Sonntagsmärchen: Der Glasbrunnen
Auf einem Schlosse wohnte eine Jungfrau, die war so schön, man konnte auf der Welt nichts Schöneres sehn. Sie hatte dunkelbraune Haare, und ihre Augen waren so glänzend schwarz, daß man fast so wenig darein blicken konnte, wie ins liebe Sonnenlicht.
Die Jungfrau hatte aber ein hochmütiges Herz, und alle Freier, die auf das Schloß kamen, wies sie schnöde von hinnen; und wenn es die reichsten Grafensöhne waren, so wurden sie doch nur eine Zeitlang zum Besten gehalten und dann unter Hohn und Spott verabschiedet wie die andern, auf Nimmerwiedersehen. Das ging nun so, so lang es ging.
Eines Tages kam ein Jüngling, der gefiel der Jungfrau heimlich über die Maßen wohl. Ihr stolzes Herz ließ ihr aber nicht zu, daß sie es gestanden hätte; und so ließ sie ihn Geschenke auf Geschenke, eines prächtiger und reicher als das andere, auf das Schloß bringen und wies ihn jedesmal mit künstlichen Worten ab, sooft er sie bat, daß sie jetzt seine Braut werden möchte.
An einem Abend saßen die beiden zusammen im Walde nahe bei einer Quelle, die tief aus einem moosigen Felsen heraussprudelte. Da sagte die Jungfrau zu dem Jüngling: „Ich weiß, Ihr könnt mir keinen Fürstenthron zum Brautschatz schenken; gleichwohl will ich Eure Braut sein, wenn Ihr mir an der Stelle des Dorngebüsches, das hier diese Quelle verdeckt, ein Wasserbecken von Edelsteinen herrichtet, die so rein sind wie Glas und so lauter wie das Wasser, das darein fließt.“
Nun fügte sich’s, daß die Mutter des Jünglings eine Fee war; und als er ihr noch am gleichen Tag erzählte, was die Jungfrau auf dem Schlosse von ihm verlangte, da erstellte sie über Nacht ein Brunnenbecken in dem Wald, das überstrahlte in Blau und Gelb und Karmesin alle Blumen.
Am andern Morgen sagte die Jungfrau zu dem Jüngling: „Etwas habt Ihr getan; es ist aber noch nicht alles, was ich billig verlangen kann. Zu dem Brunnenbecken gehört ein Garten; den müßt Ihr mir noch an die Stelle des Waldes setzen, sonst kann ich Eure Braut nicht sein.“
Das sagte der Jüngling wiederum seiner Mutter; und als am Abend die Jungfrau an dem Brunnen saß, da sproßte es rings um sie her veilchenblau und rosenrot auf, und in einem Augenblicke war der ganze Wald ein Garten; der Boden war mit Millionen Blumen übersät und in den Büschen sangen und hüpften wilde und zahme Vögel, daß es eine Freude war.
Der Jungfrau lachte bei diesem Anblick das Herz, und als nun der Jüngling herzukam, so wäre sie ihm beinahe um den Hals gefallen und seine Braut geworden; allein auf einmal fielen ihre Augen auf ihr Schloß, das sich nun gar alt und seltsam ausnahm neben dem prächtigen Garten mit dem funkelnden Glasbrunnen.
Da sagte sie: „Der Garten gefällt mir; es ist aber noch nicht alles, was ich billig verlangen kann; an die Stelle des alten Schlosses müßt Ihr mir eins von Rubin und Perlen erbauen, sonst kann ich Eure Braut nicht sein.“
Als der Jüngling diese Rede seiner Mutter wieder hinterbrachte, da wurde die Fee von Zorn erfüllt; im Augenblick war der schöne Garten verschwunden und das alte Waldgestrüpp wuchert wieder fort; nur der schimmernde Glasbrunnen blieb, und daran saß jetzt die Jungfrau alle Abend und wartete mit Sehnsucht auf den Jüngling; aber dieser blieb fort; denn seine Mutter hatte ihm das stolze Herz der Jungfrau geoffenbart; und wenn sie nicht gestorben ist, so sitzt sie noch dort.
Ein Schweizer Märchen von Otto Sutermeister (Kinder- und Hausmärchen aus der Schweiz, Aarau: H.R. Sauerländer, 1869, S. 2-4.)
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