Was der Froschkönig lehrt: Der idealisierte Vater

Märchen sind nicht einfach nur veraltete Geschichten für kleine Kinder. Sie sind ein Kulturgut. Was verbirgt sich hinter dem Märchen vom Froschkönig? Es geht um ein Mädchen auf dem Weg zur jungen Frau.
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Ob das Märchen auf Burg Eltz bei Koblenz spielte? Keiner weiß es genau.Foto: iStock
Von 5. November 2023

Traditionelle Märchen sind wirkmächtige Erzählungen, die uns mit existenziellen Fragen konfrontieren, die archetypisch sind – also für uns als Menschen universale Gültigkeit besitzen. Und sie geben Antworten auf diese Fragen, wenn wir einen tiefen Zugang zu ihnen finden. Die tiefenpsychologische Deutung kann dabei helfen, diese Weisheit bewusstzumachen.

Dieser Artikel gibt eine Analyse des Märchens „Der Froschkönig“ aus tiefenpsychologischer Perspektive und will damit die Weisheiten, die in diesem Märchen stecken, zugänglicher machen. Das Märchen fokussiert einen bestimmten Aspekt weiblicher Initiation zur erwachsenen Frau: Die Ablösung vom Vater und dessen Geboten. Vorher kann die Freiheit nicht entstehen, sich einen wirklich passenden Partner zu wählen.

Als das Wünschen noch geholfen hat

Das Märchen beginnt mit der Einführung einer Zeit, „in der das Wünschen noch geholfen hat“. Damit zeigt es an, dass die sich abspielende Handlung einen stärkeren mythologischen beziehungsweise archetypischen Charakter hat. Das heißt, es stellt in der Handlung einen universell gültigen Prozess menschlicher Entwicklung dar.

Die Hauptfigur ist ein Mädchen, das so schön ist, dass selbst die Sonne sie bewundert. Wir erfahren es erst indirekt am Ende des Märchens, aber sie ist eigentlich eine junge Frau im heiratsfähigen Alter. Hier deutet sich auf einer tieferen symbolischen Ebene bereits die überaus enge Bindung an den Vater an, denn dieser ist als König dem symbolisch solaren Bereich zugeordnet, er ist gewissermaßen der „Sonnenkönig“.

Mit dem Gold der Sonne geht es direkt weiter, denn auch das Mädchen ist an dieses strahlende väterliche Element gebunden: Sie besitzt eine goldene Kugel, mit der sie ganz in sich versunken und man möchte sagen: selbstverliebt spielt.

Gold ist das Element, das symbolisch der Sonne zugeordnet ist. Es ist aufgrund seiner Seltenheit sehr wertvoll, es korrodiert nicht, scheint seinen Glanz auf immer und ewig zu bewahren. In der Alchemie hieß es, wer den Stein der Weisen besitzt, ist in der Lage, Gold zu machen. Die Kugel wird in Platons Timaios als ein Bild der Seele beschrieben.

Nun geht das Mädchen, wenn es heiß ist, alleine in den Wald unter eine Linde an einen Brunnen, setzt sich dort an den Rand und spielt mit ihrer goldenen Kugel.

Rückzug vor der Entwicklung

Diese Eingangsszene können wir deuten als eine junge Frau, die sich zurückzieht, um sich ganz mit sich selbst und ihrer Tiefe zu beschäftigen. Sie ist selbstgenügsam, ganz auf sich fokussiert und auf die Betrachtung ihres eigenen Wertes. Wir könnten das sogar verstehen als einen narzisstischen Rückzug, wobei hier nicht die pathologische Seite betont wird: Denn sie leidet nicht an einem mangelnden Selbstwertgefühl, das sie kompensieren muss.

Sie scheint sich noch gar nicht bewusst zu sein, dass selbst die Sonne sie so schön findet. Wo also sind ihre Freunde, ihre Verehrer? Es ist, als stünde eine Entwicklung in den Startlöchern, die noch kommen muss.

Im alltäglichen Leben könnte man sich vorstellen, dass so ein Mädchen keine goldene Kugel besitzt, sich aber vielleicht mit ihrem Smartphone in ihr Zimmer zurückzieht, um Selfies zu machen. 

Mythologisch betrachtet erinnert die Eingangsszene an den Mythos des Narziss, der – verzaubert von seinem Spiegelbild in einem Teich – sich nicht mehr davon losreißen konnte und sich in eine Narzisse verwandelte.

Der Stups aus der Erstarrung

Aber die Königstochter wird aus ihrem selbstreferenziellen Idyll gerissen. Denn sie begeht eine Ungeschicklichkeit und lässt die Kugel in den Brunnen fallen. Ihr Zustand eines naiv-kindlichen Gleichgewichts wird jäh frustriert, denn die Kugel verschwindet in den wässrigen Tiefen des Brunnens.

Dieses Unglück wird sich als Anstoß zur Entwicklung herausstellen, da sie in dem bisherigen Zustand zwar glücklich und zufrieden, aber offensichtlich auch nicht mehr altersgemäß entwickelt war und zu erstarren drohte. Sie muss sich zur reifen jungen Frau wandeln, und diesen Entwicklungsdruck stellt der Verlust der Kugel bereit.

Symbolisch bedeutet dies einen vorübergehenden Verlust der eigenen inneren Ganzheit, eine Störung des Gleichgewichts, um im Prozess einer psychischen Weiterentwicklung in eine reifere Balance zu finden. Zunächst aber trauert sie über den Verlust der Kugel und erlebt eine Situation der Hilflosigkeit.

Hilfe kommt ihr in einem Du zu, nämlich in Gestalt des Frosches, der auftaucht und sich ihr gegenüber empathisch zeigt. Der Frosch taucht aus der Tiefe des Brunnens auf und fragt die Königstochter, worüber sie denn so bitterlich weine. 

Das Symbol des Frosches ist hierbei sehr wichtig. Er ist als Amphibie mit den Wassern des Unbewussten verbunden. Er ist eine männliche Gestalt, und allein dadurch deutet sich die Entwicklungsaufgabe des Mädchens bereits an: Die Beziehung zu einem männlichen Du aufzunehmen als eine Aufgabe des Erwachsenwerdens für die meisten jungen Frauen.

Begegnung mit der Fruchtbarkeit

Aber es gibt auch einige historische symbolische Bezüge, die der Frosch aufweist, welche uns heute nicht mehr sofort geläufig sind: Froschmaul war einmal eine Bezeichnung für die Penisspitze und „fröscheln“ bedeutete etwa das Gleiche, wie das heutige „vögeln“. Im alten Ägypten war der Frosch ein wichtiges Symbol der Fruchtbarkeit. Zusammengefasst ist der Frosch also ein recht deutliches Symbol für die Begegnung der Königstochter mit der Sexualität.

Verstehen wir den Frosch als einen inneren Anteil der Seele der Protagonistin, können wir verstehen, dass der Frosch, welcher die Kugel zurückbringt, eine Begegnung mit ihrer eigenen, sich entwickelnden Sexualität darstellt, welche Teil ihres Lebens werden will und muss.

Denn der Frosch bringt nicht einfach die Kugel zurück, sondern er hat selbst Forderungen: Er will geliebt werden, Spielkamerad sein, an ihrem Tisch sitzen, aus ihrem Becherchen trinken und in ihrem Bettchen schlafen. Wie sich später zeigen wird, steht der Frosch als Frosch aber auch mit dem idealisierten Vaterbild im Bunde und muss sich selbst erst noch wandeln – oder gewandelt werden.

Die Dinge holen einen wieder ein

Die Königstochter willigt in ihrer Verzweiflung ein, gedenkt aber nicht, dem Frosch zu geben, was er will. Symbolisch gedeutet, versucht sie den aus ihrem Unbewussten aufkeimenden Entwicklungsimpuls wieder zu verdrängen. Das ist ein Prozess, der sich bei Jugendlichen durchaus wiederfindet: Manche versuchen durch Askese ihre sich entwickelnden sexuellen Impulse zu sublimieren und zu verdrängen.

Doch die Triebe kommen, um zu bleiben und wir müssen sie in unser Leben auf die eine oder andere Weise integrieren – vermeiden können wir die existenziellen Aufgaben, welche uns das Leben stellt, nicht.

Also läuft die Prinzessin mit der zurückerhaltenen goldenen Kugel los, ohne daran zu denken, ihr Versprechen einzulösen, und lässt den langsamen Frosch hinter sich und kehrt zurück ins Schloss. Aber wie es so ist im Leben, die Dinge holen einen früher oder später wieder ein.

Empty-Nest-Syndrom

So sitzt die Königstochter anderntags mit ihrem Vater und dem Gefolge am Tisch beim Essen, als es an das Tor klopft und der Frosch nach der Königstochter, der jüngsten, verlangt. Indirekt lässt sich hier auf eine nicht unbedeutende Familiendynamik schließen. Offenbar hat die Prinzessin noch ältere Geschwister. Auch scheint es keine Mutter zu geben, nur den Vater.

Wir können dahinter eine Familie vermuten, in der die älteren Geschwister bereits ausgezogen sind und die jüngste Tochter allein mit dem Vater zurückgeblieben ist. Vielleicht ist er verwitwet? Jedenfalls entsteht häufig in solch einer Dynamik ein Ablösungsproblem für die verbliebene Tochter. Die potenziell pathologische Trauer über den Auszug des letzten Kindes wird auch als „Empty-Nest-Syndrom“ bezeichnet. Zu dieser Hypothese passt zumindest der weitere Verlauf des Märchens.

Der König hört sich die Geschichte von der Königstochter an und reagiert mit: „Was du versprochen hast, das musst du auch halten.“ Also geht sie – ganz die gehorsame brave Tochter – hin und lässt den Frosch herein. Nacheinander verlangt der Frosch nun, auf dem Tisch bei ihr zu sitzen, mit ihr gemeinsam von ihrem Teller zu essen und anschließend mit ihr gemeinsam im Bett zu schlafen.

Bei der letzten Forderung regt sich Widerstand in ihr, sie weint und will sich verweigern. Wieder reagiert der Vater formal mit: „Wer dir geholfen hat, als du in der Not warst, den sollst du hernach nicht verachten.“ Man kann den erhobenen Zeigefinger förmlich sehen. Immer noch gehorcht die Königstochter und nimmt den Frosch mit in ihr Zimmer. Als sie ihn aber nicht in ihr Bett lassen will, droht er, es dem Vater zu sagen. 

Zu viel Moral

An dieser Stelle, kurz vor dem eigentlichen Höhepunkt des Märchens, wollen wir das Geschehen noch einmal genauer unter die Lupe nehmen: Der Vater reagiert hier rein moralistisch mit Aussagen wie: „Was man versprochen hat, muss man auch halten.“ Er ist – tiefenpsychologisch ausgedrückt – „über-ichhaft“, als sei er das wandelnde soziale Gewissen der Tochter.

Auch der Frosch verbündet sich mit dem Vater und droht, sie an ihn zu denunzieren. Symbolisch können wir das verstehen, dass das innere Bild vom Männlichen der Königstochter noch ganz mit dem Vaterbild identifiziert ist. Sie ist noch ganz Kind, kein bisschen abgelöst vom Vater und damit noch nicht in der psychischen Reife eine zufriedenstellende sexuelle Beziehung zu einem Mann aufzunehmen.

Wir können das verallgemeinern und feststellen: Wenn die junge Frau noch nicht vom Vater abgelöst ist, neigt sie dazu, ihr idealisiertes Vaterbild auf die Männer zu projizieren. Dann aber müssen sie ihr alle vorkommen wie garstige Frösche! Wie lässt sich das Dilemma, in dem die Königstochter steckt, lösen? Das Märchen gibt eine Antwort darauf.

Aufbegehren und ein Wunder

Als die Königstochter hört, dass der Frosch sie beim Vater denunzieren will, wird sie wütend. So wütend, dass sie den kleinen Kerl packt und mit Wucht an die Wand wirft. Statt eines toten Frosches, der an der Wand klebt, fällt aber nun ein wunderschöner junger Mann herab.

Was hat diese wundersame Wandlung bewirkt? Es ist die Aggression der Königstochter. Was zunächst rätselhaft erscheint, wird klarer, wenn wir bedenken, dass die mit dem Vater identifizierte Tochter noch keine eigene Position einnehmen kann. Sie zeigt sich kindlich gehorsam, so als könnte sich der idealisierte Vater gar nicht irren. Als der Frosch ihr droht, dem Vater alles zu erzählen, wird ihr die Verschmelzung von Frosch und Vater bewusst.

Sie reagiert mit Wut, genauer: mit Trennungsaggression. Der aggressive Akt gegen den Frosch ist eigentlich eine Trennung schaffende Aggression gegen den Vater, ein erstes Aufbegehren gegen sein formelhaftes Gebot. Damit wird einerseits die Idealisierung beendet, aber noch viel wichtiger: Die Königstochter tritt aus der Identifikation mit dem Vater heraus, sie wird eine eigenständige Frau mit einer eigenen Position.

Dann passiert das Wunder, denn die Froschprojektion auf die Männer kann von ihr zurückgenommen werden und sie sieht zum ersten Mal die Schönheit eines Mannes, welcher nicht ihr Vater ist.

Junge, reife Menschen

Das Märchen zeigt hier symbolisch zentral die Wandlung zur eigenständigen Frau, die Wandlung des Frosches ist demgegenüber zweitrangig. Von diesem erfahren wir, dass er von einer bösen Hexe verzaubert worden war und nur durch die Königstochter hätte erlöst werden können.

Die Aggression der Königstochter bewirkt also eine zweifache Trennung: ihre eigene vom idealisierten Vaterbild und diejenige ihres Liebesobjekts vom negativen Mutterbild (Hexe). Wenn die umklammernden Einflüsse der Elternbilder von den Heranwachsenden so einigermaßen abgestreift und differenziert werden können, dann werden die jungen Menschen reif für zufriedenstellende eigene Liebesbeziehungen. Nicht mehr und nicht weniger erzählt das Märchen vom Froschkönig.

Wann hören die Männer auf, als Frösche zu erscheinen?

Bleibt noch der merkwürdige Epilog des Märchens, der dem Froschkönig den Beititel „der eiserne Heinrich“ gegeben hat. Als das frisch gebackene Ehepaar am nächsten Morgen vom Diener des Königssohns mit einer Kutsche mit acht Pferden abgeholt wird, kommt es zu einer dreimaligen Unterbrechung der Fahrt: Es knallt laut und der Königssohn ruft aus: „Heinrich, der Wagen bricht!“

Worauf jener antwortet: „Nein, der Wagen nicht, es ist ein Band von meinem Herzen, das da lag in großen Schmerzen; als Ihr in dem Brunnen saßt, als Ihr eine Fretsche wast.“ Heinrich, so erzählt das Märchen, hatte sich drei eiserne Bänder um das Herz legen lassen, als er von der Verwandlung des Königssohns in einen Frosch erfahren hatte, damit es ihm nicht vor Trauer und Schmerz zerspringe.

Symbolisch können wir zunächst den Wagen mit dem Paar darin als eine neu entstandene Ganzheit deuten, verstärkt durch die Symbolik der Zahl Acht, welche für eine höhere Ganzheit kosmischer Ordnung steht, und außerdem für die Auferstehung und die Taufe im Christentum.

Die zerspringenden Bänder bringen in sehr gelungener Weise die Beendigung der emotionalen Erstarrung des Dieners zum Ausdruck. Depression und Kummer enden und die Erleichterung wird auch für die Mitmenschen deutlich spürbar. 

Die Botschaft des Märchens an die sich entwickelnde Frau können wir abschließend wie folgt zusammenfassen: Löse dich von deiner kindlichen Bindung an das idealisierte Vaterbild und du wirst frei, eine eigenständige erwachsene Frau zu sein, fähig zu lieben und geliebt zu werden. Erst dann hören die Männer auf, dir als Frösche zu erscheinen. 

Johannes Heim ist Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut sowie Co-Gründer des Hermes Instituts für private Bildung.



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