Sonntagsmärchen: Des Königs Münster

Es war einmal ein König, der erbaute ein prachtvolles Münster zur Ehre und zum Lobe Gottes, und Niemand durfte bei Leib und Leben zu diesem Bau einen Heller beisteuern ... Ein Märchen aus der Sammlung von Ludwig Bechstein.
Titelbild
Ein Bündel Stroh kann in den Augen der Gottheiten ein größeres Opfer sein als ein großer Münster.Foto: iStock
Epoch Times10. März 2024

Es war einmal ein König, der erbaute ein prachtvolles Münster zur Ehre und zum Lobe Gottes, und Niemand durfte bei Leib und Leben zu diesem Bau einen Heller beisteuern, nach des Königs ausdrücklichem Gebot, sondern er wollte es ganz aus dem eignen Schatz erbauen. Und so geschah es auch und das Münster war vollendet, schön und würdig, mit aller Pracht und aller Zier.

Und da ließ der König eine große marmorne Tafel zurichten, in diese ließ er mit goldenen Buchstaben eine Schrift graben, daß er, der König, allein den Dom erbaut habe, und Niemand habe dazu beigesteuert.

Aber als die Tafel einen Tag und eine Nacht lang aufgerichtet war, so war in der Nacht die Schrift verändert, und statt des Königs Namen stand ein andrer Name darauf, und zwar der Name einer armen Frau, so daß es nun lautete, als habe sie das ganze prächtige Münster erbaut. Das verdroß den König mächtig; er ließ den Namen austilgen, und den seinigen wieder einschreiben.

Aber über Nacht stand wieder der Name jener armen Frau auf der Tafel, und Jedermann las, daß sie des Münsters Stifterin sei. Und zum dritten Male ward des Königs Name auf die Tafel geschrieben, und zum dritten Male verschwand er, und jener kam zum Vorschein.

Da merkte der König, daß hier Gottes Finger schreibe, demüthigte sich, und ließ nach der Frau forschen und sie vor seinen Thron heischen.

Voll Angst und erschrocken trat sie vor dem König, der sprach zu ihr: „Frau, es begeben sich wunderliche Dinge, sage mir bei Gott und Deinem Leben die Wahrheit! Hast Du mein Gebot nicht vernommen, daß Niemand zu dem Münster geben solle? Oder hast Du doch dazu gegeben? “

Da fiel das Weib dem Könige zu Füßen und sprach: „Gnade, mein Herr und König! Ich will alles auf Deine Gnade bekennen! Ich bin ein ganz armes Weib; ich muß mich kümmerlich mit Spinnen ernähren, daß mich der Hunger nicht ertötet, und da hatte ich doch einen Hellerlein erübrigt, das möcht‘ ich gar zu gerne darbringen zu Deinem Tempelbau und Gott zu Ehren, aber ich fürchtete, o Herr, Deinen Bann und Deine harte Bedräuung, und da kaufte ich um das Hellerlein ein Bündelein Heu, das streute ich auf die Straße den Ochsen hin, welche die Steine zu Deinem Münster zogen, und sie fraßen es. So that ich nach meinem Willen und ohne Dein Gebot zu verletzen.“

Da ward der König mächtiglich bewegt von der Frauen Rede, und sah, wie Gott der Herr ihren reinen Sinn gewürdigt und ihn als höheres Opfer angenommen, wie des Königs reichen Schatz. Und der König begabte die arme Frau reichlich und nahm sich die Strafe seiner Eitelkeit wohl zu Herzen.

Ein Märchen aus der Sammlung von Ludwig Bechstein (1801-1860).



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