Polen und der Krieg in der Ukraine

Polen ist in heller Aufregung: Der russische Einfall in die Ukraine weckt traumatische Erinnerungen und bestätigt gleichzeitig tiefe Ängste, welche im Westen lange niemand ernst nehmen wollte. Ein Kommentar.
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In Polen herrscht große Solidarität mit der Ukraine.Foto: WOJTEK RADWANSKI/AFP via Getty Images
Von 18. März 2022

Seit Jahrzehnten haben Nachbarn und Bündnispartner herablassend Polens russische „Paranoia“ belächelt und darauf hingewiesen, dass im Zeitalter von Globalisierung, internationalen Gerichtshöfen, Abrüstung und NATO-Hegemonie jegliche Sorge um eine erneute russische Expansion nach Westen überzogen sei.

Nun ist es so weit. Zum ersten Mal seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist es zum Ausbruch eines „klassischen“, zwischenstaatlichen Kriegs in Europa gekommen, direkt an der Grenze zur Europäischen Union, und in den europäischen Hauptstädten und militärischen Hauptquartieren herrscht tiefe Ratlosigkeit, wie man mit einer solchen, scheinbar völlig unerwarteten Lage umgehen soll, schien das „Ende der Geschichte“ doch ausgemachte Sache.

Polen identifizieren sich voll und ganz mit der Ukraine

Polens Haltung angesichts dieser Situation ist von mehreren strategischen wie humanitären Überlegungen geprägt. Zunächst einmal fiebert das gesamte Land emotional mit seinen ukrainischen Nachbarn. Die alten Konflikte zwischen Regierung und Opposition sind ganz an den Rand gedrängt, da sich alle Polen, vom linken bis zum rechten politischen Spektrum, voll und ganz mit der Ukraine identifizieren, jenem Land, welches seit Jahrhunderten engstens mit der polnischen Geschichte verwoben ist.

Lange gehörte die Ukraine der polnisch-litauischen Republik an, und sieht man von der unseligen deutschen Instrumentalisierung des ukrainischen Nationalismus gegen die polnischen Minderheiten im Zweiten Weltkrieg ab, verbinden beide Länder tiefe Sympathien, die nicht zuletzt in der Ablehnung des russischen Expansionismus wurzeln sowie der Vorbildrolle, welche Polen als „Tor zum Westen“ stets für die Ukraine gespielt hat – bis heute, wo bereits vor Ausbruch des Krieges nahezu zwei Millionen ukrainische Gastarbeiter in Polen tätig waren und sich bestens integriert hatten.

Polen hat den russischen Friedensbeteuerungen seit dem Fall des Kommunismus nie wirklich getraut und stets vor jenem allrussischen Revisionismus gewarnt, der tief in der Ideologie der „Sammlung der russischen Erde“ verwurzelt ist, welche jahrhundertelang die eigentliche Staatsraison Moskaus war.

Schon am 12.8.2008, kurz nach dem russischen Einfall nach Georgien, hatte der polnische Präsident Lech Kaczyński, der zusammen mit den Präsidenten der baltischen Staaten und der Ukraine als menschlicher Schutzschild nach Tiflis geflogen war, prophezeit: „Heute Georgien, morgen die Ukraine, übermorgen die baltischen Staaten, und dann kommt vielleicht auch die Zeit für mein Land, Polen.“

Dementsprechend groß ist die Sorge nun in Warschau, dass eine russische Einverleibung der Ukraine sowie ein neuer Kalter Krieg früher oder später auch das Baltikum und Polen zum geopolitischen Niemandsland degradieren und den so zäh wiedererrungenen Wohlstand Polens sowie seine erneute Einbindung in die westliche Staatengemeinschaft aufs Spiel setzen könnten.

Polen hofft auf die Ukraine gegen den Brüssler Linksliberalismus

Dabei gilt der russisch-ukrainische Krieg in Polen auch weniger als eine Auseinandersetzung zwischen westlichem Linksliberalismus und (angeblichem) russischen Konservatismus, wie viele europäische Intellektuelle glauben, die sich aus Abneigung gegenüber dem US-amerikanischen „Wokeismus“ lieber auf die Seite Putins schlagen.

Polen weiß nämlich zum einen, dass das real existierende Russland mit seiner politischen Korruption, seiner wirtschaftlichen Stagnation, seiner implodierenden Orthodoxie, seinem aufstrebenden Islam und seiner Verniedlichung des sowjetischen Totalitarismus alles andere als ein „konservatives“ Musterland ist und weniger die Interessen des „Abendlands“ als vielmehr die skrupellose Ausweitung der eigenen Machtsphäre im Sinn hat.

Zum anderen hofft Warschau, die Ukraine einem christlich-patriotischen Konservatismus verpflichten und somit an das polnisch-ungarische Bündnissystem heranführen zu können, um den Brüsseler Linksliberalismus weiter zu schwächen und endlich ein starkes und patriotisches Europa aufzubauen.

Neben jenen strategischen Erwägungen muss auch berücksichtigt werden, dass Polen bei seiner Haltung im Ukraine-Konflikt zutiefst von den eigenen tragischen Erfahrungen der zahlreichen Aufstände gegen die Teilungsmächte sowie natürlich von den Ereignissen des Jahres 1939 geprägt ist.

Die Alliierten hatten Polen noch kurz vor Ausbruch des Kriegs vollmundige Beistandsgarantien gegeben, im September 1939 dann allerdings darauf verzichtet, Polen durch einen Entlastungsangriff im Westen gegen den Einfall durch das Dritte Reich beizustehen, sodass Hitler mit Hilfe Stalins in aller Seelenruhe das Land an der Weichsel besetzen und die vom ersten Tage an betriebene, in Deutschland bis heute kaum thematisierte genozidäre Ausrottung der Polen organisieren konnte, der bis Kriegsende 6 Millionen Menschen (darunter 3 Millionen christlichen Glaubens) zum Opfer fallen sollten.

Polen möchte nun der Ukraine jene Hilfe angedeihen lassen, welche ihm selbst so oft versagt geblieben war – durch humanitäre Hilfe, aber auch durch großzügige Lieferungen von Waffen, Geld und Material.

Polen fühlt sich von Europa alleingelassen

Denn freilich: Wie der Konflikt um die von den USA verhinderte Lieferung polnischer Kampfflugzeuge an die Ukraine zeigt, kann Polen sich den Alleingang eines direkten Eintritts in den Krieg angesichts der Neutralität der NATO nicht erlauben – zu groß ist die Gefahr, dass einer der von Putin in Gefechtsbereitschaft gesetzten Nuklearsprengköpfe Warschau auslöschen könnte oder der lange vorbereitete russische Durchmarsch durch das Suwalki-Dreieck zwischen Kaliningrad und Weißrussland losbrechen würde, während die westlichen Hauptstädte über weitere Sanktionen diskutieren und erneut über die Frage „Mourir pour Dantzig?“ philosophieren würden.

Einer PEW-Umfrage von 2015 zufolge waren es erschreckende 51 Prozent der Italiener, 53 Prozent der Franzosen und sogar 58 Prozent der Deutschen, die sich explizit dagegen aussprachen, im Falle eines russischen Angriffes auf einen NATO-Alliierten diesem vertragsgemäß militärisch beizustehen (gegen nur 34 Prozent in Polen und 37 Prozent in den USA): Auch in Warschau sind diese Zahlen bekannt, und man möchte es vermeiden, erneut im Regen stehen gelassen zu werden.

Diese Befürchtung wird durch die eher undurchsichtige Haltung der Bundesregierung eher bestätigt als zerstreut, die den Kreml weiterhin durch den Kauf russischen Gases finanziert und ihre Unterstützung der Ukraine knausrig auf 5.000 Helme begrenzt hatte, bevor sie auf internationalen Druck hin einige Raketen aus DDR-Altbeständen auslieferte – von denen viele aufgrund von Funktionsfehlern wieder zurückgezogen werden mussten.

Polen fühlt sich also in seiner Unterstützung für die Ukraine von den westeuropäischen Partnern weitgehend alleine gelassen, wozu auch beiträgt, dass Brüssel, während Berlin weiterhin seine Geschäfte mit Moskau betreibt, soeben erneute Sanktionen über Warschau und Budapest im Streit um die angeblich gefährdete „Rechtsstaatlichkeit“ verhängt hat und die polnisch-ukrainische Grenze vor allem unter der Perspektive zu betrachten scheint, inwieweit nigerianische oder afghanische Studenten längere Wartezeiten in Kauf zu nehmen haben als ukrainische Frauen und Kinder.

Als Deutschland mit seinen 83 Millionen Einwohnern im Jahre 2015 anderthalb Millionen „Flüchtlinge“ ins Land geholt hatte, hinter denen sich meist junge, männliche, muslimische Wirtschaftsmigranten verbargen, rückte Berlin als Kapitale von Toleranz und Großzügigkeit in den Mittelpunkt des Weltgeschehens und wollte mit nahezu unerträglicher moralischer Arroganz alle Nachbarn zwingen, sich diesem Kurs „freiwillig“ anzuschließen – notfalls mittels EU-Sanktionen.

Polen, aufgrund seiner damaligen Weigerung bis heute als „rassistisch“, „egoistisch“ und „intolerant“ verschrien, hat mit seinen 38 Mio. Einwohnern nun innerhalb von nur zwei Wochen dieselbe Zahl von (echten) Flüchtlingen aufgenommen, meist Frauen und Kinder, ohne doch hieraus ein ideologisches Bravourstück zu machen: Eine Entschuldigung seitens der Nachbarn oder der westlichen Medien für ihre bis heute andauernde pauschalisierende Kritik an der genuin polnischen „Fremdenfeindlichkeit“ steht allerdings bis heute aus.

Was bedeutet das für Polens Zukunft?

Wie wird es weitergehen? Polen weiß jedenfalls, dass die seit dem Zerfall der Sowjetunion herrschende politische Ordnung Osteuropas am Ende ist und Warschau mitten ins Zentrum der Weltpolitik geraten wird.

Gewinnt Putin den Krieg, macht er die Ukraine ganz oder in Teilen zum Vasallenstaat und löst einen neuen Kalten Krieg aus, bei dem Polen mit seiner langen Ostgrenze zum Frontstaat wird – mit allem, was dies für seinen politischen, wirtschaftlichen und militärischen Status bedeutet, sowie der Tatsache, dass dann östlich von Warschau ein kontinentaler Block beginnt, der nicht in Wladiwostok endet, sondern in Hongkong.

Verliert Putin aber den Krieg, dürften nicht nur seine Tage als Herrscher gezählt sein, sondern auch die der Russischen Föderation, welche durchaus einen längeren inneren Zerfallsprozess durchmachen könnte.

Angesichts des dortigen Waffenarsenals, der enormen Militarisierung des Staates sowie der politischen und territorialen Interessen des Westens, der muslimischen Welt und Chinas könnte dies zu einem jahre-, ja jahrzehntelangen Machtvakuum zwischen Bug und Amur führen – mit den entsprechenden desaströsen, vielleicht sogar bürgerkriegsähnlichen Konsequenzen.

Auch in diesem Falle würde Polen in der ersten Loge der Weltgeschichte sitzen und die Folgen jener Destabilisierung seiner Nachbarschaft tragen, könnte allerdings zu einer regionalen Ordnungsmacht avancieren und vielleicht sogar den alten Traum einer engeren Zusammenarbeit der Trimarium-Nationen verwirklichen.

Warschau könnte somit endlich die geostrategischen Verhältnisse der Zeit vor den polnischen Teilungen restituieren, als die Gebiete zwischen Ostsee und Schwarzem Meer noch nicht als umstrittene „Bloodlands“ galten, sondern als eigenständiger, Deutschland, Frankreich und Moskowien durchaus ebenbürtiger multikultureller und multireligiöser Staatenverbund – sicherlich nicht zu Ungunsten der Stabilität in Europa. Davon sind wir freilich noch weit entfernt.

Prof. Dr. David Engels hat Geschichte, Philosophie und Volkswirtschaft an der RWTH Aachen studiert. Er folgte 2008 dem Ruf an die Universität Brüssel, an der er zehn Jahre den Lehrstuhl für römische Geschichte innehatte. Seit 2018 lebt er in Polen und arbeitet am Instytut Zachodni in Posen, wo er verantwortlich ist für Fragen abendländischer Geistesgeschichte, europäischer Identität und polnisch-west-europäischer Beziehungen.

 

Dieser Beitrag stellt ausschließlich die Meinung des Verfassers dar. Er muss nicht zwangsläufig die Sichtweise der Epoch Times Deutschland wiedergeben.


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