Was steckt hinter der Magie von Live-Musik?
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Seit knapp zwei Jahren erleben wir im Zuge der Corona-Pandemie zum Teil schwerwiegende Beschränkungen beim Besuch von kulturellen Veranstaltungen in Konzerthäusern, Theatern, Opern und Museen. Während der Lockdowns haben manche Künstler ihre Musik online übertragen und in unsere Wohnzimmer gestrahlt. Aber es hat einfach etwas Magisches, Musik inmitten anderer Menschen zu sehen. Einige Musikliebhaber, die zurückhaltend abgewartet haben, eine Aufführung zu besuchen, berichteten, dass sie von den ersten Live-Aufführungen, die sie wieder sahen, so bewegt waren, dass sie vor Freude weinten.
Als Musiktheoretiker habe ich meine gesamte Berufslaufbahn damit verbracht, herauszufinden, was genau diese „Magie“ ist. Und um das zu verstehen, muss man Musik als mehr als nur Klänge betrachten, die den Hörer umspülen.
Musik ist mehr als Kommunikation
Musik wird oft als Zwillingsschwester der Sprache betrachtet. Während Worte eher Ideen und Wissen vermitteln, überträgt Musik Gefühle.
Nach dieser Auffassung senden die Interpreten ihre Botschaften – die Musik – an ihr Publikum. Die Zuhörer entschlüsseln die Botschaften auf der Grundlage ihrer eigenen Hörgewohnheiten und interpretieren so die Gefühle, die die Interpreten vermitteln wollen.
Aber wenn Musik nur Gefühle vermitteln würde, wäre ein Online-Konzert nicht anders als ein Livekonzert. Schließlich hörten die Zuhörer in beiden Fällen dieselben Melodien, dieselben Harmonien und dieselben Rhythmen.
Was also lässt sich nicht über einen Computerbildschirm erleben?
Die kurze Antwort ist, dass Musik weit mehr kann als nur kommunizieren. Gemeinsam mit anderen Menschen erlebt, kann sie starke körperliche und emotionale Verbundenheit schaffen.
Ein gegenseitiges Einstimmen
In meinem Buch „Enacting Musical Time“ stelle ich fest, dass die Zeit ein bestimmtes Gefühl und eine bestimmte Textur hat, die über die bloße Tatsache ihres Vergehens hinausgeht. Sie kann sich natürlich schneller oder langsamer bewegen. Aber sie kann auch vor Emotionen strotzen: Es gibt Zeiten, die sind düster, fröhlich, melancholisch, überschwänglich und so weiter.
Wenn wir das Verstreichen der Zeit im Kreise anderer Menschen erleben, kann daraus eine Form von Intimität entstehen, in der man sich gemeinsam freut oder trauert. Das mag der Grund sein, warum die physische Distanzierung und die soziale Isolation, die die Pandemie mit sich brachten, für so viele Menschen so schwierig sind – und warum viele Menschen, deren Leben und Routine durcheinandergeraten sind, von einer beunruhigenden Veränderung ihres Zeitgefühls berichten.
Wenn wir uns in körperlicher Nähe befinden, erzeugt unser gegenseitiges Einstimmen aufeinander körperliche Rhythmen, die uns ein gutes Gefühl geben und uns ein größeres Zugehörigkeitsgefühl vermitteln. Eine Studie hat ergeben, dass Babys, die synchron mit einem Erwachsenen zu Musik gewippt werden, dieser Person gegenüber mehr Altruismus zeigen, während eine andere Studie ergab, dass Menschen, die eng befreundet sind, dazu neigen, ihre Bewegungen zu synchronisieren, wenn sie miteinander sprechen oder gehen.
Musik ist für das Entstehen dieser Synchronisation nicht notwendig, aber Rhythmen und Takte erleichtern die Synchronisation, indem sie ihr eine Form geben.
Einerseits regt die Musik die Menschen zu bestimmten Bewegungen und Gesten an, während sie tanzen, klatschen oder einfach nur mit dem Kopf im Takt wippen. Andererseits gibt die Musik dem Publikum ein zeitliches Gerüst: wo diese Bewegungen und Gesten zu platzieren sind, damit sie mit anderen synchronisiert werden.
Der große Synchronisator
Aufgrund des angenehmen Effekts der Synchronisation mit den Menschen um einen herum unterscheidet sich die emotionale Befriedigung, die man beim Zuhören oder Zuschauen im Internet erfährt, grundlegend vom Besuch einer Live-Aufführung. Bei einem Konzert können Sie andere Menschen um sich herum sehen und spüren.
Selbst wenn die Bewegungsfreiheit eingeschränkt ist, wie bei einem typischen westlichen klassischen Konzert, spürt man die Anwesenheit der anderen.
Die Musik formt diese Masse an Menschlichkeit, gibt ihr Struktur, suggeriert Momente der Anspannung und Entspannung, des Atems, der Energieschwankungen – Momente, die sich in Bewegung und Gesten niederschlagen können, sobald die Menschen aufeinander eingestimmt sind.
Diese Struktur wird in der Regel durch Klang vermittelt, aber verschiedene musikalische Praktiken auf der ganzen Welt legen nahe, dass die Erfahrung nicht auf das Hören beschränkt ist. Sie kann auch die Synchronisation von Bildern und Gesten beinhalten.
In der musikalischen Gemeinschaft der Gehörlosen zum Beispiel ist der Klang nur ein kleiner Teil des Ausdrucks. In Christine Sun Kims „face opera ii“ – einem Stück für prälingual gehörlose Interpreten – „singen“ die Teilnehmer, ohne ihre Hände zu benutzen, und verwenden stattdessen Gesichtsgesten und -bewegungen, um Gefühle zu vermitteln.
In einigen Kulturen unterscheidet sich die Musik konzeptionell nicht von Tanz, Ritual oder Spiel. Die Blackfeet-Indianer in Nordamerika zum Beispiel verwenden das gleiche Wort für eine Kombination aus Musik, Tanz und Zeremonie. Und die Bayaka-Pygmäen in Zentralafrika haben denselben Begriff für verschiedene Formen von Musik, Zusammenarbeit und Spiel.
Viele andere Gruppen auf der ganzen Welt fassen gemeinschaftliche Aktivitäten unter demselben Begriff zusammen.
Sie alle verwenden Zeitmarker wie einen regelmäßigen Takt – sei es der Klang einer Kürbisrassel bei einer Suyá Kahran Ngere-Zeremonie oder Kindergruppen, die bei einem Handklatschspiel „Bei Müllers hat’s gebrannt“ singen –, damit die Teilnehmer ihre Bewegungen synchronisieren können.
Nicht alle diese Praktiken erinnern zwangsläufig an das Wort „Musik“. Aber wir können sie auf ihre eigene Weise als musikalisch betrachten. Sie alle lehren die Menschen, wie sie sich in Beziehung zueinander verhalten, indem sie sie anspornen, anleiten und sogar dazu auffordern, sich gemeinsam zu bewegen.
Im Takt. Als eins.
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