Sonntagsmärchen: Die Kornähren
Es war einmal eine Zeit, aber das ist schon undenklich lange her, da trugen alle Kornhalme, und auch die von anderem Getreide volle goldgelbe Ähren herab bis auf den Boden; da gab es keine Armut und keine Hungersnot, niemals, und das war die goldene Zeit.
Da konnten sich alle Menschen mit Wonne sättigen, und auch die Vögel, die gerne Körner fressen, Hühner und Tauben und andere Vögel, fanden Futter vollauf.
Aber da waren unter den Menschen welche, die waren undankbar und gottvergessen, und achteten die schöne werte Gottesgabe, das liebe Getreide für gar nichts. Da gab es Frauen, die nahmen, wenn sich ihre kleinen Kinder verunreinigt hatten, die vollen Ährenbüschel und reinigten damit ihre Kinder, und warfen die Ähren auf den Mist.
Und die Mägde scheuerten mit den vollen Ähren, und die Buben und kleinen Mädchen jagten sich durch das liebe Korn, spielten Verstecken darin, wälzten sich darauf herum und zertraten es. Das jammerte den lieben Gott, der das Getreide den Menschen zur Nahrung gegeben hatte und dem Vieh zum Futter, und nicht zum mutwillig verderben und dachte bei sich, wir wollen es anders machen, und die goldene Zeit soll ein Ende haben.
Und da schuf der liebe Gott, dass hinfort jeder Halm nur eine einzige Ähre trug, einmal für die Menschen, damit sie das liebe Getreide besser schonen lernen, und einmal für die unschuldigen Tiere, damit sie doch noch ihr Futter haben sollten, wenn auch die Menschen nicht einmal die eine Ähre wert waren.
Von da an ist Hunger und Teuerung und Armut in die Welt gekommen. Nur zuweilen und selten lässt sich der liebe Gott da oder dort einen Wunderhalm mit vielen Ähren emporschießen, und zeigt so dem Menschen, wie es einst beschaffen war um das Getreide, und was Er kann.
Und es geht eine alte Prophezeiung unter dem Volk, dass einmal nach langen Jahren, wenn das Engelwort sich erfüllt haben wird: „Ehre sei Gott in der Höhe, Friede auf Erden und unter allen Menschen Wohlwollen, Segnung und Liebe“, dass dann der Boden auch wieder von Gott erweckt werden solle, solche Halme zu tragen, die bis zur Wurzel voll Ähren sind. Unser Keiner aber wird das erleben.
Aus dem „Deutschen Märchenbuch“ 1847 von Ludwig Bechstein (1801-1860)
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