Libyen: Pragmatische Realpolitik durch die EU könnte allen Seiten nützen
Der Schlüssel zur Lösung der Probleme dieser vor dem Zerfall bedrohten Region liegt nicht mehr in Washington, Brüssel oder Berlin – sondern in Moskau, Ankara und Peking.
Es ist gut, dass Europa endlich begreift, dass aus einem Libyen schnell ein zweites Syrien werden kann. Europa leidet inzwischen stark unter dem Zerfall des Nahen und Mittleren Ostens, sowie den Ländern Afrikas. Afghanistan, Irak, Jemen, Mali, Libyen, Syrien – in den zwanziger Jahren könnten zig „failed states“ dazukommen. Sie produzieren Massenmigration, internationalen Terrorismus, Bürgerkriege – vor Europas Haustüre.
Bundeskanzlerin Angela Merkel will am Ende ihrer Kanzlerschaft nicht von den gleichen Flüchtlingsproblemen und Terroranschlägen bedrängt werden.
Fragt sich die EU inzwischen, ob sie richtig handelte, indem sie die sogenannten arabischen Revolutionen vor 10 Jahren entfesselte? Die EU wollte Demokratie und Menschenrechte in ihre Nachbarschaft transferieren, versuchte Widerstände mit Gewalt zu brechen. Westliche Länder lieferten auch Waffen an Aufständische, an die Opposition, damit diese die lokalen Diktatoren vertreiben würden. Schließlich half die NATO mit eigener Bombardierung der Diktatoren nach. Doch in keinem der vom „arabischen Frühling“ veränderten Länder entstand eine westliche Demokratie. Es entstand dagegen Chaos; in Syrien und Libyen kam es zum Staatszerfall und Bürgerkrieg.
Im geschundenen Irak, Libyen und Syrien regierten zweifelsohne Diktatoren. Sie verkörperten dort eine Ordnungsmacht. Die Alternative zu ihnen sind heute unberechenbare Warlords und der sogenannte Islamische Staat, der ein Kalifat in der Gesamtregion errichten will.
Die EU überschätzt heute ihre Möglichkeiten
Der Westen gibt Russland und der Türkei die Hauptschuld an der Militarisierung der arabischen Welt. Sie würden ihre Großmachtambitionen auf Kosten der Stabilität der Region ausspielen. Doch das anfängliche Chaos hat der Westen zu verantworten, als er ohne Strategie und Plan sich in die Geschehnisse der arabischen Welt einmischte.
Deutschland will das Waffenembargo für den Bürgerkrieg in Libyen durchsetzen. Europa will in Libyen kein Massensterben, keinen Einsatz von verbotenen chemischen Waffen, keine Bombardements von Krankenhäusern und Zivilisten. Vor allem will die EU die überfüllten Flüchtlingslager in Libyen auflösen, die heute KZ-ähnliche Zustände aufweisen. Doch zwischen dem „nicht wollen“ und „etwas dagegen tun“ tut sich eine Kluft auf.
Fest steht, dass eine unkontrollierte Migration nach Europa den abendländischen Kontinent weiter destabilisiert. Eine praktische Lösung in Libyen, wie der Krieg beendet werden kann, gibt es bislang nicht. Im Land gibt es noch genügend Waffen für die Fortsetzung der Kämpfe. Außerdem ist es müßig zu glauben, dass der Warlord General Chalifa Haftar, der lange in den USA gelebt hat und die Unterstützung der USA, Russlands und der meisten arabischen Länder besitzt, sowie inzwischen den Großteil Libyens unter seiner Kontrolle hat, seinen Kontrahenten Fajiz Sarradsch über ihn anerkennt.
Die arabischen Nachbarstaaten, die meist wirtschaftliche Interessen in Libyen besitzen, werden sich ihre Nichteinmischung kompensieren lassen wollen. Russland und die Türkei werden von der EU mehr Respekt und Anerkennung ihrer Gestaltungsrolle in der globalen Politik abverlangen. Welche künftigen Pläne die USA für den Nahen und Mittleren Osten hegen, weiß wohl noch nicht einmal der US-Präsident. Mit der EU werden sich die USA jedenfalls darüber nicht verständigen.
Die EU überschätzt heute ihre Möglichkeiten, auf die Stabilisierung des Landes hinzuwirken. Eine europäische militärische Eingreiftruppe wird von allen Arabern abgelehnt – die negativen Erinnerungen an die europäische Kolonialzeit sind in den Ländern der Region noch virulent.
Am Ende wird es wohl ums Geld gehen
Was bleibt von der Berliner Libyen-Konferenz? Am Ende wird es wohl, wie so oft, ums Geld gehen. Die Europäer werden von den Regionalmächten als Geberländer für die notwendige Wiederaufbauhilfe gerne gesehen, natürlich auch als Investoren.
Vladimir Putin hat der Bundeskanzlerin 2017 einen Stabilitätspakt für Syrien vorgeschlagen. Der wirtschaftliche Wiederaufbau soll Geflüchteten die Rückkehr in ihre Heimat ermöglichen. Ähnliches hat den Europäern der türkische Präsident Recep Erdogan für die Kurdengebiete in Nordsyrien vorgeschlagen. Die EU hat auf diese Vorschläge bislang nicht reagiert; sie sollte es.
Bei allem Zweifel: die EU sollte trotzdem alles daran setzen, ihre Rolle als Gestaltungsmacht in der Weltpolitik zu suchen. Die Wiederentdeckung der pragmatischen Realpolitik ist dazu der erste Schritt.
Zum Autor: Prof. Alexander Rahr gilt als einer der erfahrensten Osteuropa-Historiker, er ist Politologe und Publizist. Er ist Projektleiter beim Deutsch-Russischen Forum und Deutschlandberater von Gazprom.
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