Schriftsteller Menasse räumt unechte Hallstein-Zitate ein: „Was kümmert mich das `Wörtliche`, wenn es mir um den Sinn geht“
Der österreichische Schriftsteller Robert Menasse („Die Hauptstadt“) hat mehrere Zitate des früheren CDU-Europapolitikers Walter Hallstein erfunden. Hallstein habe es „nie so zugespitzt“ gesagt, „man müsste lange Passagen zitieren, um diese Position ableiten zu können“, räumte Menasse in der „Welt am Sonntag“ ein.
Menasse hatte sich auf Hallstein, der 1958 erster Kommissionspräsident des EU-Vorläufers Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) wurde, in vielen Artikeln, Essays und Reden berufen, um seine Forderung nach einer Überwindung der Nationen zu unterstreichen.
Der Interpretation, Hallstein habe die Nationen überwinden wollen, widerspricht der renommierte Historiker Heinrich August Winkler, der sich intensiv mit dem CDU-Politiker befasst hat. Zwar habe Hallstein der „nationalstaatlichen Souveränität alten Stils“ eine Absage erteilt, aber zugleich gefordert, die „Kraftquellen der europäischen Nationen zu erhalten, ja sie zu noch lebendigerer Wirkung zu bringen“, sagte Winkler der „Welt am Sonntag“.
Die vermeintlichen Hallstein-Zitate fanden Aufnahme in Aufsätze, Bücher und Debatten. Menasse ließ Hallstein zum Beispiel „in seiner römischen Rede“ von 1964 sagen: „Was immer wir in den neu geschaffenen europäischen Institutionen beschließen und durchzusetzen versuchen, Ziel ist und bleibt die Organisation eines nachnationalen Europas.“ Das zweite unechte Zitat: „Das Ziel des europäischen Einigungsprozesses ist die Überwindung der Nationalstaaten.“
Menasse: Aber Hallstein habe das sagen wollen, was er ihm in den Mund gelegt habe
Schließlich: „Die Abschaffung der Nation ist die europäische Idee!“ Mit Verweis auf letzteres Zitat hatte Menasse 2013 in einem Aufsatz mit der Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot geschrieben, das sei „ein Satz, den weder der heutige Kommissionspräsident noch die gegenwärtige deutsche Kanzlerin wagen würde auszusprechen. Und doch: Dieser Satz ist die Wahrheit“.
Hallstein habe allerdings das sagen wollen, was er ihm in den Mund gelegt habe, versicherte Menasse in der Zeitung: „Die Quelle (Römische Rede) ist korrekt. Der Sinn ist korrekt. Die Wahrheit ist belegbar. Die These ist fruchtbar. Was fehlt, ist das Geringste: das Wortwörtliche.“
Bezogen auf dem Hallstein zugeschriebenen Satz zum „nachnationalen Europa“, erklärte Menasse, nach den „Regeln von strenger, im Grunde aber unfruchtbarer, weil immer auch ideologisch gefilterter Wissenschaft“ sei das Zitat „nicht `existent`“.
Diese Form des Zitierens ist „nicht zulässig, außer man ist Dichter“
Es sei dennoch korrekt, und werde auch durch andere Aussagen von Hallstein inhaltlich gestützt. „Was kümmert mich das `Wörtliche`, wenn es mir um den Sinn geht“, so der Schriftsteller weiter. Er habe „eine Diskussion provoziert und einen Denkraum des notwendig Möglichen eröffnet, den es vorher nicht gab, einfach dadurch, dass ich eine Autorität zu meinem Kronzeugen erklärt habe, der nichts dagegen gehabt hätte“, so Menasse weiter, der 2017 für seinen EU-Roman „Die Hauptstadt“ mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde.
Seine Form des Zitierens sei in der Tat „nicht zulässig – außer man ist Dichter und eben nicht Wissenschaftler oder Journalist“. Menasse weiter: Wenn er „Hallstein als Kronzeugen für die vernünftigerweise bewusst gestaltete nachnationale Entwicklung Europas brauche, dann lasse ich ihn das sagen, auch wenn es nicht den einen zitablen Satz von ihm gibt, in dem er das sagt – aber doch hat er es gesagt!“ (dts)
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