„Chaos-Tage“ in Österreich: Wie es nach dem Kanzlerrücktritt weiter geht
Am Samstag, 4.1., einen Tag nach dem Ausstieg der liberalen NEOS aus den Regierungsverhandlungen, sind auch die Koalitionsgespräche zwischen der ÖVP und der SPÖ gescheitert.
Noch am selben Abend verkündete Bundeskanzler Karl Nehammer seinen Rückzug als Bundeskanzler und Parteichef. Beide Ämter hatte er seit Ende 2021 inne. Am Tag danach trat der Parteivorstand der ÖVP zusammen, um über das weitere Vorgehen zu beraten. Außerdem wollte sich Bundespräsident Alexander Van der Bellen zu den jüngsten Entwicklungen äußern.
Wie erste Medien am frühen Sonntagnachmittag berichteten, soll der bisherige Generalsekretär Christian Stocker die ÖVP kommissarisch übernehmen. Gleichzeitig soll das bisherige Verhandlungsteam der Partei Verhandlungen mit der rechten FPÖ aufnehmen.
Stocker galt bislang als Gegner einer Koalition mit den Freiheitlichen unter Bundesparteichef Herbert Kickl. Allerdings soll er nur Interimschef bleiben, bis ein dauerhafter Nehammer-Nachfolger gefunden ist.
Szenario „Mit Kurz in Neuwahlen“ hat sich für die ÖVP zerschlagen
Bereits am Samstagabend zerschlugen sich auch in ÖVP-Kreisen verbreitete Hoffnungen, der 2021 nach Korruptionsvorwürfen zurückgetretene Altkanzler Sebastian Kurz könnte an die Parteispitze zurückkehren.
Wie der „exxpress“ unter Berufung auf Stimmen aus dessen unmittelbarem Umfeld berichtete, steht der 39-Jährige für ein Comeback nicht zur Verfügung.
Unter der Führung von Sebastian Kurz hatte es die ÖVP geschafft, mit deutlichem Vorsprung zur stärksten Kraft in Österreich aufzusteigen. Noch unmittelbar vor seinem Rücktritt lagen die Konservativen bei 34 Prozent der Stimmen – eine Woche später waren sie um fast zehn Prozent abgestürzt.
Mit Kurz als ÖVP-Chef oder als Spitzenkandidat einer eigenen Liste hätten die Konservativen darauf hoffen können, im Fall von Neuwahlen den Höhenflug der FPÖ abbremsen zu können. Allerdings wäre Kurz in den Reihen der Konservativen nicht so unangefochten gewesen wie in den ersten Jahren seiner Kanzlerschaft.
Altkanzler verfügt nach wie vor über Sympathien
Vor allem im urbanen Bürgertum hätten um bürgerliche Reputation besorgte ÖVP-Repräsentanten ein Problem damit gehabt, einen – nicht rechtskräftig – gerichtlich verurteilten Parteichef und Spitzenkandidaten zu akzeptieren. Dies hätte Stimmenverluste in Richtung NEOS oder der Grünen zur Folge haben können.
Hingegen hätte Kurz vor allem in der ländlichen und religiösen Wählerschaft auf einen „Trump-Effekt“ hoffen können. Vor allem aber hätte der Altkanzler auf die Wirtschaftsvertreter zählen können, die sich eher eine Regierung wünschen, die Regulierungen reduziert und die Kaufkraft stärkt.
Trotz vereinzelter Bedenken gegenüber den Positionen der FPÖ in Bezug auf die EU und die Außenpolitik erscheint ein türkis-blaues Bündnis für manche als vorteilhafter als Neuwahlen.
Inwieweit es Kurz gelungen wäre, zur FPÖ abgewanderte Wähler zurückzuholen, ist fraglich. In einer Größenordnung von mehreren hunderttausend Stimmen war dies in der Zeit nach dem Bruch der ersten türkis-blauen Koalition 2019 der Fall.
Zum Zeitpunkt seines Rücktritts hatte die FPÖ jedoch schon einige ÖVP-Wähler auf ihre Seite gezogen, die der Regierung Kurz deren Corona-Politik übelnahmen.
Van der Bellen will Staatskrise vermeiden
Bundespräsident Alexander Van der Bellen will sich nun am Montag mit Herbert Kickel (FPÖ) treffen. Er habe Kickl für Montag zu einem Gespräch in die Wiener Hofburg eingeladen, sagte Van der Bellen am 5. Januar.
Ob der Bundeskanzler Herbert Kickl heißen wird, dürfte Verhandlungssache sein. Die Verhandlungsposition der ÖVP ist zu schlecht, um allzu weitreichende Forderungen zu stellen.
Sollten Gespräche mit der Rechten scheitern, wären Neuwahlen unausweichlich. Umfragen deuten für diesen Fall jedoch einen noch höheren Zuspruch für die FPÖ und massive Stimmenverluste für die Konservativen an.
Das Staatsoberhaupt hat sich bis zum frühen Sonntagnachmittag noch nicht zu seinem weiteren Vorgehen geäußert. Offen ist, ob der Bundespräsident FPÖ-Kickl formal mit der Regierungsbildung beauftragen wird. Es ist jedoch davon auszugehen, dass Van der Bellen eine blau-türkise Koalition am Ende akzeptieren würde.
Update aus Österreich: „Stimmen innerhalb der Volkspartei, die eine Zusammenarbeit mit einer FPÖ unter Herbert Kickel ausschließen, sind deutlich leiser geworden”, sagt Bundespräsident Van der Bellen und kündigt neue Gespräche an. pic.twitter.com/iAWAklSBJ1
— Epoch Times Deutsch (@EpochTimesDE) January 5, 2025
Ähnlich wie im Vorfeld der Bildung der Regierung Schüssel 2000 ist es denkbar, dass er einzelne FPÖ-Ministervorschläge ablehnt oder die Unterzeichnung einer Präambel fordert. Der Bundespräsident hatte jedoch zuvor Tempo bei der Regierungsbildung gefordert – was es wenig wahrscheinlich macht, dass er nun auf Neuwahlen setzt. Diese würden frühestens Ende April stattfinden können.
Babler – nur noch SPÖ-Chef auf Abruf?
Möglicherweise hätte auch die SPÖ im Fall von Neuwahlen ihren Bundesvorsitzenden Andreas Babler abgelöst. Dieser hatte mit prononciert linker Rhetorik Teile der Basis begeistern können, Stimmen von den Grünen abgezogen und einen möglichen Parlamentseinzug der KPÖ verhindert.
Allerdings hatten die Sozialdemokraten unter Führung Bablers vor allem in traditionellen Arbeiterhochburgen massiv Stimmen verloren. Am Ende geriet die Nationalratswahl für die SPÖ, die ohnehin von ihrem historisch schlechtesten Ergebnis 2019 gestartet war, zum Nullsummenspiel.
Zugewinne gab es nur in Wien, wo sich Listenführerin Doris Bures schon im Wahlkampf von Babler und dessen Wahlprogramm distanziert hatte.
Obwohl Babler in seiner ersten Stellungnahme am Samstagabend Wahlkampfrhetorik angeschlagen hatte, gilt seine Ablösung nur als Frage der Zeit. Es ist unsicher, ob er im Fall von Neuwahlen noch als Spitzenkandidat ins Rennen ginge. Allerdings hätte er den Vorteil, dass sein aussichtsreichster innerparteilicher Rivale Hans Peter Doskozil kurzfristig nicht als Nachfolger zur Verfügung stünde.
Sozialdemokratie vor ähnlicher Obmann-Debatte wie ÖVP
Doskozil will als Landeshauptmann des Burgenlandes am 19.1. seine absolute Mehrheit im Landtag verteidigen. Gelingt ihm dies, würde es von vielen Wählern als Wortbruch aufgefasst, wechselte er nur wenig später dann doch an die Bundesspitze. Immerhin hatte er nach seiner knappen Niederlage in der Abstimmung über den Parteivorsitz 2023 erklärt, seinen Platz dauerhaft im Burgenland zu sehen.
Ebenfalls ungewiss wäre, ob es der SPÖ im Fall von Neuwahlen gelänge, kurzfristig noch Alternativen zur Spitzenkandidatur zu finden. Im Gespräch sind unter anderem Namen wie Bures, Eva-Maria Holzleitner oder jener des früheren Bundeskanzlers Christian Kern.
In der Sozialdemokratie bietet sich strukturell eine ähnliche Situation wie in der ÖVP, dass unterschiedliche Lager eine Mitsprache in der personellen und strategischen Ausrichtung der Gesamtpartei beanspruchen.
Die SPÖ hat jedoch mehr Zeit, sich neu auszurichten. Ihr Platz wird bis auf Weiteres in der Opposition sein. Eine Mehrheit jenseits von ÖVP und FPÖ ist nicht in Sicht, eine Koalition mit den Rechten schließt die Partei auf Bundesebene aus – und ein Bündnis mit der ÖVP ist soeben gescheitert.
Der stellvertretende Klubchef Martin Kucher erklärte, Babler sitze „fest im Sattel“. Die SPÖ habe sich in den Koalitionsverhandlungen „extrem pragmatisch“ gezeigt.
Statt Vermögens- und Erbschaftssteuern wie im Wahlkampf habe man nur noch eine Bankenabgabe gefordert. Die ÖVP zeichnet von der Position der Sozialdemokraten in den Verhandlungen ein anderes Bild.
Burgenländische Genossen machen Druck
Doskozil spricht schon jetzt von „Chaos-Tagen“ in Wien und erneuert seine Forderung nach der Bildung einer Expertenregierung. Auch in der eigenen Partei fordert der burgenländische Landesverband nun Konsequenzen.
In einer Erklärung von Landesgeschäftsführerin Jasmin Puchwein heißt es: „Es war ein Fehler, die Glaubwürdigkeit der Sozialdemokratie für die Aussicht auf ein paar Ministerposten aufs Spiel zu setzen.“
Die SPÖ Burgenland begrüßte das „Ende eines unsäglichen Schauspiels“ der Koalitionsgespräche zwischen der Bundespartei und der ÖVP. In dem Statement hieß es weiter: „Das Scheitern dieser Koalition war von Anfang an vorprogrammiert, denn ihr fehlte als Koalition der Verlierer schlichtweg jede Legitimation.“
Doskozil und die burgenländische SPÖ hatten in den vergangenen Jahren bewusst auf einer eigenständigen Linie beharrt. Im laufenden Wahlkampf vermeiden sie auf ihren Wahlplakaten und Flyern jedweden Hinweis auf die Partei. Lediglich auf dem Wahlzettel ist der „Liste Doskozil“ in der Namenszeile die Ergänzung „SPÖ Burgenland“ hinzugefügt.
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