Armes Deutschland: Die Einkommensschere geht immer weiter auf

Seit 1991 hat für einen Großteil der Menschen vermutlich nur ein geringer oder gar kein realer Wohlstandszuwachs stattgefunden. Nur lassen es uns die offiziellen Statistiken nicht wissen.
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In Viersen, Nordrhein Westfalen.Foto: iStock
Von 13. November 2023

Anfang November erschien der jüngste Verteilungsbericht des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung mit dem Titel „Einkommensungleichheit als Gefahr für die Demokratie“.

Demnach hat die Ungleichheit der verfügbaren Haushaltseinkommen in Deutschland von 2010 bis 2022 zugenommen. Verfügte 2010 das obere Fünftel (Quintil) der Haushalte noch über 4,2 Mal so viel Einkommen wie das unterste Fünftel, so hat sich dieses Verhältnis bis 2022 auf das 4,6-Fache erhöht. Also derzeit haben die obersten 20 Prozent der Haushalte ein 4,6 Mal so hohes verfügbares Einkommen wie die untersten 20 Prozent. 

Der Anteil der sehr armen Menschen, das sind solche, die mit weniger als der Hälfte des mittleren Einkommens (Medianeinkommen) auskommen müssen, ist demnach zwischen 2010 und 2022 von 7,7 auf 10,1 Prozent sehr stark gestiegen. Der Anteil der armen Menschen, die weniger als 60 Prozent der mittleren Einkommen haben, ist von 14,5 auf 16,7 Prozent angewachsen.

Das Ergebnis der gewerkschaftsnahen Wissenschaftler lautet: „Das eindeutige Fazit zu den Armutsquoten: Seit Jahren wächst der Anteil der Personen, die von Armut betroffen sind.“

Vertrauen armer Menschen in die Politik ist besonders gering

Besonders ausgeprägt ist laut dem Bericht die Armut bei Menschen mit direktem (selbst im Ausland geboren) und indirektem Migrationshintergrund (mindestens ein Elternteil im Ausland geboren). Der Anteil der Menschen mit direktem Migrationshintergrund betrug 2021 11,7 Prozent an der Gesamtbevölkerung. Ihr Anteil an den Armen (Einkommen unter 60 Prozent des Medians) betrug jedoch 27,8 Prozent.

Menschen mit indirektem Migrationshintergrund machen derzeit acht Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Ihr Anteil an den Armen belief sich jedoch auf 12,9 Prozent. Kurz: Laut WSI hatten in Deutschland 2021, also vor Beginn des Ukraine-Krieges, etwa ein Fünftel der Menschen Migrationshintergrund und ihr Anteil an den Armen war überproportional hoch.

Das WSI weist nachdrücklich darauf hin, dass das Vertrauen der armen Menschen in die Institutionen der Demokratie, insbesondere in Parteien, den Bundestag und Politiker, besonders gering ist und leitet daraus den Titel der Studie ab: Einkommensungleichheit als Gefahr für die Demokratie. Die Studie ruft daher die Politiker stark dazu auf, die Ungleichverteilung zu reduzieren.

Aber genau dies geschieht durch die Maßnahmen der derzeitigen Bundesregierung nicht. Insbesondere die von den Grünen initiierten Energiemaßnahmen gehen alle sehr stark zulasten der einfachen Leute in Deutschland.

Unsoziale und wirtschaftsfeindliche Maßnahmen der Regierung

So wies die „Zeit“ in einem längeren Artikel Mitte Oktober darauf hin, dass die Wirtschaftspolitik von Robert Habeck, insbesondere die Energiepolitik, jetzt zum dritten Mal in Folge zulasten der einfachen Menschen in Deutschland gehe. Die „Zeit“ fragt sich, ob das an der Ideologie läge, und sagt, dass sich die Grünen „von der Volks- zur Klientelpartei“ der Besserverdiener entwickelt hätten.

Allgemein kann man sagen, dass die Wirtschaftspolitik der derzeitigen „Jamaika“-Regierung viel getan hat, um der Wirtschaft das Leben schwer zu machen. Regulierungswut, Bürokratie, Dirigismus statt Marktmechanismen, „aka Heiz-Hammer“ oder „aka Wärmepumpendiktatur“, extrem hohe Stromsteuern, hoher, durch politische Maßnahmen noch weiter verstärkter Energiepreisanstieg würgen seit vielen Monaten die deutsche Wirtschaft ab und machen Deutschland zum kranken Mann Europas, wenn nicht gar der Welt. 

Diese häufig ideologiegetriebenen, Wirtschaftswachstum abwürgenden politischen Maßnahmen vor dem Hintergrund steigender Ungleichverteilung und der in den letzten acht Jahren stark gestiegenen Zuwanderung bildungsferner Menschen bedeutet, dass die derzeitige Politik die einfachen Menschen in Deutschland doppelt hart trifft.

Das WSI weist zu Recht darauf hin, dass diese Politik demokratiegefährdend ist, weil sie das Vertrauen breiter Bevölkerungskreise in die Institutionen unterminiert.

Längerfristige Entwicklungen

Doch die zunehmende Ungleichverteilung in Deutschland von 2010 bis heute sowie die akuten Fehler der Politik sind nur die Spitze des Eisberges. Die Ungerechtigkeit in unserem Land nimmt schon seit über einer Generation ständig zu. Die reale Wohlfahrt eines Großteils der Menschen in Deutschland ist vermutlich schon seit Jahrzehnten nicht mehr gestiegen, im Gegenteil.

Im Juli 2016 veröffentlichte das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung eine Studie mit dem Titel „Wohlfahrtsmessung ‚Beyond GDP‘ – Der nationale Wohlfahrtsindex (NWI 2016)“.

Die gewerkschaftsnahen Wissenschaftler stellen in diesem Aufsatz dem normalerweise zur Wohlstandsmessung verwendeten konventionellen Bruttoinlandsprodukt (BIP) einen eigenen Wohlfahrtsindikator gegenüber, den Nationalen Wohlfahrtsindex (NWI). Dieser ergänzt das BIP unter anderem um Verteilungskomponenten, ehrenamtliche Beschäftigung und es werden Tätigkeiten zur Schadensminderung wie Kosten durch Kriminalität, Umweltbelastung, Lärmbelästigung und so weiter abgezogen. 

Die Kernidee ist: Um herauszubekommen, ob bei der Mehrheit der Menschen im Land tatsächlich mehr Wohlstand entsteht, müssen diejenigen wirtschaftlichen Tätigkeiten, die real gar keinen Wohlstand erzeugen, vom BIP abgezogen werden, und dann muss man untersuchen, wie viel von diesem reduzierten Wirtschaftswachstum bei der Mehrheit der Bevölkerung ankommt. Erst dann kann man entscheiden, ob für den Großteil der Menschen eine reale Zunahme von Wohlergehen stattgefunden hat.

Laut der IMK-Studie stieg von 1991 bis 2014 das inflationsbereinigte BIP in Deutschland um insgesamt 34,3 Prozent. Der Wohlfahrtsindex NWI erhöhte sich im gleichen Zeitraum jedoch lediglich um 4,4 Prozent. Das ist ein dramatischer Unterschied.

Demnach stieg die reale Wohlfahrt für den Großteil der Menschen in Deutschland in diesen 25 Jahren so gut wie gar nicht, obwohl in den offiziellen Zahlen ein realer BIP-Zuwachs um ein Drittel ausgewiesen wurde. Das ist ein beeindruckendes Ergebnis, das einige Fragen aufwirft.

Nimmt man die gestiegene Ungleichverteilung von 2010 bis 2022 hinzu, dürfte herauskommen, dass in Deutschland seit 1991 bis heute für einen Großteil der Menschen vermutlich nur ein geringer oder gar kein realer Wohlstandszuwachs stattgefunden hat. Nur lassen es uns die offiziellen Statistiken nicht wissen.

Seit wann gibt es in Deutschland Menschen, die in Abfalleimern nach Essen suchen?

Aber die Menschen fühlen es dennoch. Viele Leute fragen sich beispielsweise, weshalb es heute zahlreichen jungen Familien nicht mehr möglich ist, dass nur ein Elternteil arbeitet, um die Familie zu finanzieren, warum aus ökonomischen Gründen sehr häufig beide Elternteile arbeiten müssen, während das vor einer Generation, als wir offiziell viel ärmer waren, häufig nicht nötig war.

Auch ein Blick in die Städte bestätigt diesen Eindruck: 2022 waren etwa zwei Millionen Menschen in Deutschland auf die Tafeln angewiesen. Bei Weitem nicht allen Hilfsbedürftigen konnten Lebensmittel in ausreichendem Umfang gegeben werden, dafür war der Andrang viel zu groß.

Vor einer Generation gab es die Tafeln noch gar nicht, gab es in Deutschland Hunger oder Menschen, die in Abfalleimern nach Lebensmitteln suchen, praktisch nicht.

Weitere Faktoren zulasten des realen Wohlstands

Außer der seit Jahrzehnten steigenden Ungleichheit der Einkommensverteilung gibt es zwei weitere Faktoren, warum ein großer Teil der Menschen trotz offiziell ständig steigenden Bruttoinlandsprodukts (BIP) real keinen Wohlstandszuwachs genießt: 1) zunehmende Zivilisationskrankheiten und 2) immer mehr unproduktive, rein konservierende Arbeit. 

Zu 1) In Deutschland stieg der Anteil der Gesundheitsausgaben am BIP von zehn Prozent 1997 auf 13,2 Prozent 2021. Das Bundesgesundheitsministerium führt aus, dass in Deutschland in einer erweiterten Abgrenzung derzeit etwa 7,7 Millionen (oft hingebungsvoll arbeitende) Beschäftigte oder etwa jeder sechste Erwerbstätige im Gesundheitswesen arbeiten.

Diese Tätigkeiten sind ungeheuer wichtig. Aber was heißt das für unseren Wohlstand? Je mehr Zeit, Geld und Kraft wir im Gesundheitssektor aufwenden müssen, um unsere Gesundheit aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen, desto mehr Produktionspotenzial wird aus den anderen Branchen abgezogen und desto geringer wird daher unser reales Wohlergehen.

Ein Großteil des Zuwachses an Gesundheitsausgaben der letzten Jahrzehnte hat daher letztlich nicht unseren Wohlstand erhöht, sondern vermindert. Je kränker wir werden, desto mehr sinkt unser Wohlstand.

Zu 2) In den letzten Jahrzehnten haben sich diejenigen Tätigkeiten, die nicht unmittelbar Güter oder Dienstleistungen herstellen, dramatisch erhöht. Bürokratie, Zertifizierungen, Akkreditierungen und so weiter haben in den letzten Jahrzehnten in fast allen Branchen dramatisch zugenommen. Die Klagen darüber quer durch das ganze Gesellschaftsspektrum sind ausführlich und lang. Und die derzeitige Regierung Scholz trägt kräftig dazu bei. Das vermindert die Produktivität. 

Doch auch andere Branchen tragen dazu bei: Zum Beispiel hat sich der Umsatz von Wach- und Sicherheitsunternehmen in Deutschland von 2,4 Milliarden Euro 1995 auf 9,85 Milliarden Euro 2021 mehr als vervierfacht.

Securitypersonal und Überwachungskameras erhöhen aber nicht unseren Wohlstand, sie versuchen lediglich, einen Zustand ohne Unsicherheit und Kriminalität aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen, zu konservieren. Jeder Euro, der in diese Branche fließt, vermindert daher letztlich unseren Wohlstand gegenüber dem Zustand zuvor, in dem diese Tätigkeiten nicht erforderlich waren, weil es weniger Kriminalität oder weniger Angst vor Kriminalität gab.

Ähnliches gilt für die Arbeit von Rechtsanwälten, Steuerberatern und Wirtschaftsprüfern. Deren Zahl hat sich in Deutschland in der Nachkriegszeit vervielfacht. So wichtig diese Berufe für ein funktionierendes Wirtschaftsleben sind, saugen sie jedoch viele Ressourcen auf, ohne unmittelbar den Wohlstand zu erhöhen.

Ein weiteres Beispiel sind Marketingausgaben, die in den letzten Jahrzehnten dramatisch zugenommen haben. Sie erhöhen unseren Wohlstand nicht, sondern vermindern ihn, indem die beworbenen Produkte und Dienstleistungen teurer werden.

Fazit: Einkommensschere geht auseinander

Seit mehr als einer Generation geht die Einkommensschere in unserem Land immer weiter auseinander. Dazu kommt, dass aufgrund wachsender Bürokratie, Regulierungen, Vorgaben, zunehmender Überwachungs- und Kontrolltätigkeiten und so weiter sowie wegen abnehmender Gesundheit ein immer größerer Teil unserer Arbeitszeit für Tätigkeiten verwendet wird, die rein konservierenden Charakter haben, ohne zusätzlichen oder neuen Nutzen in Form von Gütern oder Dienstleistungen zu schaffen.

Daher überzeichnet das offiziell ausgewiesene Wirtschaftswachstum bei Weitem den tatsächlichen realen Wohlfahrtszuwachs. In Wahrheit nimmt der Wohlstand sehr viel weniger zu, als die offiziellen Zahlen uns glauben machen.

Die Kombination dieser beiden Faktoren – dramatische Zunahme rein konservierender Tätigkeiten und steigende Ungleichverteilung – führt dazu, dass ein Großteil der Menschen nicht nur in unserem Land vermutlich schon seit Jahrzehnten keine reale Wohlfahrtssteigerung mehr erlebt hat und vermutlich auch nicht mehr erleben wird. Wir dürften schon längst das Ende des Wirtschaftswachstums erreicht haben.

Zum Autor: 

Prof. Dr. Christian Kreiß (geb. 1962), Promotion in Volkswirtschaftslehre und Wirtschaftsgeschichte an der LMU München. Neun Jahre Berufstätigkeit als Bankier, sieben Jahre davon als Investmentbanker. Seit 2002 Professor an der Hochschule Aalen für Finanzierung und Volkswirtschaftslehre. Er ist Autor von sieben Büchern. Sein aktuelles Buch heißt „Das Ende des Wirtschaftswachstums“. www.menschengerechtewirtschaft.de

Dieser Beitrag stellt ausschließlich die Meinung des Verfassers dar. Er muss nicht zwangsläufig die Sichtweise der Epoch Times Deutschland wiedergeben.


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