Singen, wo niemand mehr singt
Oft beginnt der Musikunterricht mit Singen. Dort, wo sonst niemand mehr singt, wo in den Schulen kein Musikunterricht existiert. Marion Haak, Sängerin und Musikpädagogin, sieht jede Woche bis zu 300 Kids, mit denen sie palästinensische Liebeslieder singt oder auch Meister Jakob, auf arabisch und im Kanon. Marion reist in vier Dörfer, in denen die Al Aksa-Brigaden oder andere Gruppen das Sagen haben, und sie fährt ins Balata Camp in Nablus, in dem die Mauern in den Straßen und Gassen mit Plakaten der Selbstmordattentäter beklebt sind, die dort Märtyrer genannt werden.
Ein Musikprojekt in Palästina zu entwickeln, war eine Initiative des palästinensischen Literaturwissenschaftlers Edward Wadie Said und des israelischen Dirigenten Daniel Barenboim.
Erstes palästinensisches Orchester seit 70 Jahren
Im Herbst 2003 begannen drei, im Januar 2004 arbeiteten bereits fünf Musiker der Barenboim-Said-Foundation in Ramallah. Schon im April 2004 spielte erstmals seit 70 Jahren wieder ein palästinensisches Orchester in Palästina. Die 30 Kinder und Jugendlichen konnten nur zwei Stücke spielen – den Marsch aus Carmen und einen slawischen Tanz von Antonin Dvorak -, aber das Publikum war aus dem Häuschen. Tränen der Freude flossen, die Zuhörer waren überwältigt von der Musik. Und Daniel Barenboim fühlte sich an sein erstes Konzert erinnert: Als Kind hatte er als Zugabe nur die Stücke wiederholen können, die er bereits gespielt hatte. Auch das frisch gegründete Jugendorchester schmetterte als Zugabe noch einmal den Marsch aus Carmen.
Ramzi war 17, als er seine erste Begegnung mit klassischer Musik in einem Flüchtlingscamp in Ramallah hatte. „Wir hatten noch nie solche Instrumente gesehen. Es war wie ein Traum“, sagt Ramzi. Die Kinder und Jugendlichen sind durch die jahrelange, alltägliche Präsenz der Gewalt mehr oder weniger traumatisiert und völlig ohne Perspektive. Durch den Unterricht entwickeln sich über Monate und Jahre enge Beziehungen zwischen Schülern und Lehrern, die inzwischen nicht nur aus Deutschland, sondern auch aus England, Holland, Österreich, Japan, Südkorea, USA, Palästina und Australien kommen. Die leuchtenden Augen der Kinder, die sonst nichts haben, werden die Musiker nicht vergessen. Für die Kinder sind das nicht einfach ein paar Musikstunden, es ist eine Begegnung mit völlig anderen Menschen, als sie sie sonst kennen lernen. Die Lehrer sind nicht durch Gewalterlebnisse geprägt, nicht Teil einer hierarchischen und korrupten Gesellschaft – für die Kinder sind sie wie freundliche Marsmenschen, die immer wieder in ihre Heimat mit den israelischen Checkpoints, den Mauern, Ausgangssperren und Schießereien eingeflogen werden. Für die Mädchen öffnet sich durch die Begegnungen mit ihren Lehrerinnen ein Fenster in eine bessere Welt – heraus dem Gefängnis Westbank mit seiner Frauenunterdrückung.
Rund 20 Musiker haben im Laufe der vergangenen Jahre für längere Zeit in Ramallah gewohnt und gearbeitet. Einige waren überfordert. Nichts lief wie geschmiert. Jederzeit konnte ihnen allen die Einreise verweigert werden. Es gab nicht einmal richtige Räume für die Musik. Oft wurde in Treppenhäusern, in Fotokopier-, Computerräumen und Küchen geübt. Manchmal kommt niemand zum verabredeten Termin. Es gibt unzählige Gründe: Es wird gestreikt, weil die Israelis Palästinenser im Gazastreifen erschossen haben; oder die israelischen Checkpoints werden für Stunden oder Tage geschlossen: oder es gibt eine Schießerei zwischen bewaffneten Familienclans in gestohlenen Autos und den palästinensischen Sicherheitskräften.
Während des palästinensischen Aufstands wurde gewissermaßen im Untergrund unterrichtet, denn radikale Palästinenser proklamierten, es könne nicht sein, dass Musik gespielt wird, während Palästinenser im Freiheitskampf gegen die Besatzung sterben.
Nablus, eine Stadt mit 180.000 Einwohnern, ist von den Besatzern eingekesselt und nur über eine Straße und durch einen Checkpoint erreichbar. Seit Jahren fallen fast jede Nacht israelische Kommandos und Todesschwadronen in die Stadt ein. Sie sprengen sich durch Wände und Türen, ein normales Leben gibt es kaum mehr. Unter solchen Umständen ist ein Abend mit einem Jugendorchester, das Stücke aus Peter Tschaikowskys Nussknacker spielt, ein unvergessliches Ereignis, eine Hymne an das Leben und das Überleben.
Der vielfach mit Preisen und Stipendien ausgezeichnete Fotograf Peter Dammann begleitet seit April 2004 den Aufbau eines Orchesters in den palästinensischen Autonomiegebieten. Seine Aufnahmen entstehen aus einer großen Nähe und Vertrautheit zu den Musikern und Schülern. Im Museum für Kunst und Gewerbe sind jetzt 45 von ihm selbst vergrößerte Schwarzweißfotografien zu sehen.
Info zur Ausstellung: Ein Jugendorchester in Palästina
Fotografien von Peter Dammann. 11. Juli bis 21. September 2008 im Museum für Kunst und Gewerbe, Steintorplatz, Hamburg.
Dienstag – Sonntag 10 bis 18 Uhr, Donnerstag bis 21 Uhr. Museums-Eintritt: 8 Euro / 5 Euro, dienstags ab 16 Uhr und donnerstags ab 17 Uhr immer 5 Euro, Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren frei.
(pd/hs)
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