Tiefgründige Melodien von Johannes Brahms

Titelbild
Denkmal am Karlsplatz in Wien.Foto: istockphoto
Von 8. Oktober 2021

Sein enger Freund, der englische Bariton George Henschel, beschrieb den damals 41-jährigen Brahms als „breitschultrig und von etwas kleiner Statur, mit einer Tendenz zur Beleibtheit. Er war stets glatt rasiert und sein dichtes glattes Haar von bräunlicher Farbe reichte ihm fast bis zur Schulter. Was mir jedoch am meisten auffiel, war die Freundlichkeit in seinen Augen.“

Er liebte die Gesellschaft vertrauter Menschen, hatte Humor, war bescheiden in Bezug auf sein Talent und großzügig gegenüber seinen Freunden.

Entstehung seiner Kompositionen

Brahms Schöpfergeist war ein Mysterium. In seinem Kopf fand oft eine wundersame Synthese statt: Aus dem gewöhnlichen Alltagsleben erblühte eine Vision. Gedanken und Gefühle schlugen tiefe Wurzeln in seinem Geist, wurden zu Fragmenten einer Melodie und nach langer Arbeit ward ein musikalisches Werk geboren. Seine Schöpfungen nahmen ein Eigenleben an, bahnten sich ihren Weg direkt in die Herzen der Zuhörer und entfalten auch lange nach seinem Tod ihren Zauber.

Brahms sprach zwar selten, dann aber offen mit Freunden über seine schöpferische Begabung. So sagte er einmal zu Henschel: „Ein Gedanke oder eine Idee ist eine Eingebung von oben, für die ich nicht verantwortlich bin. Es ist ein Geschenk, eine Gabe, die ich mir durch harte Arbeit zu eigen mache.“

Über Liebe, Verlust und Hoffnung

In späteren Jahren bat er den amerikanischen Journalisten Arthur M. Abell, die Anfangszeilen von Homers „Odyssee“ zu zitieren („Sing to me O Muse“). Nachdem Abell die Worte gesprochen hatte, führte Brahms aus: „Homer suchte die Inspiration von oben, so wie ich es tue, wenn ich komponiere, und so wie Beethoven es tat. Ich nutze die Inspiration und ich beabsichtige etwas zu komponieren, das die Menschheit erhebt und ihr dienlich ist – etwas von bleibendem Wert.“ Man könnte solch eine Haltung als spirituell ansehen, da sie wenig mit dem gewöhnlichen Leben zu tun hat. Doch in Wirklichkeit hat dies alles mit uns und unserem gemeinsamen Schicksal zu tun. Insbesondere Johannes Brahms‘ Lieder und Chorwerke geben unserem Bedürfnis nach Liebe in all ihren Formen eine Stimme; sie geben auch unserem Leid, unserem Glück und unserer Hilflosigkeit gegenüber dem Schicksal eine Stimme. Seine Musik gibt Trost, Hoffnung und verleiht selbst dem einfachsten Dasein Würde.

Brahms vertonte die Texte der bedeutendsten Dichter, die sich mit wichtigen Stationen des Lebensweges befassen – dem Weg eines jeden von uns. Er handelt von Träumen und Hoffnungen, von Verzweiflung bis hin zum spirituellen Lebenssinn. Das Menschsein und der Kreislauf der Natur, von der Jugend über das Erwachen der Liebe in all ihren Formen und die Erfahrung des Verlustes führen schließlich zu der großen geistigen Welt, die sich vor uns entfaltet.

„Die Mainacht“ zum Beispiel, vertont auf einem Text des deutschen Dichters Ludwig Christoph Hölty aus dem 18. Jahrhundert, drückt unsere Sehnsucht nach der Vereinigung mit einer anderen Seele aus, unsere innige Verbindung mit der Natur und ihrer Kraft, die uns durch ihre Schönheit mit Staunen erfüllt.

„Treue Liebe dauert lange“ von Ludwig Tieck feiert das Erreichen einer solchen Verbindung. Seine erhabenen melodischen Zeilen hauchen den Worten des Dichters Leben ein: „Wahre Liebe dauert lange. Möge sie immer vom Kummer befreit sein und nie verschwinden, diese geliebte, selige, himmlische Freude!“

Auch wenn uns der geliebte Mensch im Laufe der Zeit genommen wird, die Liebe bleibt. Als Brahms seinen Freund Anselm Feuerbach, den brillanten deutschen Maler verlor, versank er in tiefer Trauer. Diese diente ihm dann als Katalysator für „Nänie“, eines seiner schönsten Werke. Der Text aus Friedrich Schillers Klagelied thematisiert den Tod der klassischen griechischen Figuren Eurydike, Adonis und Achilles: „Auch das Schöne muss sterben […] auch das Vollkommenste wird vergehen […] aber ein Klagelied auf den Lippen eines Liebenden ist wundersam.“

Ein Klagelied mag wundersam und schön sein, aber es ist dennoch ein schwacher Trost während der Zeit des Schmerzes. Das „Schicksalslied“ schaut der Trauer direkt in die Augen. Der Dichter Friedrich Hölderlin schrieb: „Uns ist kein Ort der Ruhe gegeben. Der Mensch leidet, blind schrickt er, er stürzt von einer Stunde zur andern, wie das Wasser, das von Klippe zu Klippe ins Ungewisse getrieben wird.“ Obwohl das Werk nur kurz ist, handelt es sich um das wohl größte chorale Meisterwerk des Komponisten.

Letztendlich erkennen die Menschen, dass sie Antworten brauchen, die tiefer liegen, als die oberflächliche Schönheit sie liefern könnte. Oft ist es eine Zeit der Krise, die den geistigen Horizont erweitert, und dann spürt man wieder festen Boden unter den Füßen. Nach dem Tod seiner geliebten Clara Schumann vertonte Brahms in seiner Niedergeschlagenheit den Text aus den Evangelien:

„Und ihr habt nun Traurigkeit;
aber ich will euch wiedersehen,
und euer Herz wird sich freuen,
und eure Freude kann niemand von euch nehmen.“

Johannes Brahms nutzte seine gottgegebenen Fähigkeiten. Engen Freunden gegenüber äußerte er einst, dass solche Werke direkt von Gott kommen und den Weg in unsere Herzen finden, um uns zu erfreuen.



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