Iran: „Sinwar ist Vorbild für Jugend“ – Experten sehen keine Kapitulation der Hamas
Der „Widerstand gegen Israel“ im Gaza-Streifen werde nicht einfach nachlassen, „nur weil eine Person getötet wurde“, zitierte die Nachrichtenagentur „Reuters“ in einem Beitrag vom 18. Oktober einen Palästinenser vor Ort. Die Tötung des obersten Hamas-Führers im Gazastreifen durch eine israelische Patrouille „wird nicht zum Ende des Widerstands oder zu einem Kompromiss oder einer Kapitulation und dem Hissen der weißen Flagge führen. Der Kampf der Palästinenser wird weitergehen.“
Diese auf den Straßen von Gaza-Stadt eingefangene Volksstimme deckt sich mit der Einschätzung einiger namhaften Kennern der Palästinenser.
„Hamas wird nicht zusammenbrechen“
Der ehemalige israelische Geheimdienstexperte Danny Citrinowicz, Mitglied des Washingtoner Thinktanks Atlantic Council, ist überzeugt, dass „Sinwars Tod nicht Israels strategische Probleme lösen“ werde. In einem Onlinebeitrag vom 18. Oktober fordert er deshalb eine Änderung der „aktuelle Politik der israelischen Regierung“. Wenn Israel seine derzeitige Strategie fortsetze, Teile des Gazastreifens zu halten und dort möglicherweise sogar Siedlungen zu errichten, wie einige israelische Minister fordern, werde es trotz der Zäsur durch die „Beseitigung von Sinwar in naher Zukunft keine dramatischen Veränderungen geben“. Und weiter: „Man kann mit Sicherheit sagen, dass die Hamas auch nach Sinwar nicht zusammenbrechen wird. Somit wird der Krieg weitergehen, ohne dass eine politische Lösung in Sicht ist.“
Ähnlich äußerte sich die freie Nahostexpertin Alia Brahimi, bekannt für ihre politikwissenschaftlichen Studien an der Universität Oxford und der London School of Economics of Political Science: Sie hält es für „unwahrscheinlich, dass Israels Waffen bald verstummen“. Und weiter: „Was als Jagd auf Sinwar und Rache für die Anschläge vom 7. Oktober begann, hat sich zu einem weitreichenden Versuch Israels entwickelt, die Kontrolle über das Westjordanland und den Gazastreifen grundlegend neu zu gestalten, den Iran zu schwächen und die Region gewaltsam neu zu gestalten.“ Dadurch werde das Leben Tausender Zivilisten sowie die langfristige Aussicht auf Normalität und Frieden gefährdet“, ist Brahimi überzeugt.
Karim Mezran, Nordafrika-Experte des Washingtoner Rafik Hariri Center and Middle East Programs äußerte in einem Onlinebeitrag für den Atlantic Council: Die „Brutalität“ der israelischen Armee, „auch wenn sie kurzfristig als vorteilhaft angesehen werden kann“, werde „auf längere Sicht nur zum Aufstieg einer weiteren Generation von Terroristen führen, die von dem Wunsch nach Rache und Hass für alle in der Welt erfüllt sind, auf eine Welt, die ihnen nicht zur Seite stand“. Israel habe kurzfristige Gewinne gegen langfristige Verluste eingetauscht, ist sich Mezran sicher.
Iran: „Geist des Widerstands wurde gestärkt“
Die vom Iran aufgestellte und finanzierte schiitische Hisbollah-Miliz im Libanon kündigte heute laut Medienberichten an, dass sie nun in eine neue und eskalierende Phase ihres Kampfes gegen Israel übergehen werde. Was genau die Hisbollah mit dieser Ansage meint, gab sie nicht bekannt. In der jüngsten Vergangenheit sprach sie jedoch schon mehrfach von einer „weiteren Eskalation“, die sich dann zumeist auf eine Steigerung von Raketenbeschuss auf Israel bezog.
Die iranische Vertretung bei den Vereinten Nationen veröffentlichte in der Nacht ein Statement auf der Plattform X, in dem behauptet wird, „die letzten Momente von Sinwar“ würden „ein Modell für den Widerstand gegen Israel sein. Wenn Muslime zu dem Märtyrer Sinwar aufschauen, der auf dem Schlachtfeld steht – in Kampfkleidung und im Freien, nicht in einem Versteck, dem Feind gegenüberstehend – wird der Geist des Widerstands gestärkt“, zitierte der katarische Fernsehsender „Al-Jazeera“ aus der iranischen Erklärung. Und weiter:
„Er wird ein Vorbild für die Jugend und die Kinder sein, die seinen Weg zur Befreiung Palästinas vorantreiben werden. Solange Besatzung und Aggression bestehen, wird der Widerstand andauern, denn der Märtyrer bleibt lebendig und eine Quelle der Inspiration.“
Warum wird Sinwar zum Märtyrer?
In der arabischen Welt ist man beim Tod eines Soldaten oder auch Terroristen schnell mit der Bezeichnung „Märtyrer“ bei der Hand. Im Fall Jahja Sinwar erfährt der Begriff nun sogar eine Überhöhung, da er im Gefecht mitten in Gaza mit israelischen Truppen ums Leben kam und nicht im Tunnelsystem aufgespürt wurde – sich also nicht „feige“ versteckt hat. Zudem brauchte die israelische Armee einen Panzer, um Sinwar zu töten. Und er verteidigte sich, schwer verwundet, in den letzten Minuten seines Lebens sogar noch mit einem Holzstock gegen eine Drohne. Mit der Veröffentlichung dieser Details hat sich die israelische Armee einen Bärendienst erwiesen. Unter Palästinensern wird dieser Kampf bis zum Schluss nun als „heroisch“ wahrgenommen. Und so ist der Begriff Märtyrer auch zu verstehen: nicht im religiösen Sinn, sondern als Synonym für „Held“.
Schicksal der Geiseln bleibt ungewiss
Die israelische Vereinigung von Familien der Geiseln in der Hand der Hamas hat zwar den Tod Sinwars „begrüßt“, forderte aber umgehend von der israelischen Regierung, die Beseitigung des Hamas-Chefs als Chance zu nutzen, einen Waffenstillstand in Gaza herbeizuführen, um dadurch die Freilassung der Geiseln zu ermöglichen. In vielen arabischen Medien wird übrigens nicht von Geiseln gesprochen, sondern von „Gefangenen“; ein deutlicher semantischer Hinweis darauf, dass man den Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023 nicht als Terrorakt, sondern als militärische Aktion der Hamas versteht.
Karim Mezran glaubt, dass das Schicksal der israelischen Geiseln in Hamas-Hand weiterhin ungewiss bleibt. Nachdem nun die gesamte operative Top-Führung der Hamas ausgelöscht worden sei, hätten die Geiseln möglicherweise eine Chance, zu fliehen. „Andererseits könnte das Schicksal der Geiseln nun aber auch besiegelt sein.“ Zum einen gebe es seiner Meinung nach niemanden mehr, der über ihre Freilassung verhandeln könne. Und es bestehe auch die Gefahr, dass die verbliebenen Hamas-Unterführer der mittleren Ebene „versucht sein könnten, die Geiseln zu eliminieren, um ihre eigene Identität vor möglichen Vergeltungsmaßnahmen der israelischen Streitkräfte zu schützen“.
Wäre Ende Gaza-Krieg auch Ende Hisbollah-Krieg?
Danny Citrinowicz, Mitglied des Washingtoner Think Tanks Atlantic Council, fasst Gedanken einer Lösungsstrategie für den Nahostkonflikts zusammen, die auch von der amerikanischen Regierung und zahlreichen Diplomaten geteilt werden:
Um Sinwars Beseitigung positiv nutzen zu können, müsse Israel seine Strategie in Gaza überdenken. Citrinowicz: „Das bedeutet in erster Linie, ein Waffenstillstandsabkommen zu erreichen und gleichzeitig der Palästinensischen Autonomiebehörde [in Ramallah, Westjordanland] die Rückkehr nach Gaza zu ermöglichen, damit sie die Kontrolle über alle zivilen Aktivitäten übernehmen kann.“ Dieser Schritt würde es auch den gemäßigten arabischen Golfstaaten ermöglichen, ihr Engagement beim Wiederaufbau des Gazastreifens zu verstärken. Zudem könne es das Image Israels wieder verbessern.
Der regierungskritische israelische Nahostexperte glaubt zudem: „Ein Waffenstillstand in Gaza wird auch zum Ende der Feindseligkeiten mit der Hisbollah entlang der Nordgrenze Israels führen und natürlich zur Freilassung von Geiseln.“
Das Wirken Sinwars über seinen Tod hinaus
Den Expertenmeinungen ist durchweg zu entnehmen: Den Gaza-Krieg mittels militärischer Aktionen seitens Israels zu beenden, bleibt ein Trugschluss. Solange das Schicksal der Palästinenser nicht sowohl im Gaza-Streifen als auch im Westjordanland mit der Gründung eines eigenen Staates gelöst wird, wird es immer wieder neue nachwachsende Gruppierungen von Palästinensern geben, die um ihr Recht auf Selbstbestimmung mit Gewalt kämpfen werden. Das als „märtyrerhaft“ wahrgenommene Ende Sinwars wird junge Palästinenser genau dazu als Vorbild dienen. Insofern hat Sinwar im übertragenen Sinn überlebt.
Über den Autor:
Tom Goeller ist Journalist, Amerikanist und Politologe. Als Korrespondent hat er in Washington, D.C., und in Berlin gearbeitet, unter anderem für die amerikanische Hauptstadtzeitung „The Washington Times“. Seit April 2024 schreibt er unter anderem für die Epoch Times.
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