Deutschlands erste Einsamkeitsbeauftragte: Zwischen Symbolmaßnahmen und nachhaltigen Lösungen

Deutschland hat eine erste Einsamkeitsbeauftragte. Annabell Paris aus Berlin-Reinickendorf setzt in Zeiten zunehmender Digitalisierung und Urbanisierung auf analoge soziale Netzwerke und Plauderbänke.
Titelbild
Der alte Mann und die Bank – Symbolbild für Einsamkeit.Foto: Jacob Wackerhausen/iStock
Von 14. Mai 2024

Annabell Paris ist die bundesweit erste Einsamkeitsbeauftragte. Die 39-Jährige trat ihre Vollzeitstelle im Einsatz gegen die Einsamkeit vor einhundert Tagen an. Die studierte Kommunikationswissenschaftlerin sagte zum Anfang: „Einsamkeit ist kein kleines Randthema – es sind so viele Menschen davon betroffen.“

Die Stiftung Patientenschutz teilte pünktlich kurz vor Weihnachten 2023 mit, dass Einsamkeit im Moment die größte Volkskrankheit in Deutschland ist. Davon seien nicht nur hochbetagte Menschen betroffen. Im Gegensatz zu den vergangenen Jahren berichteten auch immer mehr 60- bis 70-Jährige, dass sie sich einsam fühlen, sagte Stiftungsvorstand Eugen Brysch.

Telefonseelsorge: Jeder vierte Anruf geht um Einsamkeit

Bei der Telefonseelsorge hatte sich im vergangenen Jahr gut jeder vierte Anruf um das Thema Einsamkeit gedreht. Das Gefühl des Alleinseins sei besonders seit dem Beginn der Corona-Pandemie ein immer wieder genanntes Problem, das alle Altersgruppen betreffe. Weihnachten 2022 hatten insgesamt rund 1,2 Millionen Menschen bei der Telefonseelsorge angerufen.

Gesundheitsminister Lauterbach nahm sich des Themas damals auf seinem X-Account an:

„Die zunehmende Zahl einsamer Menschen ist erschreckend. Für sie kann Weihnachten eine Gefährdung sein, sich das Leben zu nehmen. Jeder sollte sich fragen, ob er einen einsamen Menschen kennt, den er heute anruft oder besucht. Einsamkeit kann tödlich sein.“ Für diesen Tweet erntete er einen veritablen sogenannten „Shitstorm“ mit Blick auf die Corona-Zeit.

Eine andere Erhebung, die „Zeitverwendungserhebung 2022“, wurde während der Corona-Pandemie erhoben. Das Ergebnis: Besonders junge Erwachsene sind einsam. Jede sechste Person ab zehn Jahren gab bei der Befragung an, sich oft einsam zu fühlen; das entspricht knapp 12,2 Millionen Menschen in Deutschland. Dabei sind junge Erwachsene im Alter von 18 bis 29 Jahren am stärksten betroffen. Fast jeder Vierte in diesem Alter leidet oft unter Einsamkeit.

Auch wenn das Thema Einsamkeit durch die Maßnahmen der Corona-Zeit verstärkt wurde, das gesellschaftliche Phänomen hat dort nicht seine Ursache, sondern eine längere Geschichte.

„Singen gegen Einsamkeit“

Einsamkeit steht in der Wahrnehmung oft in dem Zusammenhang, wie unsere Gesellschaft mit dem Thema Altwerden und älteren Menschen umgeht. In Deutschland sind heute 22 Millionen Menschen 60 Jahre und älter, das ist mehr als jeder Vierte. Bis 2050 wird sich zudem die Generation 80 plus verdoppeln. Bereits die Vorgängerregierung der Ampel aus Christ- und Sozialdemokraten hatte 2017 im Koalitionsvertrag festgeschrieben, Einsamkeit zu bekämpfen.

Die aktuelle Bundesregierung nahm sich ebenfalls des Themas an. 2023 veröffentlichte Familienministerin Lisa Paus (Bündnis 90/Die Grünen) ein Strategiepapier mit 111 Maßnahmen gegen Einsamkeit. „Finanzielle Mittel, um die Vorhaben der Strategie umzusetzen, plant die Familienministerin nicht ein“, schreibt „tagesschau.de“. „Die Strukturen wie Sportvereine, in denen die Maßnahmen greifen sollen, gebe es ja schon“, meint Paus.

Publikumswirksam nahm Ministerin Paus am Berliner Hauptbahnhof am „Singen gegen Einsamkeit“ teil. Zudem verkündete sie, dass Maßnahmen wie ein jährlich erscheinendes „Einsamkeitsbarometer“ geplant seien.

Problem erkannt, Problem gebannt?

Zurück zur eingangs erwähnten Einsamkeitsbeauftragten Annabell Paris. Nach 100 Tagen im Dienst hat Epoch Times die Berlinerin, die seit 1986 im Bezirk Reinickendorf wohnt, gefragt, wie es läuft im Job, was ihre weiteren Pläne sind und was die ersten Herausforderungen waren:

„Einer meiner ersten Eindrücke war es, dass es eine sehr hohe Dunkelziffer gibt, was einsame Personen anbelangt. Obwohl ich keine Sozialarbeit mache, sondern Strukturen gegen Einsamkeit entwickeln werde, so ist der Zulauf dennoch extrem.“

Viele Menschen aus dem gesamten Bundesgebiet fühlten sich akut von Einsamkeit betroffen und riefen sie an, um ihr von ihrem Alltag zu berichten.

„Dabei ist Einsamkeit leider immer noch ein Tabuthema“, sagt Frau Paris. „Eine der Herausforderungen ist es, der Stigmatisierung und Tabuisierung von Einsamkeit entschieden entgegenzuwirken. Durch eine neue Bewusstseinswerdung zum Thema Einsamkeit lassen sich Betroffene schneller aufspüren und Hilfemaßnahmen besser an die betroffenen Personen bringen“, so Paris. Einsamkeit betreffe primär ältere Menschen, dennoch sei es alarmierend, für wie viele junge Menschen sie ebenfalls ein Thema ist: Natürlich können auch jüngere Menschen von Einsamkeit betroffen sein, macht die Reinickendorferin klar.

Nicht auf die lange Bank geschoben

Nach konkreten Maßnahmen und Projekten befragt, äußert sich Paris zufrieden, es sei „einiges geschehen“. Neben dem gezielten Aufbau von Strukturen, Vernetzungsarbeit mit den Trägern und einer interdisziplinären Arbeitsgruppe für den Fachaustausch gebe es schon ganz praktische Resultate:

Seit Anfang des Monats steht eine farblich ansprechend gestaltete Bank, die den Namen „Quasseltreff“ trägt, auf dem Platz vor dem Rathaus Reinickendorf. Diese Sitzgelegenheit ist mit sechs Sprüchen verziert wie etwa „plaudern macht glücklich“ oder „gemeinsam reden wir mehr“ als Anregung zum Austausch und zur Geselligkeit.

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Damit folgt der Bezirk Berlin-Reinickendorf einem praktischen Ansatz gegen das Phänomen der grassierenden Einsamkeit. Diese Plauderbänke gibt es schon in mehreren anderen Berliner Bezirken.

Als weiterer praxisbezogener Ansatz wurde eine Karte erstellt, um herauszufinden, wo sich von Einsamkeit betroffene Menschen im Bezirk verstärkt aufhalten und welche Angebote es in der Nähe für die unterschiedlichen Altersgruppen gibt: „Obwohl uns Einsamkeit quer durch die Gesellschaft begegnet, durch alle Altersgruppen und sozialen Schichten, haben wir mit unserer Arbeit bei den Senioren begonnen, da Reinickendorf zu den Bezirken mit der ältesten Bevölkerungsstruktur gehört und die Tendenz weiter steigend ist.“

Die Karte enthält genaue Eintragungen, wo sich die Seniorenfreizeitstätten und weitere Angebote gegen Einsamkeit im Bezirk befinden. Sie soll Aufschluss geben, wo der akuteste Handlungsbedarf ist und aufgestockt werden muss.

„Eines von vielen Zielen ist es, Alt und Jung mehr miteinander zu verbinden und insbesondere für Senioren und Seniorinnen die Angebote gegen Einsamkeit sichtbarer zu machen und auszubauen.“

Wieder analoge Verbindung der Generationen

Doch wie findet man die Balance zwischen Symptombehandlung und Ursachenbekämpfung? Können besagte bunte Bänke mehr sein als der Ausdruck eines guten Willens? Sitzbänke als Pflaster auf das, was immer mehr verloren geht, in unserer Gesellschaft: traditionelle soziale Unterstützungsnetzwerke, geprägt durch Familiensinn und Zusammengehörigkeitsgefühl der Generationen.

Die fortschreitende Digitalisierung und die zunehmende Verbreitung von sozialen Medien haben zu der paradoxen Situation geführt, dass vor allem auch junge Menschen zwar ständig vernetzt sind, aber gleichzeitig weniger echte soziale Interaktionen mit entsprechend emotionalem Tiefgang pflegen.

Insbesondere mit der Zunahme der Arbeit zu Hause, neudeutsch Homeoffice genannt, hat sich ergeben, dass Menschen oft längere Arbeitszeiten und weniger Zeit für soziale Interaktionen haben. Mehr Menschen fühlen sich so isoliert. Die Urbanisierung, also Migration in Städte, kann auch dazu führen, dass Menschen sich entwurzelt fühlen und Schwierigkeiten haben, persönliche analoge Netzwerke aufzubauen oder aufrechtzuerhalten.

„Zum Jahresende ist ein Einsamkeitsgipfel angesetzt, der einem Fachaustausch dient und das Thema Einsamkeit weiter in der Öffentlichkeit sichtbar machen und voranbringen soll“, erklärt Annabel Paris.

Viele weitere Ideen seien derzeit in der Planungs- und Umsetzungsphase. Die Zukunft wird zeigen, ob die Einsamkeitsbeauftragte sich selbst überflüssig machen kann. Wünschenswert wäre es.

Dieser Beitrag stellt ausschließlich die Meinung des Verfassers dar. Er muss nicht zwangsläufig die Sichtweise der Epoch Times Deutschland wiedergeben.


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