Orbáns Realpolitik: Waffenstillstand statt „gerechter Frieden“

Die Ukraine-Politik des ungarischen Ministerpräsidenten Orbán folgt einer Strategie der Koexistenz und Konnektivität. In wieweit spielen dabei die anderen Großmächte mit? Und wie kann eine politische und wirtschaftliche Übergriffigkeit totalitärer Regime wie China verhindert werden?
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Orbáns Suche nach einem ausgewogenen Kräftegleichgewicht stößt in der EU auf wenig Zuspruch.Foto: Imagesines/ iStock
Von 11. Juli 2024

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Der Student Viktor Orbán forderte die Russen 1989 vor Hunderttausenden Zuhörern auf dem Heldenplatz dazu auf, Ungarn zu verlassen. Damit riskierte er sein Leben, zumindest seine Freiheit. Vorwürfe einer Russland- oder Putin-Freundschaft Orbáns sind daher denkbar deplatziert. Sowohl sein damaliger Aufruf als auch seine heutigen Sondierungsbemühungen sind von Mut und Risikobereitschaft gekennzeichnet.

In diesem Krieg – so Orbán – gehe es darum, das Recht der Ukraine auf eine NATO-Mitgliedschaft zu sichern, was Russland absolut ablehnt und der Westen absolut unterstützt. Vermutlich hätte die Respektierung der Neutralität der Ukraine durch den Westen gereicht, um den Krieg zu verhindern.

Suche nach pragmatischen Lösungen

Orbán deutet die russische Politik als defensiven Imperialismus. Russland sei schon aufgrund seiner Ausdehnung nicht dem Wert der Freiheit, sondern primär dem Ziel des Zusammenhalts des Imperiums verpflichtet. Putin will dieser Sicht zufolge nicht bis zum Atlantik durchmarschieren, sondern sein Vorfeld absichern, um sein Reich zusammenzuhalten.

Als Realist weiß Orbán, dass es keinen Siegfrieden für die Ukraine und den Westen geben wird, sondern irgendwann ein Waffenstillstand unvermeidlich ist. Zwar sei Russlands Angriff auf die Ukraine inakzeptabel. Dennoch müsse es jetzt darum gehen, das Töten an der Front zu stoppen. Durch die steigende Intensität der Waffen drohe der Krieg ansonsten in eine noch härtere Phase überzutreten.

Es gebe fünf relevante Akteure: neben Russland und der Ukraine die USA beziehungsweise NATO, die Europäische Union und China. Alle müssten in Gespräche einbezogen werden. In Europa würde viel von strategischer Autonomie geredet, aber es würde nur die amerikanische Position kopieren.

In einem Interview mit „Bild“ nach der Moskau-Reise verwirft Orbán die Suche nach einem Schuldigen, nach Gut oder Böse, Recht oder Unrecht. Es gehe jetzt darum, weiteres Töten zu verhindern. Die Reihenfolge, erst Frieden, dann Waffenstillstand, sei irreal.

Da Russland den Krieg gar nicht verlieren könne, bedeute die europäische Politik stetiger Waffenlieferungen ein sinnloses Anheizen des Krieges. In Russland stehe nicht die Freiheit, sondern der Zusammenhalt des Imperiums im Vordergrund. Daraus ergebe sich ein anderes Denken zur Staatlichkeit. Die von manchen befürchteten Ausgriffe auf einen NATO-Staat sei jenseits jeder Rationalität.

Orbán als Schlüsselfigur?

Als EU-Ratspräsident habe Orbán kein Mandat zu Verhandlungen, wird seine Initiative kommentiert. Und Ursula von der Leyen bezeichnete es umgehend als „Appeasement.“ Nur Einheit und Stärke könne Europa im Kampf mit „dem Diktator“ weiter helfen.

Deutsche Zeitungen setzten seine „Friedensmission“ in Anführungszeichen. Dabei räumt Orbán selbst ein, kein Mandat für Verhandlungen zu haben und spricht von Sondierungen. Bloße Bürokratie würde jedenfalls keinen Frieden schaffen. Zumindest besteht die Chance, dass seine Initiative eine positive Dynamik entfaltet. Sie fand weltweite Anerkennung – nur in der EU nicht, die jeden Ehrgeiz aufgegeben hat, einen Beitrag zur Konfliktmoderation zu leisten.

Seit April 2022 habe es – so Orbán – kein Treffen zwischen Putin und einem westlichen Leader gegeben. Der Krieg müsse irgendwann enden; je früher, desto mehr Menschenleben könnten gerettet werden. Er wolle erste Schritte dazu einleiten und einige Klarstellungen erreichen. Am wichtigsten sei die Aufnahme des Dialogs mit dem Minimalziel Waffenstillstand. Er sei der einzige Leader des Westens, der noch mit beiden Seiten reden könne.

Skepsis gegenüber beiden Seiten

Wer Orbáns Außenpolitik seit Längerem verfolgt, ist von seiner Initiative keineswegs überrascht. Ungarn verweigert sich einer Waffenlieferungspolitik von NATO und Europäischen Union, die den Krieg fortzusetzen und immer neu anzufachen hilft.

Der Skepsis zu Russland steht in Ungarn keine Begeisterung zur Ukraine gegenüber. Nur weil die Ukraine von einem undemokratischen Land angegriffen wird, handele es sich bei ihr noch lange nicht um ein demokratisches Land.

Ich habe in Ungarn, einem unmittelbaren Nachbarstaat zur Ukraine, keinen Gesprächspartner gefunden, der die Ukraine als eine Form von europäischer Demokratie betrachtet.

Sie wird nicht zuletzt aufgrund ihrer Behandlung der ungarischen Minderheit in der Westukraine weitaus kritischer gesehen als im Westen. Das Verbot von elf Oppositionsparteien und der Russisch-Orthodoxen Kirche, die fehlende Pressefreiheit und die jüngste Aussetzung der Wahlen sprächen Bände. Die Ukraine sei – wie Russland – eine Oligarchie, allerdings im Gegensatz zu Russland mit wechselnden Spitzen.

Die Philosophie der ungarischen Außenpolitik

Orbán macht sich über Russland keine Illusionen. Er sieht es als ein auf militärischer Macht basierendes System. Russlands Gesellschaft sei nicht europäisch, aber aufgrund seines imperialen Großmachtstatus und seiner geografischen Lage müsse es Teil einer europäischen Sicherheitsordnung werden. Er deutet den Ukraine-Krieg daher nicht aus der moralischen, sondern aus einer geopolitischen Perspektive.

Die multilaterale Weltordnungsidee könnte nur durch eine Art Weltstaat garantiert werden, den es aber nicht gibt. Moral und Völkerrecht übersehen die aus dem Sicherheitsbedürfnis der Mächte entstehende Notwendigkeit geopolitischer Einflusssphären.

Mit den moralischen Forderungen nach einem „gerechten Frieden“ wird die Eigenlogik des geopolitischen Denkens, zu dem die Anerkennung von Einflusssphären und neutralen Räumen zwischen den Großmächten gehört, verkannt. Die Idee, dass alle Staaten die gleichen Rechte auf volle Souveränität und Wahl ihrer Bündnisse haben, hat mit der Realität des Verhältnisses von Großmächten und ihren Nachbarstaaten nichts zu tun.

Friede durch Koexistenz

Nach den Niederlagen im Mittleren Osten verlagerte sich die Politik der USA in den eurasischen Raum. Statt sich in eine multipolare Welt einzufügen, strebte sie damit weiter nach Hegemonie. Über ihren Versuch, die zuvor neutrale Ukraine nach Westen zu ziehen, wurde diese aufgrund der verbrecherischen, aber vorhersehbaren Reaktion Russlands zerrissen.

Die Versuche des Westens, Russland moralisch zu isolieren, endeten im Bündnis Russlands mit China. Auch das Erstarken des Staatenbündnisses BRICS-Plus ist eine Reaktion auf den westlichen Hegemonieanspruch, der sich zunehmend in eine Isolation des Westens zu verkehren droht.

Die Einsicht in die Unvermeidlichkeit einer multipolaren Weltordnung orientiert sich nicht an Idealen, sondern an machtpolitischen Realitäten. Realismus ist laut Hegel Einsicht in die Notwendigkeit. Die Anerkennung des Großmächtestatus lässt sich angesichts des anarchischen internationalen Systems als notwendig bezeichnen.

Der immer gefährdete Frieden auf der Welt kann nur durch ein stetiges Ausbalancieren und Verhandeln der Mächte erhalten werden. Im Kalten Krieg wurde der Friede nicht durch das Ausgreifen einer der Mächte, sondern durch ihre Koexistenz bewahrt. Diese Realpolitik wurde auch durchgehalten, als dafür Budapest 1956 und Prag 1968 ihrem Schicksal überlassen werden mussten.

Unsicherheitsfaktor China

Orbán kehrt heute im Grunde zu dieser Koexistenz-Strategie zurück und ergänzt sie mit der in Ungarn ausgearbeiteten Theorie von einer wirtschaftlichen Konnektivität. Diese strebt im Gegensatz zu dem neuen „Decoupling“ der Moralisten die Fortsetzung des Freihandels auch mit gegnerischen Mächten an.

Die fortbestehenden Kontakte Ungarns zu Russland stehen im Einklang mit dieser differenzierten Mischung aus politischer Koexistenz und wirtschaftlicher Konnektivität. Sie könnte für eine westliche Strategie zukunftsweisend sein. Problematischer sind die intensiven wirtschaftlichen Beziehungen Ungarns zu China, einer zunehmend totalitären Macht.

Orbán hat auch noch China in die Sondierungen einbezogen. Es liefert massenweise kriegswichtiges Material, Technologie und Geld im Austausch gegen russische Rohstoffe. China ist aber ein problematischer diplomatischer Partner, da der Verdacht naheliegt, dass es sich nicht in eine multipolare Weltordnung einfügen, sondern die Welthegemonie vom Westen übernehmen will.

Auch die bilateralen Beziehungen zu China gefährden schon aufgrund der Größenordnungen Ungarns Unabhängigkeit. Die Chinesen werden ihre hohen Investitionen in Ungarn selbstverständlich dazu nutzen, Ungarn als ihren Interessenvertreter in der EU aufzubauen.

Hier droht eine Schwachstelle in der im Rahmen der Globalisierung allerdings unvermeidlichen wirtschaftlichen Konnektivität. Bei totalitären Regimen kann eine Unterscheidung von Politik und Wirtschaft nicht vorausgesetzt werden. Die wirtschaftlichen Kontakte müssen daher so ausgestaltet werden, dass sie keine politischen Übergriffigkeiten erlauben.

Neutralität und Teilung der Ukraine

Schon mittelfristig werden sich Orbáns Einschätzungen zur Ukraine als ähnlich berechtigt erweisen wie die Grenzschließungen Ungarns gegenüber der Massenmigration aus dem Süden 2015. Der Realismus der ungarischen Außenpolitik könnte eine Brücke zwischen den universalistischen, im Rest der Welt zunehmend als globalistisch empfundenen Ansprüchen des Westens und den Großmachtansprüchen Russlands und Chinas schlagen helfen.

Die Einsicht in die Überdehnung des Westens wäre die Voraussetzung für einen Übergang zu einer westlichen Politik der Selbstbegrenzung. In dieser wäre nicht mehr die Universalität westlicher Werte, sondern die Diversität und Koexistenz der Kulturen und Mächte das vorrangige Paradigma.

Sofern es nach dem Ukraine-Krieg gelingt – wie 1815 beim Wiener Kongress oder auch in der Zeit des Kalten Krieges –, in Absprachen der Großmächte gegenseitige Grenzen zu ziehen und jenseits universeller Ansprüche Interessen auszubalancieren, könnten wir einer multipolaren Weltordnung näher kommen.

Mit Donald Trump wird Orbán wahrscheinlich bald ein mächtiger Verbündeter zur Seite stehen. Es sollte nicht verwundern, wenn Orbán ihn in seine europäische Ukraine-Politik einzubeziehen versucht. Dieser sei ein Mann des Friedens und als Geschäftsmann immer an einem Deal ausgerichtet. Gute Worte findet er auch zu Angela Merkel, die den Konflikt isoliert statt internationalisiert hätte.

Mit einem Wahlsieg Trumps wäre jedenfalls Ungarns Isolation in der Europäischen Union und NATO durchbrochen. Trump hat ohne jede Naivität gegenüber autoritären oder gar totalitären Widersachern den Kern der neuen Notwendigkeiten verstanden. Eine Selbstbehauptung des Westens ist nur noch durch seine Selbstbegrenzung möglich.

Er würde weitere westliche Waffenlieferungen an die Ukraine an das Bemühen um einen Waffenstillstand binden. Im Grunde wissen es alle: Das bittere, aber allein mögliche Ende des Krieges wird auf eine Teilung der Ukraine etwa entlang der gegenwärtigen Frontlinien hinauslaufen. Diese wird weitgehend der vorgegebenen geokulturellen Teilung des Landes nach russisch und ukrainisch dominierten Gebieten entsprechen.

Die Ukraine wird mit ihrer Teilung ein Schicksal wie Korea, Zypern und – über 40 Jahre hinweg – Deutschland ereilen. Keines dieser Länder hat erwartet, dass für die Überwindung ihrer Teilung der Westen das Risiko eines Dritten Weltkrieges eingeht.

Die Aufteilung der Ukraine nach west-östlichen Hemisphären wäre der Preis für die zuvor verspielte Neutralität des Landes. Für die Europäische Union würde diese neuerliche Teilung zwischen Ost und West aber auch eine Chance bedeuten, sich jenseits amerikanischer Hegemoniebestrebungen selbst zu einem Machtpol in einer multipolaren Weltordnung zu entwickeln.

 

Über den Autor:

Heinz Theisen ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft der Katholischen Hochschule NRW in Köln. 2023 war er Fellow am Mathias Corvinus Collegium in Budapest. Zuletzt erschien von ihm: „Selbstbehauptung. Warum Europa und der Westen sich begrenzen müssen“, Reinbek 2022.

Dieser Beitrag stellt ausschließlich die Meinung des Verfassers dar. Er muss nicht zwangsläufig die Sichtweise der Epoch Times Deutschland wiedergeben.


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