Woran glaubst Du, Jedermann?

Die Kraft des von Hugo von Hofmannsthal vor über 100 Jahren verfassten Stückes über die existenzielle Frage, was im Leben zählt, ist nach wie vor ungebrochen. Das anhand eines englischen Mysterienspiels geschriebene Werk wurde im Rahmen der renommierten Salzburger Festspiele nun schon bald 800-mal aufgeführt. Immer wieder in neuen Inszenierungen, immer hochkarätig besetzt.
Titelbild
Philipp Hochmair als Jedermann mit Christoph Luser als seinem Gesell und Dörte Lyssewski als armer Nachbar.Foto: SF/Monika Rittershaus
Von 20. August 2024

Mit einem gellenden Schrei flieht die Festgesellschaft vor dem netten blondgelockten Diener. Ein Diener des Herrn, der Tod selbst. Ausgesandt, die Menschen zu holen vor den Richter für die letzte Abrechnung.

Angst hat er, der Jedermann, vor diesem letzten Gericht und der Reise dorthin, die er allein antreten muss. Weiß er doch um seinen Lebenswandel, der jeglicher Moral und aufrichtiger Güte dem Leben, konkret seinen Mitmenschen gegenüber, Hohn sprach.

„Die Lehr ausspüren“

Seit der Gründung der Salzburger Festspiele 1920 ist die Aufführung des „Jedermann“ das traditionelle Herzstück des weltweit bedeutendsten Festivals für klassische Musik und darstellende Kunst. Idealerweise als Freilichtaufführung vor der phänomenalen Kulisse des Salzburger Doms mit Festung Hohensalzburg im Hintergrund – wenn nicht eines der häufigen Gewitter einen Strich durch die Rechnung macht und ins große Festspielhaus ausgewichen werden muss.

Wie an diesem Abend. So begrüßt das Portal des Doms die Zuschauer als Kulisse auf der Bühne. Regisseur Robert Carsen und Bühnen- und Kostümbildner Luis F. Carvalho entschieden sich, die wunderbare Salzburger Vorgabe pur zu nutzen und mit den Gegebenheiten vor Ort zu spielen.

Salzburger Dom als Kulisse für die alljährlichen „Jedermann“-Aufführungen im Freien. Foto: SF/Ruth Walz

Aus dem Kircheninnenraum dringt Orgelmusik, Menschen treten ins Freie. Wer schon mal durch Salzburgs Gassen am Sonntag gestreift ist oder selbst einen Gottesdienst besuchte, dem ist diese Szene vertraut. Menschen begrüßen sich, tauschen ein paar Worte aus; die Stimmung ist heiter. Man kennt sich und der Kirchgang spendete Energie und Zuversicht.

„Der Stoff ist kostbar von dem Spiel. Dahinter aber liegt noch viel. Das müßt Ihr zu Gemüt führen. Und aus dem Inhalt die Lehr ausspüren“, verkündet die Menge den Text des Spielansagers. Denn wie es im Untertitel heißt, ist es das Spiel vom Sterben des reichen Mannes.

Ein Glöcklein bimmelt. Ein Messbub hält es hoch und schellt so lange, bis die Menge ihm Aufmerksamkeit schenkt. „Herr, ich will die ganze Welt abrennen/ Und sie heimsuchen Groß und Klein,/ Die Gotts Gesetze nit erkennen/ Und unter das Vieh gefallen sein.“ Der Tod als Helfer Gottes, analog zum Ministranten als Helfer im Gottesdienst.

Party mit Discokugel

Regisseur und Bühnenbildner kommunizieren klar: Dieser „Jedermann“ ist ganz und gar im Hier und Heute angesiedelt. Die Ästhetik der legendären Bankettszene, in der Jedermann sich vor allem als verschwenderischer Gastgeber darstellen will – wer koa, der koa, wie der Bayer sagt –, ist den Partys und Festen unserer Zeit entnommen: große runde Tische, die auch zur Bühne für einen Tangotanz werden, viel Personal, viele Lichteffekte, viel Glimmer und Glitzer und viele sich aufreizend bewegende Körper.

Wäre eine solche Darstellung in den 1950er-Jahren noch skandalös gewesen, ist der Mensch heute alles andere als irritiert. Die Normalität dessen zeigt eher, wie der Jedermann jeder Generation immer tiefer in Promiskuität eintaucht, wie diese zum Alltag geworden ist.

Festgesellschaft Jedermanns: Vergnügen auf Teufel komm raus. Am Tisch sitzend Lukas Vogelsang als Dicker Vetter und Daniel Lommatzsch als Dünner Vetter. Foto: SF/Monika Rittershaus

Deleila Piasko stellt die Buhlschaft des Jedermann passend oberflächlich dar, ganz nach dem Motto: Das Leben ist eine Show. Foto: SF/Monika Rittershaus

Darunter der Wunsch, mit Tanz, Musik und Alkohol alle anderen Gefühle zu übertönen; Vergnügen und Spaß um jeden Preis. Dieser Illusion, irgendetwas zu verpassen, nicht am Leben teilzuhaben, ist wohl schon jeder mal aufgesessen. Paradoxerweise verflüchtigt sich jedoch Leben und Lebendigkeit immer mehr, umso zwanghafter die Endlichkeit zu negieren versucht wird.

Der Schuldknecht (Arthur Klemt) als sich verspekulierender Verlierer, im Rampenlicht der Öffentlichkeit mit seiner Frau (Nicole Beutler). Foto: SF/Monika Rittershaus

Bilder mit großer Kraft

Zeitweise mit rund 90 Darstellern auf der Bühne entstehen energievolle Szenen. Tänzer, Statisten, Chor füllen die Szenerie fließend und verschwinden ebenso.

Besonders beeindruckend sind zwei Bilder: zu Beginn, wenn die große, bühnenfüllende Menschengruppe zu Boden stürzt und unbewegt liegen bleibt. Nur der Tod (Dominik Dos-Reis) aufrecht zwischen ihnen. Im Gegensatz dazu am Ende, ebenfalls bühnenfüllend, ein Körper neben dem anderen liegend, doch alle weiß gewandet und in geordneter Struktur. Der Tod selbst legt sich zu ihnen.

Denn nun sind sie den Prozess der Läuterung durchgegangen, gleichsam dem Jedermann. Da es Gott nicht ums Richten geht, vielmehr wünscht er sich Einsicht, Reue, Bedauern desjenigen, der seinen Verstoß gegen die ewigen Gesetze erkennt. Diesen Schritt muss jeder Mann respektive Mensch selbst gehen, damit das Göttliche seine Güte und Barmherzigkeit zeigen kann.

Obendrein ist Jedermann nicht allein. Seine Werke und sein Glaube begleiten ihn hinab in die kühle Gruft, dort wo weder Gäste noch Familie noch Gesell noch Buhle mitgehen wollen und auch nicht können.

Mit dem Teufel auf Du und Du

Dass der Gesell alles andere als gute Gesellschaft für Jedermann ist, wird in der Schlussszene mit dem Auftritt des Teufels deutlich. Die Doppelbesetzung von Teufel und gutem Gesell mit Christoph Luser ein Regieeinfall Carsens.

Dieser Gesell hinterlässt als letzten Gruß seinem Jedermann eine Linie Koks auf goldenem Tablett und macht keinen Hehl aus seiner eigenen Geldgier. Bei jeder Gelegenheit, auch hinter Jedermanns Rücken, steckt der dieses ein. Seine äußere Hülle wandelt sich von Szene zu Szene in immer intensiveres Rot.

Zu Hochform darf dann dieser in der von Autor Hofmannsthal genial angelegten Schlussszene auflaufen. Der Teufel, sich des Jedermanns sicher, muss seine Grenzen erkennen. Ausgerechnet der Glaube kann ihn in seine Schranken weisen: „Vor dem Gericht, vor das er [Jedermann] tritt,/ Bestehen deine Rechte nit, Die sind auf Schein und Trug gestellt./ Auf Hie und Nun und diese Welt,/ Die ist gefangen in der Zeit. /Und bleibt in solchen Schranken stocken.“

Darauf Hofmannsthal seinen Teufel sagen lässt: „Mich ekelts hier, ich geh nach Haus.“ Und sich der Lacher des Publikums sicher sein kann.

Jedermann mit seinem Gesell, der sich zunehmend als der Teufel selbst entpuppt. Eine Regieidee der diesjährigen Inszenierung von Robert Carsen. Foto: SF/Monika Rittershaus

Geglückte Wandlung

Philipp Hochmair als Jedermann ist mit diesem Stoff mehr als vertraut. Mit zwei Soloinszenierungen des Jedermann ist er seit mehreren Jahren auf Tournee, 2018 sprang er ebenfalls bei den Salzburger Festspielen mit großem Erfolg für den erkrankten Tobias Moretti als Jedermann ein.

In seinem großkarierten Sakko mit den königsblauen Schuhen ist sein Jedermann ein neureicher Schnösel, der sich – als ihn Todesahnungen überkommen – schamlos vor seinen Gästen cholerischen Ausfällen hingibt. Nicht gerade ein Sympathieträger.

Zurückgeworfen auf sich selbst, sind es Verzweiflung und Angst, die ihn packen. Von Hochmair überzeugend, sprich berührend, verkörpert. In seiner Begegnung mit dem Glauben (Regine Zimmermann) und seinen Taten (Dörte Lyssewski) wird es dann ganz still.

Fragt sich nur, warum der Jedermann auch ein düsteres Militärgewand tragen muss – so wie die Figur, die seine Werke und Taten personifiziert, und zu Beginn auch als verarmter Nachbar auftritt.

Überhaupt wird es gerade dort, wo die erhellende Katharsis stattfindet, in den Kostümen eigentümlich düster und trist. Nachdem der Mammon (Kristof Van Boven) dem Jedermann seine golden gemusterten Hosen, die an Schlangenhaut erinnern, vom Leib gerissen hat, ihn also förmlich häutet, wäre dieser nur mit dem Nötigsten bekleidete Jedermann auch schlüssig gewesen. In Erwartung seines weißen Hemdes der Unschuld.

Glaube als beständige Raumpflege

Der Glaube tritt als Putzfrau auf: in sich ein schlüssiges Bild, müssen wir doch unseren Glauben ebenso regelmäßig immer wieder erneuern, auf Hochglanz bringen, ähnlich wie beim Hausputz Altlasten und angesammelten Dreck, Staub und Unrat beseitigen. In Aussehen und Verhalten ist dieser Glaube sehr alltäglich und hat so gar nichts von Über-den-Dingen-stehen. Schön jedoch, wie der Jedermann seinen Werken mit dem Scheuerhader des Glaubens die Füße säubert.

Der Mammon ist mittlerweile im offenen Cabrio mit dem gesamten Besitz des Jedermann, pardon, dem von ihm an den Jedermann geliehenen Besitz inklusive Kunstsammlung – man hört förmlich den Finanzberater „Diversifizieren Sie Ihr Vermögen“ rufen – über alle Berge. Denn wer hier wen besitzt und besetzt, ist keine Frage.

Kristof van Boven springt als Mammon aus dem Kofferraum. Jedermanns verzweifelter Versuch, seinen Besitz vor seinem Ebenbild zu retten, muss scheitern. Foto: SF/Monika Rittershaus

Ein großes Vergnügen, das einlädt, in die Tiefe zu gehen, jedes Jahr aufs Neue in Salzburg, in den letzten Jahren meist im zweijährigen Turnus mit neuer Inszenierung. Warum der letztjährigen nur eine Saison beschieden wurde, darüber mag man rätseln, hatte doch auch sie ihre Stärken.

Dieses Jahr bleiben große Bilder im Kopf und ein Tod, der ohne Grusel einfach neben uns steht.

Dominik Dos-Reis als nett lächelnder, hübscher Tod. Foto: SF/Monika Rittershaus

Der Tod als ordnende und strukturierende Macht. Foto: SF/Monika Rittershaus



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