Ein Aufruf zum Ungehorsam des Publikums
„Das war etwas mehr Information als ich mir gewünscht hätte”, sagt Uma Thurman zu John Travolta im Tarantino-Kultfilm „Pulp Fiction“. Besser könnte man sie kaum umschreiben, diese feine Linie des Taktgefühls, die die eigene Privatsphäre von der des Mitmenschen trennt.
Um den „Tarantino der Opernregie“, Calixto Bieito zu seinem München-Debut standesgemäß zu begrüßen, ließ sich die Bayerische Staatsoper nun etwas besonderes einfallen:
Das Plakat, mit dem seit Wochen für dessen Neuinszenierung des „Fidelio“ geworben wird, zeigt einen nackten Glatzkopf, der Herrn Bieito nicht unähnlich sieht. Dieser zieht an einem von zwei toten Clowns, die marionettenartig herabhängen; eine Anspielung auf das Skandal-Image des Regisseurs, der für exzessiven Einsatz von Nackten auf der Bühne berüchtigt ist. Nun zieht er also die Fäden beim Münchener „Fidelio“.
Unschönes Detail: Die Insignien seiner Männlichkeit waren weder verhüllt noch mit antiker Diskretion dargestellt, sondern auffällig raumgreifend. Wer das Poster gesehen hat, weiß wovon ich spreche.
Was all das mit Beethovens „Fidelio“ zu tun hat, bleibt rätselhaft: Ein Werk, das „treue Gattenliebe“ und selbstlosen Mut preist, würde der Unwissende nie hinter der Illustration vermuten, die lediglich geeignet ist, Aufmerksamkeit aus der untersten Schublade zu provozieren.
Das Bild hängt prominent, nicht nur in der Maximilianstraße, sondern in beinahe jedem U-Bahnhof. Da sehen es dann die großen und kleinen Kinder dieser Erde, und es hämmert sich ihnen auf subtile Weise ins Hirn. Die Sensibilität, dass hier was nicht stimmt, diese feine Linie des Taktgefühls, wird weiter abgeschliffen.
Die „künstlerische Freiheit“ macht´s möglich
Interessant, dass kein anderes Produkt der Warenwelt oder des öffentlichen Lebens so beworben werden könnte. Nur ein Kondomhersteller benutzt meines Wissens ein stilisiertes Dings als Markenzeichen. Ja, nicht mal die Stripper von den „Chippendales“ (die bis heute Tabus und Feigenblätter kennen) würden sich das leisten. Aber die Bayerische Staatsoper kann schon, denn das ist ja „Kunst“. Was für ein ausgefuchster Trick, Pornografie unter dem Deckmantel der künstlerischen Freiheit in die Öffentlichkeit zu bringen.
Und warum sagt keiner was? Vermutlich, weil die empfindliche Toleranzschwelle zu oft beansprucht wurde und die letzten „Fremdschämer“ längst resigniert haben.
Da Oper an sich eine hehre, weil anspruchsvolle Kunstform ist, konnte sich in ihr – verglichen mit anderen Künsten und Medien – der gute Geschmack besonders lang halten. Dies scheint nun, nicht nur in München, endgültig vorbei zu sein, denn erzwungener Voyeurismus und Peinlichkeiten reißen ein, wohin man blickt.
Der dritte Striptease in vier Wochen
Allein in den letzten vier Wochen, durfte ich mir drei Neuinszenierungen ansehen, in denen aus Hauptdarstellern Haut-Darsteller wurden: An verschiedenen Schauplätzen wohlgemerkt und natürlich immer irgendwie dramaturgisch begründet.
28.November 2010, Tatort „Weißes Rößl“: An der Komischen Oper Berlin ließ Regisseur Sebastian Baumgarten den soeben gekündigten Oberkellner Leopold sich von Frack, Hemd und Hose entledigen, um zivile Kleidung anzulegen. Max Hopp stand da im Feinripp und intonierte treffenderweise das Lied „Zuaschaun kann i net“.
10. Dezember 2010: „The Rakes Progress“ von Strawinsky, inszeniert an der Staatsoper in Berlin im Schillertheater von Krzysztof Warlikowski: Sopranistin Anna Prohaska, süße siebenundzwanzig, muss als Anne Trulove einen BH und Höschen-Auftritt hinlegen. Während der komplizierten Arie „I go, I go to him“, wird der Zuschauer Zeuge, wie sie einen Berg Unterwäsche und Kleidung in eine Sporttasche stopft, sich in Röhrenjeans zwängt, eine Glitzerbluse anzieht und reisefertig schminkt.
Der österreichische Shooting-Star meisterte dies souverän und sehr ästhetisch, wobei die Arie hauptsächlich von inneren Werten handelte und das Pressefoto dazu ein Hit der allgemeinen Berichterstattung wurde.
21.Dezember 2010: Tatort Bayerische Staatsoper in München, „Fidelio“ von Calixto Bieito: Beim Duett „Oh namenlose Freude“ müssen sich Leonore und der von ihr gerettete Florestan einmal komplett bis auf die Unterwäsche aus und umziehen, unter dem Vorwand, nach dem Happy End des Dramas ihre Rückkehr zum Alltag darzustellen.
Das Duett an sich ist eine Zitterpartie für jedes Sängerpaar: Beethovens Sechzehntel-Bewegungen, prägnante Rhythmik, Tonsprünge und der deutsche Zungenbrecher-Text müssen mit dem Orchester synchron laufen.
Aber zum Glück stehen da Jonas Kaufmann und Anja Kampe an der Rampe, und die kriegen das schon hin. Zu inniger vokaler Verbundenheit fanden sie natürlich nicht; wie auch, unter diesen Bedingungen? Striptease-Vorwurf beiseite, schon vom Blickwinkel seriösen Musizierens her kann keiner behaupten, dass die beiden sich bei diesem Auftritt wohl gefühlt hätten. Und das Gerücht, Regietheater würde Werke zwar qualitativ optisch, aber nicht musikalisch beeinträchtigen, entkräftigte sich mal wieder kräftig.
Sind wir nicht schon an alles gewöhnt?
Wozu die Aufregung, schließlich schickte schon 1972, vor fast viezig Jahren, Götz Friedrich im Bayreuther „Skandal-Tannhäuser“ eine fast barbusige Venus (Gwyneth Jones) auf die Bühne. Und Sybil Sanderson leistete sich bei der Uraufführung von Massenets „Thaïs “ gar im Jahr 1894 einen „Garderobendefekt“.
Natürlich ist die Geschichte der Entblößungen auf der Bühne so alt wie das Theater selbst, doch wer schützt heute die Matadore der Opernarena vor dem Totalausverkauf ihrer Privatsphäre?
„Ich bin Künstler, kein Gladiator“, lautete die Entschuldigung Rolando Villazóns für seine andauernde Stimmkrise 2010. Ein Satz der treffend ausdrückt, wie sehr die Stimme mit dem Selbst des Singenden verbunden ist. Operngesang an sich ist Seelen-Striptease, denn er fordert die Kommunikation von Leidenschaften und Situationen, die glücklicherweise die wenigsten von uns in dieser Heftigkeit selbst erleben müssen.
Reicht es heute also nicht mehr, was Sänger für uns geben? Die Frucht ihrer Anstrengungen ist kein kulinarisches Genussmittel, sondern im Idealfall Seelennahrung. Es gehört innere Stärke und Mut zu diesem Beruf, denn der tägliche emotionale Einsatz ist hoch.
Um ein tadelloses Mitglied einer Schafsherde zu sein, muss man vor allem ein Schaf sein (Albert Einstein)
Wo Fernsehzuschauer nur abschalten können, ist es ein Privileg des Opernpublikums, künstlerischen Katastrophen persönlich beizuwohnen.
Das ist doch die Chance zum Protest! Natürlich, Opernbesucher sind im Durchschnitt etwas älter. Da sitzt auch die gute Erziehung noch tiefer. Was wäre aber, wenn das Publikum nicht schafsherdengleich zusehen, sondern seine Stars in Schutz nehmen würde? Denkbar wären Zwischenrufe wie z.B.: „Arme Anja!“ – “Armer Jonas!“ – „Ihr seid nicht allein!“
Die Störung der Kunst wäre in diesem Fall ein Akt der Emanzipation. Eine Emanzipation von falscher Scham und passiver Konsumentenrolle. Und würde konsequent klar machen, dass ein Publikum keine nette Unterhaltung sucht, wenn es auf Qualität und Anstand pocht.
Also nächstes Mal nicht still halten und brav klatschen, wenn uns Jonas Kaufmann (oder einer seiner Kolleginnen und Kollegen) in Unterhose gegenüber tritt.
Es braucht entschlossenen Widerstand, wenn die zivilisatorische Errungenschaft des Schamgefühls demontiert und Darsteller auf hinterhältige Art entwürdigt werden.
Die Verfechter des Regietheaters behaupten gern, Oper könne nur mit ihren Mitteln zeitgemäß und gesellschaftlich einflussreich bleiben. Wollen wir, die ihren Lebensunterhalt aktiv mit Eintrittskarten und Subventionen zahlen, uns weiter für dumm verkaufen lassen? Die Macher solch arroganter Machwerke sollten schnellstens lernen, dass Oper auch ohne sie lebendig ist. Quicklebendig sogar. Holt die Trillerpfeifen raus! Wir sind das Publikum!
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