Zart, kraftvoll, beschwingt, herzlich: die Akkordeonale
Voll ist sie, die Passionskirche in Berlin-Kreuzberg am Marheinekeplatz. Bei Ankunft fragt ein interessierter Mann angesichts der Menschenschlange, die sich vor der Kirche gebildet hat, was denn hier heute los sei. „Ein Akkordeonkonzert im Rahmen der Akkordeonale, ein bundesweites Festival, welches heute hier gastiert“, weiß ich zu berichten. Die eigene gespannte, durchaus freudige Erwartung ist aus meiner Stimme zu hören.
Nach drei Jahren Zwangs-Corona-Pause hat Servais Haanen zum zwölften Mal ein Ensemble ganz unterschiedlicher Künstlerpersönlichkeiten zusammengestellt. Er begrüßt mit einem „Hallo Freunde, salut mes amis“. Die Reaktion des Publikums zeigt, dass wohl einige nicht zum ersten Mal auf der Akkordeonale sind.
Dementsprechend stimmungsgeladen ist der Saal. Töne, Worte, Augen-Blicke lassen uns für die nächsten zweieinhalb Stunden im gemeinsamen Boot sitzen, an das die Emotionswellen schlagen. Haanen fächert mit seiner Moderation das Kaleidoskop der unterschiedlichen Vitae und Charaktere der Musiker auf. Und das mit unschlagbar trockenem Humor.
Vielfalt und ohne Grenzen
Meine Augen bleiben an den sehr unterschiedlichen Akkordeons hängen – jedes in seiner Ästhetik bestechend. Da sind die beiden großen Knopfakkordeons des Slowenen Juri Tore und der Französin Zabou Guérin. Der ungeheure Tonumfang beeindruckt. Eine ganze Welt seufzt, vibriert, spricht geradezu aus den windgezogenen Harmonikas. Daneben die beiden kleineren von Aïcha Touré und Servais Haanen. Alle in elegantem Schwarz.
Heraus sticht ein kleines, holzfarbenes Akkordeon. Und natürlich der Basse aux Pieds (Fußbass), eine belgische Erfindung, die mich an Kirchenorgeln denken lässt. Denn auch hier bedarf es der Füße, um ihn klingen zu lassen. Zusammen mit dem Musette de Cour – dem Barock-Dudelsack – transportiert das belgisch-französische Paar Benjamin Macke und Birgit Bornauw Lebensfreude pur.
Servais Haanen bemerkt in seiner Moderation, dass dies „Barockmusik in der Kofferversion“ sei und ruft die Hochzeitsbilder Breughels vor unser inneres Auge, bei denen diese Dudelsäcke zum Tanz aufspielen. Die Form des Dudelsacks mutet mich dabei wie eine Gans an, der, unter den Arm geklemmt, auf virtuose Weise singende, tanzende Töne entlockt werden.
Facettenreicher Reigen
Das Cello von Johanna Stein und diverse Perkussionsinstrumente bringen mit ihren anderen Klangfarben Volumen und Abwechslung.
Wenn dann alle sieben Musiker zusammen zu hören sind, entstehen regelrechte Klangbilder: Da segelt akustisch auf einmal ein Dreimaster samt knarrenden Balken, Meeresrauschen und Mövengekreisch durch den fast quadratischen Kirchenraum aus massiven Backsteinen. Würde mich interessieren, wie es sich ohne elektronische Verstärkung anhört, geht es mir durch den Kopf.
Meist sind es eigene Kompositionen, die zum Leben erweckt werden und zu persönlichen inneren Reisen einladen. Wie zum Beispiel das Stück „Erwachen“, gewidmet dem zweieinhalbjährigen Patenkind von Guérin. Es ist nicht das einzige Mal an diesem Abend, dass meine Wangen tränennass sind.
Bei Aïcha Tourés Chansons kommen die gesungenen Worte dazu: „Je danse avec toi“ skizziert die Vision einer eigenständigen Liebesbeziehung ohne Abhängigkeiten. Es sind diese grundsätzlich menschlichen Themen, die die vielfältige Künstlerin aus Gabun interessieren. Das den Menschen Einende zu finden, in unserer Unterschiedlichkeit. Der Wunsch nach Glück, Gemeinsamkeit, Frieden, den wohl jeder kennt, aus welcher Ecke der Welt er oder sie auch kommt. Dies in unterschiedlichen Geschichten zu besingen und das den Menschen Verbindende herauszuschälen, ist das Anliegen der jetzt in Paris beheimateten Musikerin.
„Es gibt nur eine Hauptperson auf der Bühne …
… und die heißt Musik“, stellt Johanna Stein fest, gefragt nach dem, was sie antreibt in Ihrer Arbeit. Diese Hingabe lebt die Cellisten quasi in jedem Moment Ihres Bühnenspiels. Im Duett mit Zabou Guérin wirkt diese Spielfreude und die Lust in der Musik zu verschmelzen, geradezu elektrisierend auf alle, die teilhaben dürfen. Beide Musikerinnen suchen immer wieder den Augenkontakt. Die Gesichter sind dabei ganz offen, voll positiver Strahlkraft.
Dann ein Moment, in dem die sprichwörtlich fallende Nadel zu hören ist: „Deutschland ist ein wunderschönes Land, und wir sollten froh sein, hier leben zu dürfen“, wird Johanna Stein, einzige Deutsche auf der Bühne, in der Moderation zitiert. Für einen Moment ein großes, gemeinsames Ausatmen, das angespannte Schultern sinken lässt.
Und weiter im persönlichen Gespräch: „Dass hier nicht nur die Kultur stattfinden darf, sondern dass die Leute auch kommen, wir sind jeden Abend fast ausverkauft.“ Wer kann behaupten, Kunstschaffende seien nicht systemrelevant?
Musikalisches Abenteuer
Das Programm wird von Servais Haanen und Managerin Kristine Talamo-Spiegel in Abstimmung mit den Musikern zusammengestellt. Dabei ist dann die erste Aufführung auch für alle eine Entdeckung, denn die Musiker hören sich mit ihren Soli gegenseitig das erste Mal. Das Beglückende ist für Benjamin Macke das Zusammenwachsen als Team: Die gegenseitige Achtsamkeit, auf alle Stimmungen und Töne zu hören, und jetzt sagen zu können, dass nach einer Woche Tournee die fremden Kollegen zu Freunden wurden.
Und das Publikum, rund 550 Menschen, atmet den Rhythmus der Musiker mit, staunt, klatscht. Es ist diese Lebendigkeit, die begeistert und die Magie des Moments, die nur im gemeinsamen Erleben entstehen kann. „Es geht nicht so sehr darum, was denn alle genau können, aber dass alle miteinander können“, merkt Servais Haanen, bezogen auf die Tournee und das gemeinsame Bühnenspiel, mit einem Lächeln an.
Gleichzeitig bleibt der Focus darauf, beständig besser zu werden, zusammen besser zu werden. „Sodass die Menschen berührt werden. Das lässt einen weitermachen, trotz all der Selbstzweifel und Fragen, ob man gut genug ist, ob nicht jemand anderes es besser machen könnte. Solange man selbst fühlt, dass man es machen möchte, bleibt es positiv“, erzählt Birgit Bornauw. Gefragt, wie es sei, mit ihrem Mann unterwegs zu sein, bestätigt sie: „Als Paar zu arbeiten ist sehr schön, es vereinfacht vieles, man ist sich nah.“
Rundum gesättigt
Nach stürmischem Applaus und zwei Zugaben trete ich in die laue Frühlingsnacht Berlins hinaus. Innerlich singe ich noch das letzte Stück, welches zu hören war: der Friedenstanz „Forêts paisibles“ aus der Ballettoper „Les Indes galantes“ von Rameau – so kraftvoll, so lebensbejahend.
Schön, dass dieses Ensemble auf Zeit noch bis 16. Mai so gut wie jeden Abend Menschen beglückt: u.a. in Dresden, Dortmund, Kassel, Leipzig. Aber auch in kleineren Orten wie Pforzheim, Fürstenfeldbruck, Ansbach. Denn das ist der Motor, so Benjamin Macke: „Die Verbindung mit den Menschen, zwischen den Musikern und zum Publikum, das gehört zum Mensch-sein. Ich mache Menschen glücklich, und das beglückt mich.“
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