Schriftsteller Robert Menasse erfindet Hallstein-Rede in Auschwitz
„In den Theorien des historischen Wissens und der literarischen Fiktion wie im öffentlichen moralischen Bewusstsein ist Auschwitz der Inbegriff der Tatsache, mit der man nicht spielt“, schreibt Patrick Bahners in der FAZ.
In Zeiten einer zunehmenden Infragestellung jahrzehntelang unangefochtener westlicher Funktionseliten ist dieser Konsens zunehmend ins Wanken geraten. Nicht nur der „Nazi“-Vorwurf wird im politischen und vorpolitischen Diskurs immer inflationärer gebraucht – bis hin zur jüngst von ZDF-Korrespondentin Nicole Diekmann auf Twitter aufgestellten Definition, ein solcher sei bereits „jeder, der nicht die Grünen wählt“.
Auch die Hemmschwelle dazu, Auschwitz als das Sinnbild des ultimativen Zivilisationsbruchs für beliebige politische Zwecke auszubeuten, ist in den letzten Jahren spürbar gesunken. Vom damaligen Bundesaußenminister Joschka Fischer, der die Intervention der NATO im Kosovo-Krieg 1999 als Weg zur Verhinderung eines neuen Auschwitz verkaufte bis hin zu Vergleichen des nationalsozialistischen Vernichtungslagers mit der Situation in Aleppo 2016 oder gar mit der Situation im Gazastreifen zeigte sich die diesbezügliche Schamgrenze bei Politikern und Intellektuellen als zunehmend porös.
Dass der österreichische Schriftsteller Robert Menasse – wie jüngst in seinem Roman „Die Hauptstadt“ – Auschwitz als letzthin logische Folge des Nationalstaats darstellt und die Europäische Kommission als einzig mögliche Antwort darauf sieht, ist vor diesem Hintergrund möglicherweise nicht einmal die heikelste Form der Instrumentalisierung.
„Europäische Republik“ als neues Heilsversprechen
Zwar lässt er offen, was dafür spräche, postchristlichen Europäern, die, wie es Dinesh d’Souza beschreibt, unter dem Banner säkularer Ideologien ihre über Jahrhunderte durch das Christentum eingehegte Eroberer-Ethik auf die Spitze getrieben und durch eine totalitäre Vernichtungslogik angereichert hatten, nun auch noch das Instrument eines mächtigen Zentralstaats in die Hand zu geben.
Für Menasse ist aber nun mal weder eine enthemmte Eroberungs-Ethik noch das Bestehen totalitärer politischer Heilslehren der Kern des Problems, sondern der Nationalstaat als Organisationsform. Und deshalb ist die Europäische Kommission für ihn keine elitäre, bürgerferne und selbstreferenzielle Bürokratie, sondern eine Heilsbringerin, die Europas Bürger notfalls zu ihrem Glück, in einer künftigen „Europäischen Republik“ leben zu dürfen, zwingen müsse.
Als Kronzeugen benennt Menasse dabei Walter Hallstein, den ersten Präsidenten der Kommission der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Mehrfach sprach Menasse auch anlässlich von Preisverleihungen dessen visionäre Kraft an und zitiert aus dessen – symbolträchtiger könnte es kaum noch gehen – „Antrittsrede 1958 auf dem Gelände des Vernichtungslagers Auschwitz“, an dem Ort, wo man sehe, „wohin der Nationalstaat geführt“ habe. Unter anderem geschah dies 2017 bei der Verleihung des Deutschen Buchpreises in Tübingen.
Bereits 2013 schrieb Menasse zusammen mit seiner Mitstreiterin Ulrike Guérot, die nationale Souveränität sei „eine Illusion“, und zitierte Hallstein mit dem Satz, den dieser späteren Schilderungen zufolge in Auschwitz gesagt haben soll und der lautete: „Die Abschaffung der Nation ist die europäische Idee.“
In weiteren Essays erwähnte Menasse noch zwei ähnlich lautende Hallstein-Zitate, wonach „das Ziel des europäischen Einigungsprozesses […] die Überwindung der Nationalstaaten sei, sowie jenes, das gelautet habe: „Ziel ist und bleibt die Überwindung der Nation und die Organisation eines nachnationalen Europa.“
Historiker schrieb bereits 2017 von „postfaktischer Geschichtsbetrachtung“
Wie immer man zu der These, eine weitreichende europäische Integration sei nach Auschwitz eine zwingende Notwendigkeit, stehen mag: Der erste Kommissionspräsident Walter Hallstein hat weder die Aussagen getroffen, die Menasse ihm zuschreibt, noch hat er 1958 in Auschwitz eine Rede gehalten. Gegenüber der „Welt am Sonntag“ musste der Autor wenige Tage nach Bekanntwerden des Relotius-Skandals im „Spiegel“ dies auch einräumen.
Schon 2017 trat der Historiker Heinrich August Winkler im „Spiegel“ unter der Überschrift „Europas falsche Freunde“ Menasses Bestrebungen entgegen, die Nationalstaaten abzuschaffen, und erklärte: „Zu den Besonderheiten Europas gehört seine historisch gewachsene nationale Vielfalt. Wer die Nationalstaaten abschaffen will, zerstört die Gemeinschaft und fördert den Nationalismus.“
Zudem zog er in Zweifel, dass die vermeintlichen Hallstein-Zitate zur Überwindung des Nationalstaates, die Menasse und Guérot verwendet hatten, tatsächlich authentisch wären. „In den Reden und Schriften Walter Hallsteins sind diese Aussagen nicht zu finden“, betonte Winkler. Auch in den Reden des früheren Kommissionspräsidenten vor dem Europäischen Parlament 1958 und vor dem Europäischen Gemeindetag 1964, die Menasse angesprochen habe, ließen sich diese nicht feststellen – nicht einmal sinngemäß.
Hallstein habe zwar von einer „Staatengemeinschaft mit starken föderativen Zügen“ gesprochen und die „heutige politische Form der Nationen“ infrage gestellt, allerdings auch einem „europäischen Supranationalstaat“ eine Absage erteilt. Er habe vielmehr dafür plädiert, die „Kraftquellen der Nationen zu erhalten, ja sie zu noch lebendigerer Wirkung zu bringen“. Winkler schrieb weiter:
Falls Guérot und Menasse sich auf Quellen stützen können, die der bisherigen Forschung nicht bekannt waren, sollten sie diese nennen. Solange es keine belastbaren Belege für die Hallstein zugeschriebenen Zitate gibt, müssen diese als apokryph, das heißt als unecht, gelten. Die Lesart vom post-, ja antinationalen EU-Vorkämpfer Hallstein dürfte eine Legende oder, anders gewendet, Ausfluss einer postfaktischen Geschichtsbetrachtung sein.“
Vergessene Rede eines Adenauer-Vertrauten auf dem Territorium eines sozialistischen Staates?
Damit nicht genug, hat nun auch, wie die FAZ berichtet, der Historiker Hans-Joachim Lang, ein Fachmann für die Geschichte der nationalsozialistischen Medizinverbrechen, die von Menasse aufgestellte Behauptung, Hallstein habe seine Antrittsrede 1958 auf dem Gelände des Vernichtungslager Auschwitz gehalten, als unwahr entlarvt.
Lang, der 2017 in Tübingen im Publikum saß, ließ sich die 1979 erschienene Sammlung „Europäische Reden“ Hallsteins aus der dortigen Universitätsbibliothek zukommen – die allerdings ausgerechnet diese angebliche Antrittsrede nicht enthielt. Eine Anfrage an den Autor selbst über Facebook ließ dieser unbeantwortet. Auch das Historische Archiv der EU in Brüssel teilte Lang nach Rücksprache mit dem Bundesarchiv in Koblenz mit, über keinerlei Anhaltspunkte für das tatsächliche Stattfinden einer solchen Rede zu verfügen. Archive von Zeitungen oder Rundfunkstationen zu konsultieren, die einen solchen historischen Anlass ohne Zweifel dokumentiert hätten, erübrigte sich vor diesem Hintergrund.
Bereits die politischen Rahmenbedingungen der damaligen Zeit – fünf Jahre zuvor hatten sowjetische Panzer den Aufstand des 17. Juni in der DDR niedergewalzt, zwei Jahre zuvor den Ungarnaufstand – hätten gegen einen solchen Auftritt gesprochen. Es war eine Phase der Verhärtung der Fronten im Kalten Krieg.
Hallstein wurde von Kanzler Konrad Adenauer bereits Anfang der 1950er Jahre zum Leiter der bundesdeutschen Delegation bei der Pariser Konferenz für die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) berufen. Er hatte eine Doktrin begründet, deren Ziel es war, eine Anerkennung der DDR zu verhindern. Zudem war Hallstein, obwohl er nicht als übermäßig regimetreu galt, Mitglied mehrerer nationalsozialistischer Vorfeldorganisationen wie des NS-Rechtswahrerbundes oder des NS-Dozentenbundes, angeblich seit 1934 auch der NSDAP. Bereits dies hätte aber damals schon ausgereicht, um von der kommunistischen Propaganda zum Sinnbild für die „faschistische Kontinuität“ in der Bundesrepublik Deutschland unter Adenauer stilisiert zu werden.
Für Patrick Bahners steht fest:
Dass mitten im Kalten Krieg dieser erste oberste Beamte des westeuropäischen Staatenbundes seine Antrittsrede auf dem Boden der Volksrepublik Polen gehalten haben könnte, ist viel unwahrscheinlicher als jedes erlogene Augenzeugnis von Claas Relotius. Es ist, nach allen Maßstäben historischen Wissens und historischer Logik, schlicht unmöglich. Aber keiner der Interviewer, denen Menasse das Märchen erzählte, fragte nach.“
Ein Dichter darf das?
Menasse selbst rechtfertigte sich mit der Darstellung, die Zitate seien dem Sinn nach korrekt: „Was fehlt, ist das Geringste: das Wortwörtliche.“ Zudem sei sein freihändiger Umgang mit Quellen tatsächlich „nicht zulässig – außer man ist Dichter und eben nicht Wissenschaftler oder Journalist“.
Auch seine Kollegin Ulrike Guérot wies den Vergleich der offenbar erfundenen Rede in Auschwitz und der erdichteten Zitate mit dem Fall Relotius zurück, auch wenn sie ihr Bedauern darüber äußerte, die Authentizität der angeblichen Hallstein-Aussagen als Wissenschaftlerin nicht überprüft zu haben.
Sie erklärte gegenüber der „Welt“, das, was der Schriftsteller getan habe, um eine Debatte zu provozieren, sei „nicht so schlimm wie der Skandal um die gefälschten Reportagen des Spiegel-Journalisten Claas Relotius oder die Affäre um den einstigen Bundesminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU), dessen Doktorarbeit nachträglich als Plagiat entlarvt wurde“.
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