar. Er muss nicht zwangsläufig die Sichtweise der Epoch Times Deutschland wiedergeben.


Epoch TV
Epoch Vital
Kommentare
Liebe Leser,

vielen Dank, dass Sie unseren Kommentar-Bereich nutzen.

Bitte verzichten Sie auf Unterstellungen, Schimpfworte, aggressive Formulierungen und Werbe-Links. Solche Kommentare werden wir nicht veröffentlichen. Dies umfasst ebenso abschweifende Kommentare, die keinen konkreten Bezug zum jeweiligen Artikel haben. Viele Kommentare waren bisher schon anregend und auf die Themen bezogen. Wir bitten Sie um eine Qualität, die den Artikeln entspricht, so haben wir alle etwas davon.

Da wir die Verantwortung für jeden veröffentlichten Kommentar tragen, geben wir Kommentare erst nach einer Prüfung frei. Je nach Aufkommen kann es deswegen zu zeitlichen Verzögerungen kommen.


Ihre Epoch Times - Redaktion