Organist Paul Jacobs: Die Klassiker geben dem Leiden der Menschheit einen Sinn
Was wäre eine Welt ohne Musik, ohne Bilder, ohne Kunst? Der viel beachtete Organist Paul Jacobs konzertierte am vergangenen Wochenende vor ausverkauftem Haus in der Hamburger Elbphilharmonie. Aus diesem Anlass veröffentlichen wir hier ein Porträt von Jacobs, das 2016 in unserer US-amerikanischen Ausgabe erschienen ist. Darin spricht er über die transformative Kraft, die in der Schönheit der Kunstklassiker steckt. Und über den Reichtum, sich dieser geheimnisvollen Faszination hinzugeben.
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Paul Jacobs ist der einzige Organist der Welt, der je einen Grammy gewonnen hat. Er ist zutiefst davon überzeugt, dass die klassischen Künste den unvermeidlichen Schmerz der Menschheit verwandeln und ihm einen Sinn geben. Es ist die Schönheit der Klassiker, die diese Alchemie bewirkt.
Von Natur aus meiden wir Schmerz. Doch die Schönheit der Kunst zieht uns an, hält uns in ihrem Bann. Sie ermöglicht uns, über Dinge nachzudenken, die wir sonst wahrscheinlich nicht betrachten würden. Und wenn wir dem Leiden mittels der transformierenden Kraft der Kunst begegnen, erhält der Schmerz nicht nur Bedeutung, sondern auch einen Sinn. Wir haben nicht umsonst gelitten, sagt Jacobs.
Den Schmerz verwandeln
Bis zum 20. Jahrhundert ging es in der Kunst vor allem um Schönheit. Diese wurde ganz großgeschrieben. Und mit der Schönheit gingen Wahrheit und Güte Hand in Hand – „die als universelle Tugenden der westlichen Zivilisation galten“, führt Jacobs aus. Bis zu dem Zeitpunkt, als die Moderne aufkam, im späten 19. Jahrhundert, wurden Künstler vom Prinzip der Schönheit angeleitet.
Vor der Moderne war und ist „selbst die Kunst schön, die verstörende Themen oder dunkle Emotionen darstellte.“
Bachs „Johannespassion“ ist ein Oratorium, das in erster Linie auf Johannes‘ Erzählung von Christi Tod basiert. Ein besonders intensiver Moment ereignet sich, „wenn der Chor ‚Kreuzige! Kreuzige!‘ ruft.“
„Wir vergessen oft, dass ‚Passion‘ nicht nur ‚Leidenschaft‘ bedeutet, sondern im griechischen und römischen Ursprung ‚Leiden‘ oder ‚Aushalten‘. Bachs Musik drückt genau dies aus – die intensive Qual Christi für die Menschheit. Bach verwandelt den Schmerz Christi in das wunderschöne Medium der Musik, und die Musik gibt unserem eigenen Leben Hoffnung“, ist sich Jacobs sicher.
Ein weiteres Beispiel sei „Der Tod Ophelias“ des Präraffaeliten John Everett Millais. Das Gemälde fängt den Moment in Shakespeares „Hamlet“ ein, als Ophelia kurz vor ihrem Ertrinken singend im Bach treibt und dabei für einen Moment von ihren mit Luft gefüllten Kleidern getragen wird. Trotz der Morbidität des Themas glaubt Jacobs, dass wir von der Sinnlichkeit und eigentümlichen Gelassenheit des Gemäldes fasziniert sind.
„Durch einen gekonnten [Einsatz] von Farbe, Licht und einem Gespür für die Natur werden wir in eine andere – schönere – Welt entführt.“
Eine geheimnisvolle Kraft
In der klassischen Skulptur der Laokoon-Gruppe versuchen Schlangen, einem trojanischen Priester und seinen Söhnen das Leben zu nehmen. In gewisser Weise ist dies eine schreckliche Vision, denn sie offenbart Qualen ohne erkennbare Hoffnung oder Möglichkeit der Erlösung. Und doch findet Jacobs, dass die Marmorfiguren, wie sie aus dem Stein auftauchen, faszinierend sind.
„Ich bin erstaunt über die dramatische Kraft des Werks, die unglaubliche Technik des Bildhauers, und ich denke immer mehr darüber nach, warum es so kraftvoll nachhallt. Sobald wir anfangen, die ‚Warum‘-Fragen zu stellen, sind wir auf der Suche nach Sinn. Und das ist wesentlich für die menschliche Existenz“, sagt der Musiker.
Jacobs entdeckte allmählich die tiefere Bedeutung der Musik. Er beschreibt deren Anziehungskraft als geheimnisvoll und sie packte ihn schon in jungen Jahren, obwohl seine Eltern nicht musikalisch waren. Sein unstillbares Verlangen danach brachte ihn dazu, sich immer wieder Aufnahmen von klassischer Musik anzuhören.
Heute wird Jacobs von vielen als der bedeutendste Organist der USA angesehen. Er beeindruckt durch eine umwerfende Virtuosität, und das auf einem Instrument, welches selten im Fokus höchster Kunstfertigkeit steht.
Jacobs‘ Ruhm begann, als er im Alter von 23 Jahren Bachs komplette Orgelwerke in einem 18-stündigen Marathon spielte. 2003 wurde er Dozent an der renommierten Juilliard School in New York City und schon im darauffolgenden Jahr zum Vorsitzenden der Orgelabteilung ernannt. Damit war er einer der jüngsten Dozenten in der Geschichte der Schule.
2011 erhielt er einen Grammy für seine Einspielung von Olivier Messiaens letztem Werk „Livre du Saint-Sacrement“. Für die Aufführung dieser zweistündigen Komposition des französischen Organisten wurde er jetzt im Rahmen des Internationalen Musikfestes Hamburg am 25. Mai in die Elbphilharmonie eingeladen.
Transformativ auf mehreren Ebenen
Natürlich stellt nicht jedes Kunstwerk oder Musikstück Schmerz dar. In vielen Fällen geht es um Leichtigkeit oder Freude. Dies kann das Leid eines Betrachters oder Zuhörers verwandeln. „Lindert die Schönheit früherer Musik nicht auch heute noch unsere Sorgen und Nöte? […] Der Sonnenschein Mozarts erheitert immer meine Seele, wenn sie der Welt überdrüssig ist“, sagt Jacobs.
Betrachtet man diesen Wandlungsprozess aus der gegenüberliegenden Perspektive, so ist das Leben der Künstler selbst mit großen Opfern verbunden. Sie müssen viel Mühe auf sich nehmen und endlose Stunden arbeiten. Nur so können sie ihr Handwerk perfektionieren und neue Werke erschaffen.
Die musikalische Wissenschaft der Harmonie und des Kontrapunkts, erklärt Jacobs, seien Disziplinen, die sich nur durch immense Anstrengungen vieler Komponisten entwickelten. Mozart, Haydn und Beethoven beherrschten alle die Regeln des Kontrapunkts mittels „Gradus ad Parnassum“, einer einflussreichen Abhandlung des österreichischen Komponisten und Theoretikers Johann Fux.
Wie alle Komponisten der Vergangenheit verbrachte Mozart viele mühsame Stunden damit, den Stil früherer Meister zu studieren, zu kopieren und zu verinnerlichen – so wie Malerlehrlinge die Werke ihrer Vorgänger kopierten.
„Es gibt keine Abkürzungen für diesen Prozess“, konstatiert Jacobs.
Mozart schrieb einst an einen Freund: „Die Leute irren sich, wenn sie meinen, meine Kunst falle mir leicht. Ich versichere Ihnen, niemand hat mehr gearbeitet als ich. […] Es gibt keinen berühmten Meister, dessen Musik ich nicht viele Male fleißig studiert hätte.“
Ein Schatz, den es zu bewahren gilt …
Die Klassiker seien heute besonders wichtig, behauptet Jacobs, weil sie „ein Heilmittel gegen moderne Ängste und Verzweiflung sein können, vielleicht besser als jedes Medikament“. Auf nahezu allen Bildungsebenen würde es heute versäumt, jungen Menschen die reiche Geschichte des Westens näherzubringen, und das sei tragisch; sie seien ihres eigenen kulturellen Erbes beraubt worden.
„Die meisten Menschen kennen nahezu keine Musik, die vor ihrer Generation entstanden ist, und sind gleichgültig, wenn es darum geht, die künstlerischen Errungenschaften vergangener Zeiten auszuschöpfen“, ein riesiges Reservoir, das Jahrhunderte zurückreiche, so Jacobs.
Die Tragik liege dabei darin, dass die Klassiker, die unser Urbedürfnis als Mensch ansprechen – nämlich über Bedeutung und Sinn nachzudenken – in unserem hektischen modernen Leben weitgehend fehlen.
Jacobs glaubt, dass die klassischen Künste der Seele Stabilität bieten – nicht nur als ästhetische, sondern auch als spirituelle Erfahrung. Manchmal werde dieser Aspekt zu selten diskutiert oder aufgegriffen und daher von vielen heutigen Künstlern vernachlässigt.
Jacobs beobachtet eine Ablehnung bestimmter Aspekte der Realität. Und zwar jene, die über die physische Welt hinausgehen – also Dimensionen, die nicht unbedingt greifbar sind, einschließlich und bis hin zur Existenz Gottes.
Um es mit Bachs eigenen Worten auszudrücken: „Ziel und letzter Grund aller Musik sollte nichts anderes sein als die Erfrischung des Geistes und die Verherrlichung Gottes.“
… und ein Schatz, den es wieder zu heben gilt
„Man benötigt keine formale Ausbildung, um von schöner Musik berührt zu werden. Man muss die Feinheiten des Kontrapunkts oder der Harmonie nicht verstehen“, sagt Jacobs.
Wenn wir uns von der Schönheit der klassischen Musik berühren lassen, ist das erst der Anfang. Das unvoreingenommene Hören, einfach um die Sinne zu verwöhnen, kann uns inspirieren, tiefer zu gehen.
Jacobs lädt diejenigen, die nicht wissen, wo sie anfangen sollen, ein, sich mit Mozart zu beschäftigen. „Wie könnte man sich nicht zu Mozart hingezogen fühlen? Seine Musik ist so natürlich und rein. Jeder kann sie verstehen und genießen.“
Wer bereits von einem bestimmten Komponisten fasziniert ist, den ermuntert Jacobs, sich intensiv mit ihm zu beschäftigen. „Studieren und forschen Sie, erweitern Sie Ihr Wissen auf jede erdenkliche Weise: Nehmen Sie an einem Kurs teil, lesen Sie ein Buch, googeln Sie ihn.“
„Mit anderen Worten: Übernehmen Sie Verantwortung für Ihre eigene Beziehung zur Vergangenheit“, sagt er.
„Wenn wir einen Menschen lieben, wollen wir ihn auf allen Ebenen verstehen – intellektuell, emotional und spirituell.“ Dasselbe gilt für die Musik. „Wir fühlen uns davon angezogen, weil sie schön ist. Der genaue Grund, warum wir uns davon angezogen fühlen, ist das Mysterium.“
„Aber im Gegensatz zu den Wissenschaften ist es nicht notwendig oder gar möglich, das Mysterium zu erklären; wir können es nur vertiefen. Glücklicherweise hat Schönheit – selbst die, die in einer längst vergangenen Zeit entstand – kein Verfallsdatum“, fügt er hinzu.
Komponist für Komponist, Künstler für Künstler können wir einen Teil unseres Erbes zurückgewinnen. Und diese Schätze „trösten und beruhigen uns weiterhin, indem sie uns ein wortloses Wissen zuflüstern“.
Über die Autorin:
Sharon Kilarski hat einen Hintergrund in darstellender Kunst. Sie schreibt Theaterkritiken und Meinungsartikel über Kultur sowie die Klassiker-Serie für die Epoch Times.
Dieser Artikel erschien im Original auf theepochtimes.com unter dem Titel „Organist Paul Jacobs: The Classics Give Purpose to Humanity’s Suffering“. (deutsche Bearbeitung so)
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