Verlorengegangene Anmut: Geschichte, Kultur und Kunst des Briefeschreibens

Der an einen besonderen Menschen gerichtete Brief ist ein physisches Zeichen, ein Stück von einem selbst. Früher wurden Gedanken für Briefe sorgfältig ausgewählt und mit Würde ausgedrückt. Was können wir noch von den alten Briefschreibern lernen?
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Briefe halten uns mit unseren Lieben in Verbindung. „Ein Brief von der Front“, 1864, von Gerolamo Induno.Foto: Public Domain
Von 9. August 2023

Am 24. Mai 1844 verschickte Samuel Morse die erste telegrafische Fernnachricht der Welt. „What hath God wrought“ (Was hat Gott bewirkt?), schrieb er. Damit veränderte er die menschliche Kommunikation grundlegend.

Die Verbindung von Elektrizität und menschlichem Erfindungsreichtum brachte als Nächstes das Telefon, danach das Internet. Im Jahr 2023 kann ein Vater, der in den Vereinigten Staaten an seinem Esstisch sitzt, eine Taste auf der Tastatur drücken und seiner Tochter in Indien eine E-Mail schicken, die dort 0,2 Sekunden später ankommt.

Jeder dieser Fortschritte hat die Notwendigkeit verringert, Nachrichten auf Papier zu schreiben und von Hand zuzustellen. Vor weniger als 40 Jahren war es üblich, einen Brief im Briefkasten vorzufinden. Heute ist das eine Seltenheit, und die „Schneckenpost“, wie sie spöttisch genannt wird, steht kurz vor dem Aussterben. In diesem modernen Wettlauf hat der Hase die Schildkröte besiegt.

Aber zu welchem Preis? Hat die Geschwindigkeit, mit der wir unsere Gedanken und Gefühle schriftlich übermitteln, auch die Tiefe der Gedanken und Überlegungen verändert, die wir einst in einem handgeschriebenen Brief ausgedrückt haben? Aus früheren Zeiten existieren öffentliche und private Briefe, die viel über ihre Absender und ihre Zeit verraten.

Einige dieser Briefe haben sogar den Lauf der Geschichte verändert. Werden unsere digitalen Notizen und Briefe in ähnlicher Weise erhalten bleiben und von künftigen Generationen wegen ihrer Gelehrsamkeit, ihres Charmes und ihres Witzes gelesen werden? Stellen sie dadurch eine gewisse Kontinuität zwischen Vergangenheit und Zukunft her?

Wenn wir Zweifel daran haben, können wir von den Schreibern aus der Zeit vor dem Internet vielleicht noch etwas lernen.

Griechische Tweets

Die Spartaner, die unerschrockenen Krieger der Antike, waren nicht gerade für ihre literarischen Fähigkeiten bekannt, aber für die Kürze ihrer Konversation. Unser Wort „lakonisch“ etwa leitet sich vom griechischen Lakonikos ab, was „aus Sparta stammend“ bedeutet.

Oft gelang es ihnen auch, Prägnanz mit Witz zu verbinden. Im Jahr 346 v. Chr. sandte Philipp II., König von Makedonien und Vater Alexanders des Großen, nach der Eroberung großer Teile Griechenlands diese Botschaft an Sparta: „Ihr solltet euch unverzüglich unterwerfen, denn wenn ich mein Heer in euer Land bringe, werde ich eure Höfe zerstören, euer Volk erschlagen und eure Stadt niederreißen.“

Die Spartaner antworteten mit einem Wort: „Wenn.“

Der Legende nach schickte Philipp später eine zweite Botschaft, in der er den Spartanern drohte und sie fragte, ob sie wünschten, dass er als Freund oder Feind in ihre Stadt einziehe. „Weder noch“, lautete die Antwort.

Briefe, die den Lauf der Geschichte veränderten

1939 unterzeichnete Albert Einstein einen Brief, der größtenteils von dem eingewanderten Wissenschaftler Leo Szilard verfasst worden war und der an Präsident Franklin D. Roosevelt adressiert wurde. Szilard warnte darin vor der Möglichkeit, dass es den Nazis gelingen könnte, eine Atombombe herzustellen. Er forderte die Regierung auf, die Arbeit an einer ähnlichen Waffe fortzusetzen. Aus diesem Brief ging das Manhattan-Projekt hervor.

Auch andere Briefe haben den Lauf der Geschichte beeinflusst. Das Zimmermann-Telegramm von 1917, in dem ein Bündnis zwischen Deutschland und Mexiko vorgeschlagen wurde, trug dazu bei, dass Amerika in den Ersten Weltkrieg eintrat, und Martin Luther Kings „Brief aus dem Gefängnis von Birmingham“ von 1963 war ein Anstoß für die Bürgerrechtsbewegung.

Die Briefe des Neuen Testaments, die an Gemeinden in Rom und Ephesus gerichtet waren, gehören zu den Grundlagen des christlichen Glaubens, und noch heute gilt der Brief des Paulus an die Korinther als Klassiker des Briefeschreibens.

Dieses Telegramm wurde vom deutschen Außenminister Arthur Zimmermann an den mexikanischen Präsidenten gesandt, der ein Militärbündnis gegen die Vereinigten Staaten vorschlug. Foto: Public Domain

Eine Bewerbung aus der Renaissance

Lange, bevor er ein berühmter Künstler wurde, bewarb sich Leonard da Vinci schriftlich um die Stelle eines Militäringenieurs bei Ludovico Sforza, dem Herzog von Mailand. Nach einem kurzen Seitenhieb auf andere, „die sich für Meister und Kunsthandwerker von Kriegsgeräten halten“, versprach da Vinci, „sich zu bemühen, ohne irgendjemand anderen in Misskredit zu bringen, mich Eurer Exzellenz verständlich zu machen, um Euch meine Geheimnisse zu enthüllen“.

Da Vinci zählte dann neun konkrete Möglichkeiten auf, wie er Sforza im Kampf gegen seine Feinde unterstützen konnte. Zu diesen Plänen gehörten Schiffe, denen Kanonenbeschuss nichts anhaben konnten, ein panzerähnliches Fahrzeug, das „den Feind und seine Artillerie durchdringen“ würde, und „sehr leichte, starke und leicht zu transportierende Brücken, mit denen man den Feind verfolgen und – bei Bedarf – vor ihm fliehen konnte“.

Er endet mit einem zehnten Vorschlag, in dem er behauptet, dass in Friedenszeiten niemand „so vollkommene Befriedigung geben kann auf dem Gebiet der Architektur“ wie er, und fügt dann hinzu: „Ich kann Bildhauerei in Marmor, Bronze und Ton ausführen.“ Er schließt mit dem Angebot, dem Herzog seine Talente zu demonstrieren.

Sein Brief ist kurz und bündig, seine Versprechen sind konkret, sein Ton respektvoll. Er hat die Merkmale eines guten Lebenslaufs. Vielleicht noch wichtiger ist, dass Vincis Bewerbung den Hochmütigen Bescheidenheit lehren könnte, wenn wir bedenken, dass eines der größten Genies der Geschichte seinen Hut ziehen und um einen Job bitten musste.

Herzensangelegenheiten

Ist die Romantik tot? Stellen Sie diese Frage Ihrem Handy oder Computer, sind die Antworten in der Regel trostlos und zustimmend. Es ist ungewiss, ob die Romantik im Sterben liegt oder einfach nur eine Pause eingelegt hat, aber offenbar finden viele Menschen, dass sie in unserer Kultur fehlt.

Manche mögen sich fragen, ob sie jemals außerhalb der Poesie und der Literatur existiert hat. Eine der größten dieser Sammlungen ist der Briefwechsel zwischen Robert Browning und Elizabeth Barrett, die später heirateten.

„Ich liebe dich bis in die Tiefe und Breite und Höhe, die meine Seele erreichen kann“, schrieb Elizabeth an ihren Mann. Die Briefe aus der Zeit ihres Werbens zeugen von großer Leidenschaft. Sie sind ein erstaunliches Zeugnis für die Anziehungskraft, die Romantik und die tiefe Liebe zwischen den beiden Dichtern, die sich in Vielfalt, Raffinesse, Scherzen und kulturellen Beobachtungen widerspiegeln, die sie einander zuschickten.

Die Briefe zwischen Elizabeth und Robert Browning zeigen die Tiefe der Liebe zwischen ihnen. Elizabeth Barrett Browning. Foto: Public Domain

Für die Kinder

Im Laufe der Jahre habe ich meinen Enkelkindern nicht nur Geburtstagsgrüße, sondern auch zahlreiche getippte oder handgeschriebene Briefe geschickt. Nach Aussage ihrer Eltern freuen sich die Jüngsten so sehr über einen solchen Brief, der nur für sie geschrieben wurde, dass sie dieses Blatt Papier wie einen Talisman bei sich tragen.

Teenager, denen ich manchmal Ratschläge schicke, wissen, dass es sich um besondere Gedanken handelt, die nur für sie bestimmt sind, und dass sie sorgfältig formuliert wurden.

Werden sie diese Briefe aufbewahren und sie eines Tages lesen, wenn ich nur noch eine Erinnerung bin? Ich habe keine Ahnung, aber die Wahrscheinlichkeit, dass sie das tun, ist viel größer, als wenn ich ihnen elektronische Nachrichten geschickt hätte.

„Mädchen, das bei Kerzenlicht einen Brief liest“, um 1700, von Jean-Baptiste Santerre. Puschkin-Museum, Moskau. Foto: Public Domain

Die Anmut unserer Kultur bewahren

Ich besitze zwei nachgedruckte Bücher aus dem 128-bändigen Werk „The War of the Rebellion: A Compilation of the Official Records of the Union and Confederate Armies“ (Der Krieg der Rebellion: Eine Zusammenstellung der offiziellen Aufzeichnungen der Armeen der Union und der Konföderation), das erstmals 1898 veröffentlicht wurde.

Meine beiden Bücher enthalten hauptsächlich militärische Korrespondenz. Wenn ich diese Sammlungen von Briefen, Berichten und Befehlen durchblättere, bin ich immer wieder beeindruckt von der Klarheit und Anmut des Schreibens. Diese Prosa besitzt auf ihre eigene Art und Weise eine ganz eigene Schönheit.

Die Lektüre vieler alter Briefe versetzt uns in eine Zeit zurück, in der die Gedanken des Schreibers mit Sorgfalt gewählt und mit Würde ausgedrückt wurden. Die meisten dieser Briefe glänzen mit einer Eleganz und einer Etikette, die wir uns vielleicht selbst abschauen sollten.



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