Was will Lindner? Ein Blick in den Forderungskatalog
Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) und mit ihm die gesamte Ampelregierung scheinen in der Sackgasse zu stecken: Während Lindner die Forderungen aus seinem Diskussionspapier zur Wirtschaftswende umgesetzt sehen will, halten seine Koalitionspartner wenig von seinem Weg.
Der Finanzminister verzichtete bislang aber darauf, seinen Partnern ein Ultimatum zu stellen: Weder in seinem Vorschlagspapier noch bei seinem jüngsten Auftritt in der ZDF-Sendung „Berlin direkt“ am Sonntagabend, 3. November 2024, ließ sich Lindner auf einen eindeutigen Zeitpunkt ein, bis zu dem er seine Pläne erfüllt haben will. Er nannte auch kein Datum, bis zu dem ein Kompromiss auf dem Tisch liegen soll. Er versprach lediglich, dass die Situation „schnellstmöglich“ geklärt sein werde.
Keine Rücktrittdrohungen Lindners bekannt
Danach verabschiedete sich Lindner zu einem Krisengespräch in Richtung Bundeskanzleramt, in dem Scholz kurz zuvor die SPD-Parteispitzen zur Lagebesprechung getroffen hatte. Nach dem Vieraugenaustausch mit dem Regierungschef setzte Lindner kurz vor Mitternacht eine wenig aussagekräftige X-Botschaft ab: „Niemand“ könne es akzeptieren, „dass Deutschland wirtschaftlich nach hinten durchgereicht“ werde. Deshalb müsse eine „Richtungsentscheidung“ kommen.
Wie eine Rücktrittdrohung klang das nicht. Im Gegenteil hatte Lindner noch am 26. Oktober in einem Interview mit „Welt TV“ in Washington, D.C. seine Absicht bekräftigt, nicht nur die laufende Legislatur als Bundesfinanzminister bestreiten, sondern auch nach dem regulären Wahltermin im September 2025 die Bundesmittel als Ressortchef verwalten zu wollen: „Ich will nicht zuschauen, wie andere das, was wir uns jetzt erarbeiten an wirtschaftlicher Stabilität, geringerer Inflation, dass andere das wieder aufs Spiel setzen“ (Video auf X).
Wie genau Lindner es aber schaffen will, Regierungs- und Parlamentsangehörige aus den Reihen der SPD oder der Grünen von einer Abkehr ihrer Kernziele Sozialstaat und Klimaneutralität zu überzeugen, ließ er offen. In den vergangenen drei Jahren hatte Lindners FDP die Beschlüsse der Ampelagenda mitgetragen – etwa den Atomkraftausstieg, das Bürgergeld, das Heizungsgesetz oder das Verbrennerverbot.
Lindner: Aktuelle Herausforderungen „zum Teil vorsätzlich herbeigeführt“
Doch offiziell will Lindner angesichts der andauernden Haushalts-, Wirtschafts- und Arbeitsmarktprobleme kein „Weiter-so“. Sein Appell zur Umkehr aus seinem angeblich durch eine unverschuldete „Indiskretion“ kurz vor dem Wochenende durchgesickertem Vorschlagspapier „Wirtschaftswende Deutschland – Konzept für Wachstum und Generationengerechtigkeit“ (PDF) liest sich fast wie eine Kampfansage:
Die bekannten Herausforderungen wurden in den vergangenen Jahren von der Politik […] nicht nur nicht adressiert, sondern zum Teil vorsätzlich herbeigeführt. Deshalb ist eine Wirtschaftswende mit einer teilweise grundlegenden Revision politischer Leitentscheidungen erforderlich, um Schaden vom Standort Deutschland abzuwenden.“
Ein genauerer Blick in das Konzeptpapier offenbart bislang unüberbrückbare Differenzen. Denn Lindners Wendepapier bedeutet im Kern nichts anderes als eine Absage an praktisch alle Richtungsentscheidungen, die Lindner noch im Dezember 2021 für den Posten des Finanzministers im Koalitionsvertrag (PDF) zu unterschreiben bereit war. Nun aber kritisiert er diese gemeinsamen Beschlüsse gleich im ersten Absatz als „politisch festgelegte Rahmenbedingungen“, die es angesichts der Krisen zu ändern gelte. Lindner nennt konkret:
- Deutschlands „Sonderweg beim Klimaschutz“
- das „immer weiter wuchernde Regulierungs- und Bürokratiedickicht“
- „geschwächte Arbeitsanreize“
- die „Ausdehnung des Wohlfahrtsstaats“
- die „politisch forcierte Dekarbonisierung des Kapitalstocks in Deutschland“
- die „steigenden Energiekosten“
- den Wertverlust „langlebiger und weiterhin nutzbarer Güter privater Haushalte“
- die „verschlechterten Standortbedingungen in der Energieversorgung“
- die Unterfinanzierung von Infrastruktur, Digitalisierung und Bundeswehr
- das „gesamtstaatliche Ausgabenwachstum“
- die „bereits hohe politische Unsicherheit“
Das alles hatte man so oder so ähnlich auch im Wahlkampf 2021 oder in den seither geführten Bundestagsdebatten von den Oppositionsbänken der CDU oder AfD vernehmen können.
Lindner und Habeck in konträren Denkschulen unterwegs
Lindner skizziert in seinem Papier „zwei unterschiedliche Denkrichtungen“, ohne den jahrelangen Konflikt mit Wirtschaftsminister Robert Habeck ausdrücklich zu erwähnen. Der unterschiedliche Blick der beiden Top-Minister auf die Welt war erst kürzlich wieder deutlich geworden, nachdem Habeck am 23. Oktober ein eigenes Diskussionspapier vorgestellt hatte, das neue Staatsschulden in Milliardenhöhe als Lösungsansatz empfahl. Bei Lindner stieß dies auf Unverständnis.
Lindner fasste Habecks Denkansatz als Wunsch nach einer „Vertikalen Industriepolitik durch staatliche Feinsteuerung über kreditfinanzierte Subventionen und selektive Regulierungen“ zusammen, ohne den Namen seines Kabinettskollegen zu nennen.
Auf der anderen Seite beschwor Lindner seine eigene Überzeugung, nach der Deutschland eine „marktbasierte, diskriminierungsfreie und somit technologieoffene Angebotspolitik durch umfassende Verbesserungen des Ordnungsrahmens (= Soziale Marktwirtschaft)“ benötige:
Das ist nicht zuletzt deswegen von zentraler Bedeutung, weil mittlerweile die politisch induzierte Unsicherheit und das damit einhergehende rationale Abwarten der Investoren und Unternehmen ein Haupthindernis für die Dynamisierung der Wirtschaft darstellen.“
Sofortmaßnahmen für Dynamik und Arbeitsmarkt, Neujustierung der nationalen „Klimaziele“
Da Eile geboten sei, schlug Lindner ein „Sofortprogramm in drei Handlungsfeldern“ vor. Es gelte, eine „neue Dynamik zu entfesseln“, den Arbeitsmarkt zu „mobilisieren“ und anstelle des „deutschen Sonderwegs“ die „europäische Klimapolitik“ zum Maßstab zu machen.
Konkret wären nach Auffassung Lindners dazu jeweils eigene Maßnahmen notwendig, beispielsweise:
- ein sofortiges „Moratorium zum Stopp aller neuen Regulierungen“ für die Dauer von drei Jahren
- ein „signifikanter Einstieg in die Abschaffung des Solidaritätszuschlags und Senkung der Körperschaftsteuer“
- Anreize und Zusammenarbeit mit Wirtschaft, Verbänden, Politik und der KfW für „mehr Wagniskapital und Spitzenforschung“
- eine „Erleichterung von den Nachweis- und Berichtspflichten des ‚Green Deal‘“
Der „Abbau monetärer Fehlanreize bei Arbeitsaufnahme und -ausweitung“ solle mit einer Reform des Bürgergelds glücken, bei der unter anderem die Eigenverantwortung aktiviert, wöchentliche Arbeitszeiten und das Renteneintrittsalter erweitert sowie die „Besitzstandsregelung“ für Bürgergeldempfänger abgeschafft werden solle: „Individuelle Schlechterstellungen gegenüber dem Status quo sind dabei unvermeidlich, aber im Sinne von Aktivierung und Anreizorientierung auch zu begrüßen“, schrieb Lindner. Auch die Bereiche Gesundheit und Pflege bedürften einer finanzpolitischen Revision.
Der „Kalten Progression“, also höheren Einkommensbesteuerungen alleine wegen tariflicher Lohnsteigerungen, müsse ähnlich wie bei den Beitragsbemessungsgrenzen künftig automatisch Einhalt geboten werden, verlangte Lindner nicht zum ersten Mal. Innerhalb der Ampel ist die Frage auch wegen des Widerstands der Grünen offen.
Wenig Entgegenkommen vonseiten der Koalitionspartner
SPD-Coparteichef Lars Klingbeil hatte wohl auch diese Lindner-Passagen im Kopf, als er in der ARD-Sendung „Bericht aus Berlin“ am Sonntag sein Veto einlegte: „Wenn da am Ende aber das durchschimmert, was Herr Lindner schon 500 Mal vorgeschlagen hat und was wir schon 500 Mal abgelehnt haben, nämlich dass die reichen Leute in diesem Land noch mehr Geld in der Tasche haben, dann werden wir diesen Weg nicht mitgehen.“
Der grüne Bundestagsabgeordnete Felix Banaszak, der sich Mitte November auf dem Parteitag in Wiesbaden zum neuen Covorsitzenden der Grünen wählen lassen möchte, kritisierte Lindner ebenfalls im „Bericht aus Berlin“ für dessen Vorstoß: „Herr Lindner findet keine Zeit, seine Aufgabe als Finanzminister zu erfüllen“, sagte Banaszak, „dafür findet er viel Zeit, in alles andere hineinregieren zu wollen“.
Lindner will „Sonderweg beim Klimaschutz“ beenden
Für besonders große Irritationen bei seinen Ampelpartnern dürften Lindners Forderungen gesorgt haben, Deutschlands „Sonderweg beim Klimaschutz“ zu verlassen, „unnötige klimapolitischen Regulierungen und Subventionen“ abzuschaffen und allgemein auf das Tempo der EU umzuschwenken. Statt schon 2045 „klimaneutral“ zu werden, genüge es, die EU-Zielmarke 2050 zu erreichen – ein Affront in Richtung der grünen Transformationspläne.
Deutschland möge dafür seine selbst gewählte „Rolle eines Vorreiters“ durch die „eines Vorbilds“ ersetzen, stellte Lindner zudem zur Debatte. Dieses Vorbild Deutschlands solle „eine wachsende Volkswirtschaft mit der Reduktion der CO₂-Emissionen“ verbinden und „durch strategisches Agieren die weltweite Emissionsreduktion“ steigern.
Von einer kompletten Abkehr der Besteuerung des Kohlendioxids in der Luft hält der Finanzminister allerdings nichts: „Klimabezogene Transfers“ sollen nach seiner Vorstellung zwar „mit Augenmaß und nur im Gleichschritt mit anderen Staaten“ ausgezahlt werden. „Insbesondere auch beim internationalen Klimaschutz“ will er aber weiter „auf die Bepreisung von CO₂“ setzen.
Lindner auch für Ende des Klima- und Transformationsfonds
Darüber hinaus solle „Deutschland auf europäischer Ebene insbesondere die Abschaffung der Regulierungen zur Energieeffizienz, Gebäudeenergieeffizienz und der Flottengrenzwerte durchsetzen“, verlangte Lindner.
Ein „gesetzlich festgelegter Zeitpunkt für den Kohleausstieg“, „zusätzliche Subventionen“ und sogar der Klima- und Transformationsfonds (KTF) seien ebenfalls „nicht notwendig“, so Lindner. Und „um die internationale Wettbewerbsfähigkeit der EU-Industrieunternehmen zu erhalten, sollte der Grenzausgleichsmechanismus mit der Befreiung der Exporte von CO₂-Kosten ergänzt werden“. Alles abermals deutliche Absagen an grüne Klimaschutzideen.
Stattdessen setzt Lindner aus Kostengründen auf die unbeschränkte Extraktion und Speicherung von Kohlendioxid („Carbon Capture and Storage“, CCS), auf heimische Erdgasförderung per Fracking und sogar auf den Ausstieg aus der Subventionierung von „erneuerbarer Energie“. Auch eine Revision der Netzausbaupläne sei fällig: „Es bedarf einer grundsätzlichen Überprüfung der bereits im Bundesbedarfsplan gesetzlich festgeschriebenen Leitungen“, meint Lindner.
Intel-Milliarden umwidmen
Im dritten Teil seines Papiers griff Lindner altbekannte Standpunkte für seine Haushaltspolitik auf: Beibehaltung der Schuldenbremse, Körperschaftsteuersenkung statt Steuererhöhungen, die Komplettabschaffung des Solidaritätszuschlags und ein hohes Investitionsniveau beim gleichzeitigen Abbau „ineffizienter Subventionen“.
Alleine beim Wegfall der Zuschüsse für das umstrittene Intel-Werk in Magdeburg könne man zehn Milliarden Euro aus dem Klima- und Transformationsfonds für andere Zwecke verwenden. Dafür hatte sich der Kanzler schon vor Wochen offen gezeigt. Ob die finale Bereinigungssitzung für den Bundeshaushalt 2025 den Segen der Ausschussmitglieder für Lindners Umstrukturierungsvorschläge bringen wird, ist ebenso ungewiss wie die Frage nach einem tragfähigen Haushalt überhaupt.
Weniger Geld für subsidiär Schutzberechtigte
Lindner verlangt zudem eine „Wende in der Asyl- und Arbeitsmarktpolitik“: Für subsidiär Schutzberechtigte solle ein eigener Rechtskreis geschaffen werden, der den Betroffenen zwar den Zugang zum Arbeitsmarkt ermögliche, aber niedrigere staatliche Leistungen zuspreche.
Kosten für Miete und Heizung sollen nach den Vorstellungen Lindners nur noch pauschal gewährt werden, statt über eine einzelfallbezogene Abrechnung. Für Wohnungsgrößen sollen bundesweit einheitliche Obergrenzen gelten. Alles Forderungen, die mit den Sozialpolitikern der SPD in den vergangenen Jahren nicht durchzusetzen waren.
Sechsaugengespräche gestartet
In den Mittagsstunden des 4. November trafen sich Lindner und Habeck auf Einladung des Bundeskanzlers erstmals seit Wochen wieder. Es soll nach Informationen der „Bild“ aber nicht das letzte Treffen des Trios unter sechs Augen sein. Ob es im Anschluss eine neue Wasserstandsmeldung geben wird, war zum Redaktionsschluss unklar.
Bis zum Mittwoch, 6. November, will der Kanzler nach Informationen der „Bild“ jedenfalls entscheiden, ob es sich noch lohnt, weiter mit Lindner zu verhandeln. Dann könnte die Ampel anlässlich ihres schon länger anberaumten Treffens im Koalitionsausschuss entweder weißen Rauch aufsteigen lassen – oder doch noch vorzeitig aufgeben. Die US-Präsidentschaftswahl vom 5. November könnte den Druck auf alle Beteiligten zusätzlich erhöhen.
vielen Dank, dass Sie unseren Kommentar-Bereich nutzen.
Bitte verzichten Sie auf Unterstellungen, Schimpfworte, aggressive Formulierungen und Werbe-Links. Solche Kommentare werden wir nicht veröffentlichen. Dies umfasst ebenso abschweifende Kommentare, die keinen konkreten Bezug zum jeweiligen Artikel haben. Viele Kommentare waren bisher schon anregend und auf die Themen bezogen. Wir bitten Sie um eine Qualität, die den Artikeln entspricht, so haben wir alle etwas davon.
Da wir die Verantwortung für jeden veröffentlichten Kommentar tragen, geben wir Kommentare erst nach einer Prüfung frei. Je nach Aufkommen kann es deswegen zu zeitlichen Verzögerungen kommen.
Ihre Epoch Times - Redaktion