Das Schweigen unter dem Mantel der Depression
Ohne Berührungsängste steigt Ines Geipel ein in die Tiefen und Untiefen der Zeitkrankheit Depression. Nicht wie in einem Sachbuch, als das ihr neuestes Werk „Seelenriss“ angekündigt wurde, sondern durchaus mit ihren literarischen Qualitäten und in einer Sprache, die kein Entkommen duldet.
Sie nimmt den Leser mit wie in einem Film, lässt Kindheiten, Traumata und ihre Wiederholungen, Verzweiflungen, Stummheit und Abgründe vor dem inneren Auge vorbeiziehen. Schonungslos werden die deutschen Verletzungen einer vaterlosen und geschwächten Gesellschaft nach zwei Weltkriegen seziert und wieder neu zusammengesetzt. Einer Gesellschaft, die eher schweigt und verdrängt, als miteinander zu sprechen und die nach dem zweiten Weltkrieg auch noch geteilt wird.
Die beeindruckendste Schilderung im ersten Kapitel ist dem 32-jährigen Robert Enke gewidmet, dem deutschen Nationaltorwart, der sich am 10. November 2009 vor einen Zug warf. Ines Geipel begab sich daraufhin auf die Suche nach dem Seelenriss, an dem nach statistischen Angaben schon ein Fünftel der Deutschen leiden soll. Das Depressionsbarometer schlägt in Deutschland doppelt so hoch aus wie in vergleichbaren Industrieländern. Für Geipel ein Anzeichen für die tief in die Geschichte hineinragenden unerlösten Schuldkomplexe, die Kinder und Enkel wie ein dunkler unbekannter Schatten verfolgen.
Schlaflosigkeit, Schattenwelten, Apathie, Schmerzen, Ängste, Panik und das Gefühl von Ohnmacht, so schreibt sie, verfolgen die Manager und Unternehmer, die Medienleute und die Spitzensportler ebenso wie den Arbeiter bei Audi oder die Studenten und Lehrer.
Die Geschichte von Enke läuft wie ein Film ab mit Rückblenden in seine Kindheit in der Stadt Jena, der Stadt, in der die Autorin in den Leistungssport startete. Sie bewahrt die Erinnerung an Enke davor, ihn nur als den Nationaltorwart aus Hannover zu sehen, begleitet den Jungen mit viel Empathie auf seinem Werdegang, durch seine Einsamkeiten hin zu dem Riss in seiner Seele, bei dem ein Mensch sich selbst abhanden kommt. Anderes braucht man nie wieder über Enke zu lesen.
Ein sachliches Buch, das kein Sachbuch ist
Aber Ines Geipel ließ das Thema nicht ruhen und sie wendet sich Ute Krause zu, der DDR-Schwimmerin, die durch Staats-Doping in ihrer körperlichen und seelischen Entwicklung dramatisch verändert wurde, und deren zuständige Trainer und Ärzte nach 1989 vor Gericht mit faden Urteilen zur Rechenschaft gezogen wurden. Sie wird aber in ihrem Lebenskampf bis heute allein gelassen und ist immer noch gezwungen Antidepressiva zu nehmen, um überhaupt überleben zu können.
Doch wenn man glaubt, dass Geipels Herz nur den Sportlern gehört, dann ist das ein Irrtum. Im zweiten Teil des Buches nimmt sie uns mit in die Privatuniversität Witten-Herdecke, zu einer Depressions-Forscherin aus Kassel und zu einem Psychiater in der hessischen Justizvollzugsanstalt Butzbach. Waren es im ersten Teil des Buches imaginierte Filmbilder, so werden es im zweiten Teil eher Gesprächsprotokolle mit Beobachtern und Betroffenen, mit Fakten und Zahlen, mit erschreckenden Einsichten in die Häufigkeit und Schwere der Krankheit und ohne jedes Patentrezept. Hier geht eine Autorin mitten hinein in ihr Sujet und schreibt darüber ein Buch, das sachlich ist und doch kein Sachbuch ist, das zum Nachdenken bringt und vielleicht auch zum Sprechen.
Die deutsche Gesellschaft im Westen hat bis zum Jahr 1968 gebraucht, bis das Schweigen wenigstens ansatzweise gebrochen wurde. 20 Jahre nach der deutschen Einheit könnte die Zeit gekommen sein, dass weitere Schweigekartelle gebrochen werden – innen und außen.
Lesenswert.
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