Eine Berliner Straße erinnert an eine Episode deutsch-chinesischer Geschichte
„Wenn der stolze Dampfer gegen Ende der Reise in die Kiautschou-Bucht einlief, leuchtete ihm zum ersten Mal nach sechs langen Wochen, seit dem Verlassen von Hamburg oder Bremen, von der Signalstation Tsingtaus die deutsche Flagge entgegen. Hier war man endlich zu Hause! Wie oft ist mir von Reisenden aller Klassen und Berufe dieses erhebende Gefühl geschildert worden, endlich wieder einmal, weit im fernen Osten, ein Stück Heimat zu finden; einen Platz, wo unser Handel und unsere Kulturarbeit nicht nur geduldet waren, sondern sich unter dem Schutz der eigenen Flagge betätigen konnte.“
Auszug aus dem Buch „Die deutschen Kolonien“ von Karlheinz Graudenz und Hanns-Michael Schindler.
Die Kiautschoustraße im Berliner Wedding
Tosender Großstadtlärm herrscht hier, nahe dem Berliner Leopoldplatz im Bezirk Wedding. Das Nordufer ist jetzt eine verkehrsberuhigte, von alten Linden bewachsene kleine Straße am Spandauer Schifffahrtskanal.
Auch die Nerven des Spaziergängers beruhigen sich, bummelt man am grün bewachsenen Ufer des Kanals entlang. Die wilhelminischen Häuser des Sprengelkiezes wurden um 1900 erbaut. Hier liegt die Kiautschoustraße. Noch heute erinnert dieser Straßenname an eine unrühmliche Epoche der deutschen Geschichte.
Das Deutsche Reich bricht nach Ostasien auf
Nachdem das Deutsche Reich bei der Aufteilung Afrikas unter den europäischen Kolonialmächten auf der „Kongokonferenz“ in Berlin 1884/1885 nur vier „Schutzgebiete“ abbekommen hatte, entstand der Wunsch nach territorialer Erweiterung in Ostasien.
Auch Deutschland wollte sich „seinen Platz an der Sonne“ sichern. Das imperialistische „Sendungsbewusstsein“ jener Zeit gehörte sozusagen zum „guten Ton“ in Europa. Am 14. November 1897 besetzen 700 deutsche Marinesoldaten die Bucht von Tsingtao (Qingdao) an der Küste des Gelben Meeres im Süden der Shandong-Halbinsel.
Ein völkerrechtswidriger Akt, doch in Berlin störte das niemanden. In Verhandlungen deutscher Diplomaten mit der chinesischen Regierung erzwang man 1898 einen Pachtvertrag über das chinesische Gebiet Kiautschou. „Kohlestation und Marinestützpunkt“, so waren die Begriffe, unter denen man die Besetzung des Gebietes der Öffentlichkeit verkaufte.
Letztlich aber waren es massive Drohungen mit militärischer Gewalt, die die Regierung der Qing-Dynastie veranlasste, Kiautschou für 99 Jahre als „Pachtgebiet“ abzutreten. Aus Sicht der Europäer waren Kolonien die beste Möglichkeit, die Wirtschaft im Mutterland zu stärken.
Der Nationalökonom und Soziologe Max Weber forderte das Deutsche Reich daher zur aktiven Kolonialpolitik auf. Mit dem Abschluss dieses erpressten Vertrages festigte Deutschland seine Position innerhalb der europäischen Imperialmächte.
Die „Musterkolonie“
Seit dem ersten Opiumkrieg (1840–1842) war die territoriale, politische, finanzielle und wirtschaftliche Souveränität des riesigen Kaiserreichs China der Qing-Dynastie massiv eingeschränkt. China war mehr oder weniger zu einer informellen Kolonie der europäischen Imperialmächte gemacht worden.
Als propagandistischer Gegenpol zu der kolonialen Großmacht England und zum britischen Hongkong sollte in Kiautschou eine sogenannte „Kulturmission“ den Aspekt verdecken, dass die Kolonialmacht Deutschland von diesem Handel am meisten profitierte.
In erster Linie ging es dabei um die Erschließung neuer Absatzmärkte und Rohstoffquellen. Mit der Erschließung des Gebietes Kiautschou wurde damals der Wasserbauingenieur Georg Franzius aus Aurich beauftragt, nachdem schon zuvor der Geologe Ferdinand von Richthofen Kiautschou aufgrund der dortigen Kohlevorkommen als geeignet befunden hatte.
Die Halbinsel sei ein guter Ort, um mit den Chinesen Handel zu treiben und für den Bau eines Hafens. Am Aufbau der Stadt Tsingtao hatte Franzius keinen Anteil mehr. Der erste Gouverneur Carl Rosendahl jedoch vernachlässigte die „kulturellen“ Aspekte und kümmerte sich vor allem um militärische Belange des Stützpunktes.
Deshalb wurde er im Jahr 1899 durch Paul Jaeschke ersetzt. Die Entwicklung der Kolonie schritt unter seiner Amtsführung rasch voran. Die Deutschen gründeten Theater, Schulen, Universitäten und Symphonieorchester. Es entstand eine ethnisch und ständisch gegliederte Siedlung.
Im Süden lag die Europäerstadt, im Norden siedelten chinesische Geschäftsleute und weiter außerhalb entstanden die Arbeitersiedlungen. Die deutschen Investitionen in den Aufbau des Kolonialgebietes sowie in den Berg-, Eisenbahn- und Hafenbau führten auch zur Schaffung vieler neuer Arbeitsplätze für die einheimische Bevölkerung, die bis dahin vorwiegend von einer auf Selbstversorgung ausgerichteten Landwirtschaft gelebt hatte.
Die Bevölkerung des Pachtgebiets verdoppelte sich bis 1913 auf über 200.000 Einwohner.
Mehr Schein als Sein
Betrachtet man jedoch das Pachtgebiet Kiautschou aus der Perspektive der „Eroberten“, so stellt sich die Frage, ob das Deutsche Reich auch hier, so wie alle Kolonialmächte Europas, eine fremde Kultur unterwarf und den Einheimischen ihre Regeln, Wert- und Moralvorstellungen aufzwang.
So wurden die Dörfer, die auf dem ins Detail geplanten deutschen Stadtgebiet lagen, nach Ankunft der deutschen Kolonialherren dem Erdboden gleichgemacht. Bei einigen wurde sogar die Erde abgetragen, da man in den chinesischen Dörfern den Grund für einen Typhusausbruch unter der deutschen Bevölkerung sah.
So wundert es nicht, dass die deutsche Präsenz massiv auf Ablehnung stieß. Vorrang hatte seinerzeit natürlich die tief verwurzelte Ideologie, dass die europäische, aufgeklärte Kultur der 4.000 Jahre alten chinesischen Kultur überlegen sei.
Die „Eroberer“ aus dem fernen Deutschland betrachteten sich a priori als überlegen und versuchten, auch durch Missionare, den Menschen der eroberten Gebiete ihre westliche Kultur aufzuzwingen. Wie auch in afrikanischen und anderen Überseekolonien wurden in Kiautschou die Chinesen mit den spezifisch kolonialen Herrschaftsinstrumenten konfrontiert. Dazu zählten auch sogenannte „Strafexpeditionen“, insbesondere in der Anfangszeit.
Vergeltungsmaßnahmen der Kolonialherrschaft
Während die meisten deutschen Einwohner Tsingtaos das ruhige koloniale Leben fernab der politischen Querelen im Heimatland genossen, sah die Situation für viele Chinesen deutlich anders aus.
So wehrten sich 1899 Bauern im Hinterland gegen die deutschen Pläne, ihr Ackerland für den Eisenbahnbau zu nutzen. Die entsandten Soldaten gingen gegen die Landbevölkerung äußerst rüde vor. Es gärte überall zusehends in der Provinz. Ein Geheimbund entstand: von den Deutschen „Boxer“ genannt.
Die Unterdrückung der Bevölkerung, ihre Bevormundung und Gängelung endeten dann später im sogenannten „Boxerkrieg“ von 1900 bis 1901. Dieser Aufstand wurde durch eine äußerst brutale „Strafexpedition“ beendet. Anführer der Bewegung wurden inhaftiert und öffentlich enthauptet.
Berühmt-berüchtigt war die vorausgegangene „Hunnenrede“ von Kaiser Wilhelm dem II.: „Pardon wird nicht gegeben, Gefangene werden nicht gemacht. Wer in Eure Hände fällt, sei Euch verfallen.“
Die deutsche Kolonialherrschaft im Pachtgebiet Kiautschou währte indessen nicht sehr lange. Schon im Jahr 1914, mit Beginn des Ersten Weltkrieges und 16 Jahre nach Unterzeichnung des Pachtvertrages, wird die Stadt Tsingtao von den Japanern belagert und eingenommen.
Sie lösen die Deutschen als Kolonialherren ab. Ein Zeitzeuge berichtet: „Die Tiger sind vertrieben, die Wölfe sind gekommen. Die Wölfe sind noch schlimmer als die Tiger.“ Erst sieben Jahrzehnte später, mit dem Aufstieg zur Weltmacht, wird China dieses Trauma überwinden.
Was blieb: Ein Exportschlager als Andenken an das „Pachtgebiet“
Noch heute wird in Tsingtao deutsches Bier nach Reinheitsgebot gebraut. Seine Geschichte wird im Biermuseum in der Tsingtao-Brauerei in Qingdao erzählt. Die deutschen Matrosen waren es damals, die auf ihr heimatliches, gewohntes Bier auch im fernen Asien nicht verzichten mochten.
So gründeten clevere britische Kaufleute im Jahre 1903 eine Brauerei, die Anglo-German Brewery Company. Das frische Quellwasser für das Bier kam damals aus dem Berg Lao Shan, die anderen Rohstoffe wie Hopfen und Malz mit dem Schiff aus Deutschland.
„1897 haben deutsche Truppen Qingdao besetzt. Und dann haben sie schon bald eine Brauerei gegründet. Vor allem für die Soldaten und Matrosen. Die wollten nicht ohne ihr Bier sein. 2.000 Tonnen konnten sie damals im Jahr produzieren, das produzieren wir heute am Tag“, sagte Li Jingyuan vom Biermuseum der Tsingtao-Brauerei.
Neben der Brauerei erinnern im Shinan-Distrikt des heutigen Qingdao (Tsingtao) zahlreiche Bauten an die deutsche Kolonialzeit. Die Kiautschoustraße im Berliner Wedding aber bietet bis heute keinen Verweis auf ihren historischen Hintergrund.
Über die Autorin:
Sabine Küster-Reeck ist gelernte Schauwerbegestalterin. Sie absolvierte beim Deutschen Journalistenkolleg in Berlin ein zweijähriges Fernstudium im Bereich Journalismus und entdeckte besonders den Reisebericht für sich. Fünf Jahre lang lebte sie mit ihrem Mann im Norden Äthiopiens und unternahm zahlreiche Reisen in Afrika. Gegenwärtig gilt ihr besonderes Interesse den osteuropäischen Ländern. Sie lebt heute in Berlin und Brandenburg.
Dieser Beitrag stellt ausschließlich die Meinung des Verfassers oder des Interviewpartners dar. Er muss nicht zwangsläufig die Sichtweise der Epoch Times Deutschland wiedergeben.
vielen Dank, dass Sie unseren Kommentar-Bereich nutzen.
Bitte verzichten Sie auf Unterstellungen, Schimpfworte, aggressive Formulierungen und Werbe-Links. Solche Kommentare werden wir nicht veröffentlichen. Dies umfasst ebenso abschweifende Kommentare, die keinen konkreten Bezug zum jeweiligen Artikel haben. Viele Kommentare waren bisher schon anregend und auf die Themen bezogen. Wir bitten Sie um eine Qualität, die den Artikeln entspricht, so haben wir alle etwas davon.
Da wir die Verantwortung für jeden veröffentlichten Kommentar tragen, geben wir Kommentare erst nach einer Prüfung frei. Je nach Aufkommen kann es deswegen zu zeitlichen Verzögerungen kommen.
Ihre Epoch Times - Redaktion