Sonntagsmärchen: Die drei Königstöchter

Es war einmal ein König, der hatte drei Töchter, und einen Sohn, die er durch einen Weisen erziehen ließ; denn ihre Mutter war frühe gestorben, und er hatte zu viele Sorgen für sein Reich ... aus der Sammlung von Albert Ludwig Grimm.
Titelbild
Lilien waren früher ein Zeichen der Reinheit - hier auf einer alten Bibel.Foto: iStock
Epoch Times21. Juli 2024

Es war einmal ein König, der hatte drei Töchter, und einen Sohn, die er durch einen Weisen erziehen ließ; denn ihre Mutter war frühe gestorben, und er hatte zu viele Sorgen für sein Reich, als dass er viel Zeit auf die Erziehung seiner Kinder hätte verwenden können. Seit dem Tode seiner Gemahlin war der König aber traurig, und konnte durch nichts erheitert werden. Und dem ganzen Lande lag diese Traurigkeit an; denn man fürchtete, der König möge sich nach und nach zu Tode grämen. Da kamen die drei Königstöchter zu dem Weisen, und fragten ihn, was sie tun sollten, dass ihr Vater wieder Freude zum Leben bekäme; denn sie wussten, dass der Weise in Indien die geheimen Kräfte der Natur studiert, und dass er mehr, denn menschliche Einsicht und Macht hatte.

„Eure Mutter wird euch das sagen!“ antwortete ihnen der Weise.

„Unsere Mutter ist ja tot, wie kann uns die raten?“ fragten die Mädchen.

„Geht hinaus“, sagte der Weise, „an dem Grabe Eurer Mutter werdet ihr’s erfahren.“

Da gingen sie hinaus an das Grab ihrer Mutter, und knieten sich nieder, und beteten kindlich fromm, und setzten sich um die Urne auf dem Grab, und lehnten sich daran und schlummerten ruhig ein. Da umgauckelte sie alle ein wunderlieblicher Traum. Es war ihnen, als schauten sie auf zum Himmel in das weiße lämmerartige Gewölke.

Das zerteilte sich aber plötzlich, und Harfenton und Flötenlaut umschwebte ihr Ohr; der blaue Äther tat sich auf, buntfarbiger Lichtglanz strahlte heraus, und fromme Kindlein mit goldglänzenden Flügeln stiegen auf Wolkenstufen herab, und lagerten sich um sie her, und sangen wunderbare Lieder.

Jetzt brach ein rosiger Schein hervor, und auf einer lichten duftigen Wolke schwebte ihre verstorbene Mutter herab. Um den Leib trug sie einen seidenen Gürtel mit diamantenen Sternen, und um ihr Haupt hing ein Kranz von strahlenden Blumen.

Sie nahm ihre lieben Töchter alle in den Arm, und drückte sie an ihr Herz. Da fragten sie: „Wie kann der Vater wieder froh werden? wie machen wir’s, dass er seine Traurigkeit verliert?“ Und sie antwortete ihnen: „den Stein Opal müsst ihr ihm finden, dann wird seine Heiterkeit wiederkehren.“

Da sprachen die Königstöchter: „Wo finden wir aber den Stein Opal?“ Und ihre Mutter griff an ihren strahlenden Blumenkranz, und gab jeder eine Lilie, und sprach: „diese sei eure Führerin; wenn sie ihren Glanz verliert, dann seid ihr auf unrechtem Wege. Mehr darf ich euch nicht sagen.“

Die Musik, die bisher nur leise getönt hatte, als käme sie aus weiter Ferne, fing wieder von neuem an; die frommen Engelskindlein stiegen auf und nieder auf den lichten Wolkenstufen; um die Mutter sammelte sich eine schöne duftige Wolke, und langsam ward sie aufgehoben. Die Musik tönte immer ferner, immer leiser, bis sich der Äther wieder mit blau schloss, und die Wolkenlämmer wieder am Himmel hinzogen, wie vorher.

Es war schon etwas dämmerig, als die drei Mädchen erwachten. Jedes sahe sich um, wo es wäre, jedes fragte das andere; jedes erzählte den gehabten Traum, und jedes hatte denselben Traum gehabt. Sie waren verwundert und wollten nach Hause gehen. Einmahl noch knieten sie nieder vor dem Grab ihrer Mutter, und beteten kindlich fromm. Wie sie aber das Wörtlein „Amen“ sagten, hörten sie wieder einige Töne der Musik, und in dem Augenblicke sahen sie alle zumal ihre strahlenden Blumen vor dem Grabe liegen.

Da nahm jedes eine der Lilien, und sie gingen hin zu dem Weisen, und sprachen: „Wir haben alle einen Traum gehabt auf dem Grabe der Mutter. Den Stein Opal müssen wir finden, dann verliert unser Vater die Traurigkeit. Sprich, wo finden wir diesen Wunderstein?“

Da sprach der Weise zu den Königstöchtern: „Ihr müsst ziehen in das Reich India. Dort verwahrt ihn eine Fee, genannt Tellus. Ihr müsst aber rein sein von Lüge und Eigennutz, und viel Wunder müsst ihr ohne Schrecken vernehmen, sonst erringt ihr nie den gesuchten Stein. Folget diesem Vogel!“ sprach er, und fasste einen Stein von der Erde, und warf ihn in die Lüfte; und der Stein ward ein großer Vogel, der langsam voraus flog, und ihm folgten die Königstöchter.

Und sie zogen durch viele Länder und Reiche der Erde; der große Vogel zog immer voraus, und kamen sie an einen Kreuzweg, oder an einen Ort, wo der Weg sich schied, so folgten sie den Strahlen, die ihre Lilien immer nach der richtigen Strasse hin warfen. Und wo sie Abends herbergeten, da brachte ihnen der Vogel immer ihre Speisen, und was sie nur brauchten.

So führte sie der Vogel immer fort, bis sie kamen in das Reich India; und sie durchzogen das Reich, und kamen an die äußerste Grenze desselben. Da verließ sie der Vogel am Ufer des Meeres, und kam nimmer zurück. Und sie saßen einen ganzen Tag an dem Rande des Meeres, und sahen vor sich die Sonne aufgehen, und sahen sie untergehen im Abendlande; und klagten unter einander, und berieten sich, was sie tun wollten. Wie aber die Sonne unter war, und der Mond herauf kam, erblickten sie nahe in den Fluten ihren Vogel. Er wiegte sich sanft auf den Wellen des Meeres, und schien sie einzuladen, zu ihm zu kommen.

Und sie warfen sich in das Meer, und schwammen hin zu dem Vogel. Da rauschte das Wasser auf, und aus den Wellen erhob sich schwimmend ein Weib, nicht wie die Frauen der Erde, voll wundervoller Schönheit. Sie sprach zu ihnen: „Was sucht ihr?“

„Wir suchen den Stein Opal“, antworteten die Königstöchter. Da sprach das Weib: „Noch steht euch frei zurück zu kehren. Prüfet euch; fühlt ihr Mut in euch, das zu sehen, zu hören, was nur Geister bisher vernommen haben? Ist euer Streben rein? Noch könnt ihr zurückkehren.“

„Wir haben Mut, die Wunder zu sehen, die der Erde Schoß verbirgt, und rein ist unser Streben, den Stein Opal zu finden. Führe uns.“ So sprachen die drei Königstöchter, und fassten einander bei der Hand, und tauchten mit ihr unter. Aber sie bedurften der Luft nicht mehr zum Leben, denn sie wandelten an der Hand einer Fee. Und sie kamen auf den Grund des Wassers; über ihnen brausten die Wellen, und unter ihnen dröhnte der Boden.

Durch eine kühle Grotte führte der Weg. Aber die Grotte war von dem klarsten Kristall, und farbige Strahlen spiegelten sich in den vieleckigen Steinen. Und sie kamen in einen dunkeln Saal, an dessen Decke sich Sterne drehten, und der Mond wandelte daran auf und nieder. Und sie schauten hinauf. Da schlug ihr Herz ruhiger. Aber die Sterne kreißten und drehten sich in immer schnellerem Tanze, und verschlungen sich zu mancherlei Gestalten, die sie wohl an ihre frühe Kindheit erinnerten.

Da scholl donnernd eine Stimme durch den Saal: „Was sucht ihr Töchter der Oberwelt in dem Schoße der Erde?“

Aber die Königstöchter waren erschrocken, und antworteten mit verzagtem Mute: „Wir suchen den Wunderstein Opal.“

Abermahls erscholl die donnernde Stimme, und sprach: „Ihr seid eingetreten in das Reich der Königin Tellus, die da Königin ist über die Geister der Erde; ihr seid kommen, zu hohlen ihr schönstes Gut. Ohne Beschwerde erlangt ihr es, wenn es für euch selbst ist.“

Da glaubten sie durch List gleich den Stein zu erhalten, und sprachen: „Ja er ist für uns selbst.“ Und sie blickten nach ihren Blumen; ihr Glanz war erloschen; die Sterne versanken; der Mond war verschwunden, und durch den dunkeln Saal donnerte zum dritten Male die Stimme: „Ihr habt die Wahrheit verhehlt, und habt eine Lüge gesagt. So versinket denn in dem Brunnen der Reue!“ Und der Boden sank unter ihnen, und sie lagen in dem Brunnen der Reue.

Aber der uralte König geriet noch in größere Traurigkeit, als seine Töchter fort waren, und schickte viele Kundschafter aus gegen Morgen und gegen Mittag und gegen Abend und gegen Mitternacht; aber keiner war, der ihm Kunde gebracht hätte von seinen drei Töchtern. Da wollte sein Sohn ausziehen, seine Schwestern zu suchen; der König aber gab’s nicht zu, denn er fürchtete, ihn auch zu verlieren. Endlich zehrte ihn der Gram auf, und er starb in seinem hohen Alter.

Da der junge Königssohn aber die Leiche seines Vaters beerdigt hatte neben dem Grabe seiner Mutter, ließ er seine Räte und alle Hohe des Reiches zusammen kommen, nahm Abschied von ihnen, und zog aus, seine Schwestern zu suchen, nachdem er den Räten das Wohl des Reichs empfohlen hatte. Und zog weit umher in fremden Landen, und kam endlich in das Reich India, und an den Strand des Meeres.

Traurig setzte er sich nieder und blieb da den ganzen Tag, und sah den Mond herauf kommen aus den Wellen. Und fern auf den Wellen hört er’s rauschen, und blickte auf, und sah sich’s bewegen im Mondenscheine. Er horchte auf, und deutlich hört er’s singen, wie Geisterton:

„Tauch unter,
Die Wunder
Der Erde zu sehen.
Kannst wohl auch erreichen
Den Stein, ohne Gleichen,
Den Stein Opal.
Tauch unter,
Die Wunder
Der Erde zu sehen.
Drei Schwestern voll Treue
Im Brunnen der Reue
Gefangen sind.
Tauch unter,
Die Wunder
Der Erde zu sehen.

Die Güter der Erden
Bereitet werden
In Tellus Reich.“

Jetzt erblickte er den Vogel, der seine Schwestern hierher begleitet hatte; und da er sah, dass der Vogel ihm winkte, warf er sein Kleid von sich, und schwamm hinaus. Da rauschte das Wasser auf, die Fee erschien, und fragte ihn: „Was suchst du?“

„Drei Schwestern will ich erretten aus dem Brunnen der Reue!“ antwortete der Jüngling.

Darauf sprach die Fee: „Noch steht dir frei zurückzukehren. Fühlst du Mut in dir, das zu vernehmen, was kaum der menschliche Sinn ertragen kann? Ist dein Streben rein? willst du sonst nichts?“

„Mein Streben ist rein!“, antwortete der Jüngling, „aber auch den Stein ohne Gleichen, den Stein Opal will ich erringen, und will schauen die Wunder der Erde.“ Da fasste sie ihn bei der Hand, und nahm ihn mit sich in die Tiefe des Wassers, und führte ihn ein durch die kühle Grotte in den dunkeln Saal, wo die Sterne sich drehten und der Mond auf und nieder wandelte. Donnernd scholl eine Stimme durch den hallenden Saal, und fragte: „Was suchst du, Sohn der Oberwelt, in dem Schoße der Erde?“

Und beherzt antwortete er: „Drei Schwestern will ich erretten aus dem Brunnen der Reue.“

Da hallte abermals die Stimme durch den Saal, und rief: „Wenn es nicht deine Schwestern sind, sollen sie dir gleich frei gegeben werden.“

„Ich weiß es nicht“, antwortete er, „aber ich vermute, dass es meine Schwestern sind.“ Und zum dritten Male hallte eine Stimme durch den Saal, und rief: „Du hast nicht verheimlicht deines Herzens Gedanken, darum sei dein Wunsch dir gewahrt!“ Und vor ihm tat der Boden sich auf, und aus dem Brunnen der Reue stiegen auf seine drei Schwestern und er bewillkommte sie herzlich. Der Boden aber schloss sich wieder.

Die Fee war verschwunden gewesen; jetzt trat sie wieder zu ihm, und führte ihn ein durch eine goldene Pforte. Seine Schwestern musste er zurück lassen. Da war ein großes marmornes Gewölbe. Bei einer düstern Lampe saß ein Greis, und las in einem großen Buche; und als die Fee zu ihm trat, stand er auf, und sie sprachen miteinander; aber der Jüngling verstand nicht, was sie sprachen. Er schaute umher an den Wänden; da waren wunderbare Zeichen eingegraben; und er schaute auf zur Decke, da brannte, wie Phosphor, die Schrift: „Schicksale der Erdenbewohner.“ Und er sah nach der Pforte, durch die er gekommen war; da las er die Worte: „Schaue! aber frage nicht!“ Darum schwieg er, und fragte nicht nach dem Sinne der Bilder und Züge.

Endlich trat der Greis mit der Fee wieder zu ihm, und er fiel auf die Knie unwillkürlich. Und der Greis fragte: „Weißt du dich rein von Sünden, Jüngling?“

„Ich bin mir keiner Sünde bewusst, o Greis!“ antwortete er voll Ehrfurcht vor dem Ernste des Greisen. Da machte ihm der Greis ein Zeichen auf die Stirn, und der Fee machte er ein Zeichen in die Hand, und winkte ihnen zu gehen.

Und sie gingen aus dem marmornen Saale durch einen dunkeln Gang, und kamen an den Eingang eines alten zerfallenen Turmes. Die Fee winkte ihm stehen zu bleiben, und ging hinein. Er durfte aber durch die Pforte hinein sehen.

Da saß ein Greis an einem Rade, und spann die Haare seines eigenen Bartes mit großen Schmerzen zu einem Strick, und wie er spann, wuchsen ihm die Haare immer nach. Vor sich hatte er eine Tafel aufgehangen mit wunderlichen geheimnisvollen Figuren, ähnliche Figuren waren auf den Boden gezeichnet. Als aber die Fee zu ihm trat, schaute er um mit einem zornigen Blick, und rief: „Was willst du?“

Da wies sie ihm das Zeichen in ihrer Hand, und der Greis ward wie wütend, und riss sich ein Haar aus seinem Bart, und warf’s ihr zu. Sie weilte aber nicht länger, und nahm das Haar, bracht’s dem Jüngling, und knüpft‘ es an einem Stein an, und hieß ihn, sich an dem andern Ende desselben führen zu lassen, und er solle stets antworten nach seiner wahren Überzeugung, wenn er gefragt werde. Sobald er aber den Stein Opal habe, müsse er zurücke gehen, und das Haar darauf wickeln. Jetzt dürfe er fragen, was er wolle, und wenn er den Wunderstein habe, dürfe er auch tun, was er wolle. Als sie das gesagt, verschwand die Fee.

Aber der Jüngling fasste das Ende des Haares, und ging weiter, und mit jedem Schritte verlängerte sich auch das Haar. Und er kam an ein Bächlein; das strömte vorbei, und an dem Bächlein saß eine Mutter und weinte, aber alle ihre Tränen wurden Perlen, und fielen in das Bächlein, und es führte die Perlen in das Meer auf die Oberwelt, wo die Muscheln sie aufnahmen, und die Menschen darnach fischen.

Da trat der Jüngling zu ihr, und fragte sie, warum sie weine. Die Mutter zeigte ihm aber jenseits des Bächleins eine weiße Lilie, die war gewelkt auf ihrem Stängel, denn der Stängel war golden, und konnte nicht Nahrung saugen aus der Erde.

Und er ging weiter fort, und kam an eine Stelle, da wuchs eine Pflanze, nicht wie die Pflanzen dieser Erde, und doch schien sie das Muster zu sein, wonach alle Gewächse gebildet sind; und aus allen Blättlein sang eine Stimme heraus, und begrüßte ihn mit sanften Tönen, sang ihm Trost und Mut ins Herz. Da strebte er mit neuem Mute weiter, und kam an den Quecksilbersee. Drei Ströme flossen von ihm aus, und führten das Quecksilber hinauf in die Schächte der Berge.

Aber er getraute sich nicht weiter. Da rief eine Stimme ihm: „Jüngling, bist du rein von Sünden, so schreite vorwärts, und du wirst nicht untersinken.“ Und er schritt vorwärts, und um ihn, dünkt es ihn, liefen die Ufer rings herum, und die Wellen des Sees gingen hin und her. Aber er schritt vorwärts, und kam jenseits glücklich an.

Und er kam an eine Pforte von Glase, die verschlossen war von innen. Da pocht‘ er an, und es rief eine Stimme: „Was willst du in der Behausung der Elemente?“

„Ich will schauen die Wunder in Tellus Reich; öffnet mir die Behausung der Elemente.“ Da tat sich das Tor auf, und er trat ein in die Behausung der Elemente. Da stand eine irdene Säule in der Glut der Feuerflammen; und ein Luftstrom brach aus zur Seite, und drang hinaus auf die Oberwelt, und ein Wasserstrom drang aus zur andern Seite, und verteilte sich in den Schoß der Berge; und es dünkte ihn, als sei die Behausung der Elemente ein Vorbild der Berge auf Erden, die Feuer ausspeien.

Da er aber weiter ging, kam er an eine Pforte, die war zusammengesetzt aus allen Metallen. Und als er anpochte, rief eine Stimme: „Was willst du in der Behausung der Metalle.“ Und er antwortete wieder: „Ich will schauen die Wunder der Königin Tellus; öffnet mir die Behausung der Metalle.“

Da tat sich das Tor auf, und er kam in einen runden, gewölbten Saal, wo aus einem Quell die Metalle alle hervor wuchsen, und sich ausdehnten nach allen Enden, und sich drängten in die leeren Adern der Schachte, in die Poren der Steine und blieben da liegen, hart, von mancherlei Farbe und mancherlei Güte.

Aber der Jüngling ging weiter fort, und schritt über die wachsenden Metalle hin, und kam an eine diamantene Pforte. Da er nun anklopfte an die Pforte, rief eine Stimme ihm, und sprach: „Warum wagst du dich an die Wohnung der Königin Tellus?“

Da antwortete er: „Ich will hohlen den Stein Opal bei der Königin Tellus.“ Und zum zweiten Male rief eine Stimme: „Wenn du den Stein Opal willst für andere, so soll er dir werden; willst du ihn für dich, so kehre um, Jüngling, denn dein Streben ist vergeblich.“

Wie er aber sich umkehrte, und zurück gehen wollte, da rief die Stimme zum dritten Male: „Gehe ein! Denn du bist wahr, und meidest die Lüge.“ Und die diamantenen Torflügel taten sich auf, und der Jüngling ging ein. Aber er stürzte nieder, und barg seine Augen, denn sie konnten nicht ertragen den Glanz, der auf sie eindrang.

Eine Stimme rief ihm: „Stehe auf!“ und er richtete sich auf, und konnte hin sehen. Da saß auf einem Thron aus Diamant die Königin, und ihre Dienerinnen um sie auf chrysolitenen Sitzen. Da standen Tische aus Onyx-Steinen und darauf waren Gefäße aus Rubin und Saphir; der Boden war belegt mit Türkis und Achat; die Säulen und Pfeiler waren aus Jaspis und Porphyr; die Decke war aus Lasur-Steinen, und Sterne darin aus Diamanten; Wandleuchter waren da, und in der Mitte ein Kronleuchter aus Karfunkel.

Aber vor dem Throne der Königin Tellus war ein Becken, darin floss ein Spiritus, der brannte in allerlei Farben. Und die Königin schöpfte von dem Spiritus aus mit einem diamantenen Löffel, und Dienerinnen gingen aus und ein, und trugen saphirene Urnen; und die Königin schöpfte ihnen von dem Spiritus in die Urnen; und sie gingen aus und träufelten ihn in die Schächte und in die Wasser, dass er Edelstein würde, und die Menschen ihn fänden, und auch von den Schätzen der Königin Tellus hätten.

Als aber der Jüngling umher geschaut, und sich erholt hatte von seinem Staunen, trat die Königin zu ihm, und fragte ihn: „Was begehrst du, Jüngling?“

Da antwortete er: „Ich komme den Stein Opal zu holen.“

Die Königin sprach: „Meiner Güter höchstes ist der Stein Opal. Wärest du es nicht, den ich aus Tausenden erwählt habe, hättest du nicht der Prüfung deiner schuldlosen Wahrheit so ganz bestanden, nimmer hättest du es wagen dürfen, meinem Reiche zu nahen. – Wisse aber: der Weise, der dich erzog, ist mein Vater. Darum zog ich dich allen Erdenbewohnern vor.“

Als sie das gesagt, griff sie mit der Hand in den brennenden Spiritus, und brachte heraus den Stein ohne Gleichen, den Stein Opal. Sie reichte ihn dem Jüngling, und sprach: „Nimm ihn hin; mit ihm gebe ich dir Macht, in meinem Reiche zu tun, was du für recht hältst; mit ihm gebe ich mein unterirdisches Reich auf. Auf der Oberwelt werden wir uns wieder sehen.“

Und damit war sie verschwunden, und der Spiritus war verloschen, die Edelsteine leuchteten allein noch durch die Dunkelheit der unterirdischen Nacht. Er sah der Ausgänge viele, und wusste nicht mehr das Tor, durch das er eingegangen war. Da hatte er zum Glücke noch das Ende des Haares. Und er fing an mit ihm zu umwinden den Stein Opal, und es führte ihn hinaus. Da krachte es plötzlich hinter ihm, und die Behausung der Königin Tellus war zusammen gestürzt.

Er wand immer auf an dem Haare, und es führte ihn wieder durch die Behausung der Metalle; und als er vorüber war, da donnerte es hinter ihm, und der Saal stürzte zusammen, und die Quelle der Metalle war verschüttet. Darum wachsen die Metalle im Schachte der Berge jetzt nicht mehr.

Als er aber ging durch die Behausung der Elemente, sprach er: „Ihr unterirdischen Mächte, du Königin Tellus, höret mich! Die Elemente sollen fortan bleiben im Schoße der Erde!“ Und die Elemente blieben, und strömen seitdem noch immer aus auf die Oberwelt.

Und er schritt wieder über den Quecksilbersee, und kam an die seltsame Pflanze, und brach sich einen Zweig derselben, und ging weiter. Da welkte die Pflanze, aber sein Zweig blieb frisch.

Da kam er wieder an das Bächlein, wo die Mutter saß, und Perlen weinte, wo jenseits die gewelkte Lilie stand, und sprach zu ihr: „Sprich, was bedeutet die Lilie auf dem goldenen Stängel?“ Da antwortete die Mutter: „Die Lilie auf dem goldenen Stiele bedeutet meine Tochter Tellus, die ich unglücklich gemacht habe.“

„Wie hast du denn deine Tochter unglücklich gemacht?“ fragte der Jüngling.

Da antwortete die Mutter: „Sie war glücklich auf der Oberwelt, und freute sich über Blumen und Bäume und Berge und Täler, und wusste nichts von irdischem Gut. Da kam eines Abends ein Mann zu uns, und ließ sie wählen zwischen einer Lilie, und dem Stein Opal. An der Lilie, sprach er, hinge das Reich der Oberwelt, und die Freude an Wald und Flur. Auch hänge von ihr ab das Reich der Gemüter und der Freundschaft und Liebe; mit dem Stein Opal stehe aber in Verbindung das Reich der Elemente und der Erdengüter, der Metalle und Perlen und Edelsteine. Da griff meine Tochter nach der Lilie; aber ich rief ihr zu, und winkte ihr auf den Stein Opal, denn mein Herz hing an den Gütern dieser Erde; und sie nahm den Stein, gehorsam dem Winke der Mutter. Sie bekam zwar das Reich der Erdengüter, aber ihr Herz welkte unter den toten Steinen, und trauerte. Da erschien mir der ehrwürdige Greis, den du gesehen hast im Saale, wo die Schicksale der Erdenbewohner eingegraben stehen, und führte mich hierher. Und hier muss ich nun büßen, und Perlentränen weinen, bis ein Anderer den Stein Opal besitzt, und ihn nimmt auf die Oberwelt.“

„Komm Mutter der Perlen“, sagte der Jüngling, „ich habe den Stein Opal, und nehme ihn mit auf die Oberwelt.“ Die Mutter der Perlen folgte ihm, und sie kamen wieder an den Turm, darin der Alte saß, und spann. Er trat hinein, und fragte ihn: „Was spinnest du die Haare deines eigenen Bartes mit großen Schmerzen zu Stricken?“

Da antwortete der Greis: „Darum, dass ich an dem Stricke mich niederlasse ins Meer der vergangenen Zeit, und die verlorenen Stunden wieder hole. Darum geize ich mit den Haaren und mit der gegenwärtigen Zeit.“ Und als er das gesagt, warf er ihm einen zornigen Blick zu.

Und die Fee stand wieder bei ihm. Aber der Jüngling fragte: „Wo ist das Meer der vergangenen Zeit?“ und fasste den Alten mit seinem Rade, und trug ihn mit sich. Da führte ihn die Fee hinaus, und zeigte ihm einen unergründlichen Abgrund. Da warf der Jüngling den Greis hinab, und sprach: „Gehe hinab in die Vergangenheit! Du warst, und die Zeit war. Warum hast du sie dir vorüber gehen lassen? Warum bist du nicht mit ihr gegangen?“

Und die Fee nahm den Jüngling bei der Hand, und stürzte sich mit ihm hinab in die Fluten des Meeres der Vergangenheit, und sie schwammen an das andere Ufer; da saß seine ältere Schwester, die erste der Königstöchter, und schaute hinab auf die Tiefe des Meeres, auf die Taten der Menschen, deren Bild sich dar auf spiegelte. Und vor sich hatte sie eine Tafel, und grub die Taten darauf mit einem diamantenen Griffel.

Der Jüngling umarmte aber seine älteste Schwester, und nannte sie Wara, und nahm sie mit sich.

Die Fee führte sie weiter, und sie traten ein in einen Garten, schöner, denn die Gärten der Sterblichen. Ein Regenbogen war gezogen um die Decke des Himmels, und alle Farben lachten nieder auf den Garten, schönere Blumen blühten darin, und hauchten Wohlgerüche, süßer, als die Düfte der irdischen Blumen. Aber in der Mitte des Gartens stand eine Laube von Rosen und Jasmin, und drinnen saß die zweite Schwester des Jünglings, die zweite Königstochter, auf einem Sitze von Rosen und Lilien, und flocht Kränze aus den Blumen, die nie welkten.

Aber der Königssohn winkte ihr, und nannte sie Nossa, und sie nahm zwei ihrer nimmer welkenden Kränze, und folgte ihm. Und die Fee führte sie weg, und sie kamen an eine Stelle, da glühte ein mächtiges Feuer in ungeheurer Lohe, und mehr denn tausend Flammen züngelten rot und weiß und blau daraus in die Höhe, wie feurige Wellen. Aber in der Mitte des Feuermeeres saß in himmlischer Klarheit, mit stiller Ruhe und sanfter Gelassenheit die dritte Königstochter, die dritte Schwester des Jünglings, und winkte ihnen.

Da schritten sie über die Flammenglut ohne Schaden zu ihrer Schwester, und der Jüngling nannte sie Gefione, und nahm sie mit sich, und sie schritten jenseits aus dem Feuer. Und die Fee stand wieder bei ihnen. Da fragte der Jüngling: „Wohin führest du uns jetzt?“

Da winkte ihm die Fee, und sie gingen ihr nach, und kamen an einen Brunnen. Da fragten die drei Königstöchter: „Wie heißt der Brunnen?“

„Er heißt Brunnen des Lebens“, antwortete die Fee, und schöpfte aus dem Brunnen mit kristallener Schale, und reichte ihnen zu trinken; und alle tranken davon, und sanken in tiefen Schlummer.

Der Königssohn hatte einen wunderbaren Traum. Ihm war, er sehe die Königin Tellus, wie er sie gesehen hatte in ihrem Reiche. Aber in ihrer Krone trug sie den Stein Opal. Da däucht es ihn, der Stein Opal falle heraus, und er ging hin, und hob ihn auf. Da welkte plötzlich die Königin Tellus zusammen, und sank nieder, und die Erde tat sich auf, und sie sank unter, und Blumen und Rasen wuchsen drüber her. Aber aus dem Rasen erhob plötzlich eine Lilie, weißer, als der Schnee, ihr reines Haupt, und blühte in ungewöhnlicher Fülle.

Aus diesem Traume erwachte der Jüngling. Aber wie erstaunte er? Er saß auf dem Throne seines Vaters, bei ihm saßen seine drei Schwestern, Wara, Nossa und Gefione, und vor ihn trat sein Lehrer, der alte Weise, und reichte ihm den Stein Opal, aus welchem die Lilie hervorwuchs, die er im Traume gesehen hatte.

Als aber der junge König den Stein und die köstliche Lilie berührte, da schwoll die Blume auf, und ward größer mit jedem Augenblick, es öffnete sich ihr Kelch, und aus ihm trat hervor in wundervoller Schönheit Tellus, die Königin.

„Sie sei deine Gemahlin!“ sagte der Weise, „Sie ist meine Tochter, sei du mein Sohn.“ Und Nossa kam und schwang ihre Blumenkränze ihnen um das Haupt, einen dem Könige, ihrem Bruder, und den andern der Königin, ihrer neuen Schwester. Und das Volk hörte von der Wiederkunft seines Königs und von seiner Vermählung, und kam nun mit Jauchzen und Jubel, ihnen zu huldigen.

Aber die Wunderlilie, die sich wieder geschlossen hatte, und den Stein Opal hob der König wohl auf, und gründete mit seiner Gemahlin ein Reich des Segens und des Glückes. Er brachte die Güter und Schätze der Erde über seine Untertanen; sie brachte das Glück des Himmels und seine Güter auf sie hernieder. Aber die drei Königstöchter wandelten umher in dem Lande, und verteilten die köstlichen Gaben unter die Menschen, und erschienen überall als gute, wohltätige Engel.

Der Weise aber hatte seine Frau, die Mutter der Perlen, gesucht, und sie pflanzten miteinander den Zweig der seltsamen Pflanze, den der Jüngling mitgebracht hatte; und der Zweig wuchs auf, als ein Palmbaum an ihrem Schlosse, und brachte Frieden über das glückliche Land, und seine Blätter sangen Zufriedenheit in die Gemüter der Vorübergehenden.

Es ist aber untergegangen dieses selige Reich. Wie lang es gedauert – – niemand weiß es.

Der Stein Opal ging wieder verloren. Aber Mächtige dieser Erde sollen ihn manchmal wieder gefunden haben.

Die Lilie ist verloren gegangen. Vielleicht, dass sie von einer stillen, tief ahnenden Seele wieder gefunden wird! Es ist aber nicht zu hoffen, dass je wieder die Lilie so schön verbunden werde mit dem Stein Opal, als sie es war in jenem Reiche.

Die drei Königstöchter, Wara, Nossa und Gefione aber wandeln immer noch um in dem Reiche, aber nur in wenige Hütten treten sie ein.

 

Quelle: Albert Ludwig Grimm Kindermärchen. Heidelberg 1809. Albert Ludwig Grimm (1786-1872) war ein deutscher Schriftsteller, Pädagoge und Politiker aus Baden-Baden. Er sammelte ebenso wie die Gebrüdern Grimm volkstümliche Überlieferungen, war jedoch mit ihnen nicht verwandt.

 



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