Tschaikowski und sein Streben nach Erhabenheit
Komponisten würden nur komponieren, wenn die Inspiration kommt. Das entgegnete ein junger Student, als er den betagten Pjotr Iljitsch Tschaikowski traf. Daraufhin soll Tschaikowski eine ungeduldige Handbewegung gemacht und verärgert gesagt haben: „Ah, junger Mann, seien Sie nicht so banal! Man kann nicht auf Inspiration warten.“ Das und weiteres beschreibt der Professor für Musikwissenschaft David Brown in „Peter Tschaikowsky im Spiegel seiner Zeit“:
„Was es braucht, ist Arbeit, Arbeit und nochmals Arbeit. Inspiration entsteht nur durch Arbeit, und zwar während der Arbeit. Jeden Morgen setze ich mich an die Arbeit. Wenn heute nichts dabei herauskommt, setze ich mich morgen wieder an dieselbe Arbeit. So schreibe ich einen Tag lang, zwei Tage lang, zehn Tage lang, ohne zu verzweifeln, falls nichts kommt, denn am elften Tag, Sie werden sehen, wird sich etwas auftun.“
Inspiration ließ Tschaikowski nicht los
Die Inspiration ist eines der großen Geheimnisse. Das Wort stammt sowohl aus dem Griechischen als auch aus dem Lateinischen und bedeutet wörtlich das Einatmen von Luft oder Geist. Sicherlich sprach Tschaikowski nicht von Luft, als er über die Inspiration redete. Es war der Eintritt des Geistes – manchmal Gottes Geist genannt, manchmal der Heilige Geist – in seinen Verstand und sein Herz.
Gewöhnlich kam er, wie Tschaikowski dem Studenten erzählte, nach viel Arbeit. Aber manchmal erschien er unaufgefordert, ein ungebetener Gast, der ihn an den Rand des Wahnsinns trieb, so wie er Händel getrieben hatte, als er den „Messias“ schrieb, und Beethoven, als dieser die „Missa solemnis“ schrieb.
Tschaikowski wurde zum ersten Mal von der Inspiration heimgesucht, als er noch sehr jung war. Brown schreibt, dass Tschaikowskis Gouvernante, Fanny Dürbach, sich daran erinnerte, wie sie ihn eines Nachts mit glitzernden Augen im Kinderzimmer entdeckte. „Auf die Frage, was los sei, antwortete er: ‚Oh, die Musik!‘ Aber in diesem Moment war keine Musik zu hören. ‚Schafft sie mir vom Hals! Sie ist hier, hier“, sagte der Junge, weinte und zeigte auf seinen Kopf. Sie wird mir keine Ruhe geben!‘“
Sie hat Tschaikowski keine Ruhe gelassen, aber sein Ringen mit ihr hat eine Fülle von inspirierter Musik hervorgebracht, Musik des Geistes. Sie ist eine Gewissheit, die viel größer ist, als die Vernunft es sein kann: Das Schöne, das Gute, das Wahre sind die letzten Realitäten – der Fels, auf dem wir stehen können. Es ist eine zeitlose Botschaft, die von Propheten und Dichtern, Malern und Komponisten jeder Zeit und Kultur überliefert wurde.
Einige von Tschaikowskis Werken scheinen mir besonders beflügelt zu sein. Seltsamerweise gehören sie nicht zu den berühmtesten Kompositionen. Aber sie erfüllen mich seit mehr als einem halben Jahrhundert mit Staunen und geben mir in schwierigen Zeiten Kraft. Ohne auf die Theorie einzugehen, möchte ich sie mit den Lesern teilen und ein paar persönliche Überlegungen hinzufügen.
Russische Knechte
Als Tschaikowski 31 Jahre alt war, hörte er einen Bauern bei seiner Arbeit singen. Es war ein klagendes, natives Volkslied, das die alte, grüblerische Seele des russischen Volkes widerspiegelte.
Tschaikowski baute es im langsamen Satz des Streichquartetts Nr. 1 ein. Eine Geige spielt die melancholischen Sätze – sie haben eine einfache Harmonie und sind schlicht. Es ist das Lied der einfachen Arbeiter Russlands, deren geistige Tiefe, Freundlichkeit und Frömmigkeit der Komponist gut kannte. Es sagt uns das Gleiche wie der Psalmist: „Wer unter Tränen sät, wird mit Freude ernten.“
Bei einem Konzert seiner Musik sah Tschaikowski, der neben dem ehrwürdigen Leo Tolstoi saß, dass der größte russische Schriftsteller bei dieser Passage weinte. „Es war die höchste Ehre meines Lebens“, schrieb Tschaikowski in sein Tagebuch. Und was für ein Wunder muss es für den Komponisten gewesen sein, die Kraft seiner Musik in den Tränen des Mannes, den er am meisten bewunderte, verwirklicht zu sehen.
Andere waren ebenfalls gerührt. Die Moskauer Zeitung schrieb: „[Als] die Musik aufhörte, gaben die Zuhörer keinen Laut von sich, weil sie Angst hatten, ihren Zauber zu unterbrechen.“
Auf der Suche nach Frieden
Mit 38 Jahren litt Tschaikowski unter großem inneren Aufruhr: Seine Ehe war zerbrochen, er hatte geschäftliche Schwierigkeiten und Gewissensbisse. Er verließ Moskau und zog aufs Land, der Schönheit und der einfachen Lebensweise wegen.
Die Eröffnungsszene seiner Oper „Eugen Onegin“, die er in diesen schwierigen Zeiten schrieb, scheint aus dem Wunsch heraus entstanden zu sein, eine glückliche, friedliche Lebensweise zu beschreiben – in der Nähe der heilenden Kraft der Natur und der Freundlichkeit der einfachen Leute. Auf einem kleinen Landgut ist die Ernte zu Ende und gemäß dem Brauch bringen die Bauern ihrer Herrin eine geschmückte Weizengarbe. Ein Festmahl ist für sie vorbereitet; sie singen ihre Erntelieder und strahlen vor lauter Freude über die reichhaltigen Früchte ihrer Arbeit.
Im mittleren Alter
Als Tschaikowski 40 Jahre alt war, begann die Religion eine tiefere und bedeutendere Rolle in seinen Gedanken zu spielen. Massenets Oratorium „Marie-Magdeleine“ bewegte ihn zutiefst.
„Ich war so beeindruckt von der Art und Weise, wie Massenet die ewige Reinheit Christi auszudrücken wusste, dass mir die Tränen kamen. Wunderbare Tränen! Heil dem Franzosen, der sie zum Fließen zu bringen wusste“, schrieb er an seinen jüngeren Bruder, den Dramatiker Modest Iljitsch Tschaikowski. „Unter seinem Einfluss komponierte ich ein Lied zu den Worten von Alexej Tolstoi. Die Melodie ist von Massenet inspiriert.“
Tschaikowskis „Melodie“, das gesamte Werk, ist tatsächlich beseelt. „Ich segne euch, Wälder“ zeigt, wie die Verzückung in das Herz eines bescheidenen Pilgers eindringt. Wälder, Täler, Flüsse, der große blaue Himmel – alles Gottes Werk – beflügeln seinen Geist und seine Liebe zur Menschheit. „Ach, könnte ich doch euch – Brüder, Freunde, Feinde, die ganze Natur – in meine Arme schließen!“
Als der Komponist 41 Jahre alt war, schrieb er an Modest über seine erwachende Liebe zur russischen liturgischen Musik: „Ich war tief beeindruckt, ja erschüttert von der Schönheit des Gottesdienstes, die mit nichts anderem zu vergleichen ist.“
An seine Brieffreundin und Mäzenin Nadeschda von Meck schrieb er: „Ich liebe das Nachtgebet sehr. Im Halbdunkel zu stehen und nach einer Antwort auf die ewigen Fragen zu suchen … Wenn der Chor zu singen beginnt, werde ich aus meinen Träumereien gerissen – oh! Ich liebe das alles ungemein.“
Der erste Satz seiner Nachtvesper Op. 52 beginnt mit Psalm 104: „Lobe den Herrn, o meine Seele.“ Tschaikowski verwendet in seiner Vertonung des Textes den traditionellen griechischen Gesang, den er von Kindesbeinen an kannte, nimmt ihm jedoch seine byzantinische Strenge, indem er die melodischen Konturen sanft glättet und ihn auf eine warme, typisch russische Weise harmonisiert. „Sie steht im Einklang mit dem Stil der russischen Kirchenarchitektur und Ikonenmalerei“, schrieb er wiederum an Modest.
Das Ergebnis ist überwältigend. Am Ende des Psalms singt der Chor: „Ehre sei dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist.“ Sicherlich ist es derselbe Geist, der Tschaikowski als Kind heimsuchte und ihm keine Ruhe ließ. Er wird an uns weitergegeben; es ist unmöglich, ihn zu beschreiben, zu erklären oder zu beweisen. Jeder von uns muss ihn für sich selbst finden.
Raymond Beegle (*1942) ist Pianist und Kammermusiker. Er trat als begleitender Pianist auf großen Bühnen in Europa, Südamerika und den USA auf. Er schrieb für mehrere Zeitschriften für klassische Musik und unterrichtete an verschiedenen Hochschulen in den USA und an der „American Institute of Musical Studies“ in Graz, Österreich. Seit 28 Jahren unterrichtet er Kammermusik an der „Manhattan School of Music“.
Dieser Artikel erschien im Original auf The Epoch Times USA unter dem Titel: Tchaikovsky and His Reaching Toward Sublimity (deutsche Bearbeitung von as)
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