Reflexionen über (m)einen Geigenvirtuosen: Oscar Shumsky
Sein Andenken ist mir immer gegenwärtig; sein Vorbild immer da – seine Kraft, sein Geist, sein Ehrfurcht gebietendes Talent, seine Demut, seine ablehnende Haltung gegenüber Normen. Er redete lieber mit Kaufleuten als mit irgendeinem musikalischen Pseudo-Intellektuellen mit Unmengen von akademischen Graden. Er verachtete alles, was nicht ehrlich gemeint war, und nahm nie ein Blatt vor den Mund. Er war nie allgemein bekannt und er war stolz darauf. Wenn er „gut“ sagte, war das die Obergrenze, mehr gab es nicht. „Fabelhaft“ war den Göttern vorbehalten.
Mein großartiger Vater wurde 1917 in Philadelphia als Sohn russischer Eltern geboren. Sein Vater und seine Mutter, die knapp mit dem nackten Leben aus Russland entkamen, schmuggelten seine älteren Geschwister aus Russland heraus während einer Zeit, als dort der Pogrom wütete. So kann mit ziemlicher Sicherheit gesagt werden, dass seine äußerst intelligente Mutter ihre Lektionen über die Realität des Lebens gelernt hatte.
Sein Vater war ein wunderbarer Kunsttischler aus dem Gebiet um Odessa und ein bewundernswerter Klezmer-Geiger (Klezmer: aus Osteuropa stammende traditionelle jüdische Instrumentalmusik). Mein Vater war fähig, dieser Vergangenheit zu entkommen und dennoch eine Unschuld für das Schöne zu bewahren.
Er war ein Wunderkind der spektakulärsten Art. Er war erst sieben Jahre alt und damit der jüngste Solist, als er mit dem Philadelphia-Orchester spielte. Der Dirigent Leopold Stokowsky meinte, dass er „eines der sensationellsten Genies war, die ich je in meinem Leben gehört habe.“ Ich habe Aufnahmen von ihm, als er elf war, die seine erstaunliche Kunst beweisen. Sie sind den Aufnahmen aller berühmten Geiger ebenbürtig. Seine zahlreiche und riesige Diskografie ist legendär und dient den großen Komponisten als Vorlage und Vermächtnis. Zusätzlich zu seiner Liebe für das Geigenspiel war mein Vater offen für viele andere Facetten des Lebens. Er war auch ein großer Fotograf, und das setzte einen Kontrast zu seinem sonstigen öffentlichen Leben. In der Dunkelkammer klammerte sich niemand an ihn, kritisierte niemand sein letztes Konzert oder verglich seine Kunst mit einem eben entdeckten Wunderkind. Warum war er nicht berühmter? Warum spielte er keine 200 Konzerte im Jahr?
Was ich von meinem Vater gelernt habe
Ich lernte, dass die Erfahrung eines Konzerts zwar bedeutsam ist, aber auch weit weg von einem natürlichen Zustand. Es ist nicht wie morgens aufstehen und Zähne putzen. Ich lernte, alles Unwesentliche wegzulassen. Ich lernte, dass man zum Pflücken von Gänseblümchen das Herz von ihrem Duft schmelzen lassen muss – wenn wir jung sind, mögen wir die süßen Klänge, die virtuos gespielten Passagen und den Überraschungsfaktor. Letzten Endes ist Geige spielen auch ein aufregendes taktiles Erlebnis – das muss auch seinen Platz bekommen.
Später lernte ich, dass nur das Wesentliche überdauert, und obwohl dessen Parameter abgenommen haben, ist der geschaffene Rahmen ehrlich, die Grenzen definiert und würdig und voll der Energie des Komponisten.
Für meinen Vater war Geige spielen kein Amüsement, und er hasste diesen Begriff. Es war auch kein Business – diesen Begriff hasste er ebenso. Das war es nicht, nein, es sollte erhellen, die Last leichter machen, indem sie durch das Geigenspiel aufgedeckt wird, den Widerspruch beleuchtet, denn es gibt einen Widerspruch in der Last des Lebens. Walt Whitman, der Lieblingsdichter meiner Mutter, sagt: „Leben ist ein Widerspruch.“ Und ich meine dies im positiven Sinn, weil es leicht ist, negativ zu sein und ebenso leicht, oberflächlich positiv zu sein, aber das zu spüren und zu entziffern, was von Bedeutung ist, das bleibt dem wahren Wesen der großen Musiker vorbehalten: wie zum Beispiel Bach, Mendelssohn, Händel, Rachmaninoff, Tschaikowsky – und das ist in keinem Fall leicht.
Es ist der Widerspruch, über den ich immer weiter lerne, sei es nun die Arznei zur Verdauung, das Nachdenken über sich ohne Versteckspiel oder die bitter-süße Schönheit einer Phrase, das Gefühl eines prickelnden Vibratos, herzzerreißender Pathos – der Ärger, die Anmut, der menschliche Zorn – es entlockt eine Träne oder ruft Gänsehaut hervor.
Die Geige ist erstaunlich. Sie kann zu all dem führen und Sie wissen, wo Sie stehen. Da ist kein Bedarf an lächelnden Gesichtern und TV-Starsuche.
Über den Autor:
Eric Shumsky ist ein Weltklasse-Bratschist. Er unterrichtet und trat in der ganzen Welt mit Orchestern und als Solist auf.
Er plant in nächster Zeit eine Ausstellung mit den Schwarzweiß-Fotografien seines Vaters.
Weitere Informationen unter: www.shumskymusic.com
Text erschienen in Epoch Times Deutschland Nr. 17/08
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