Ein Streifzug durch die Geschichte des Wiener Neujahrskonzerts
Beethovens Neunte sowie Operetten von Johann Strauß, Franz Lehár oder Jacques Offenbach behaupten sich seit vielen Jahrzehnten als Dauerbrenner auf Silvester- und Neujahrskonzerten.
All diese Musik wird einem gewissen Harmoniestreben gerecht: die Beethoven-Sinfonie mit ihrem monumentalen Schlusschor auf Schillers Ode „An die Freude“, der utopischen Idee einer Verbrüderung aller Menschen, sowie die Melodien von Johann Strauß Vater und Sohn – heitere, ausgelassene, aber auch besinnliche, einprägsame Musik, die gute Laune schafft.
Wiener Klang
Ein traditionsreiches Neujahrskonzert unter den Spitzenorchestern der Welt ragt jedoch unter allen heraus: das der Wiener Philharmoniker, welches sich mit einer Fernsehübertragung in über 90 Länder eines Millionenpublikums versichert.
Der unverwechselbar spezifische, aber schwer zu definierende Wiener Klang des Orchesters trägt gewiss zu dieser Beliebtheit entscheidend bei. Musiker aus den Reihen des Orchesters, die ich dazu befragte, tun sich schwer damit, in Worte zu fassen, was ihn ausmacht.
Im Goldenen Saal des Wiener Musikvereins werden gleichwohl all die feinsinnigen Details ohrenfällig, die ihn in der Summe ausmachen, vor allem dann, wenn ein ganz Großer wie Riccardo Muti (83) am Pult steht. Auch wenn die Musik wie besonders in den Märschen hier und da einmal lärmt, so wird sie doch bestimmt von Eleganz und subtiler Dynamik.
Zu den weiteren Finessen zählen leichte Verzögerungen bei einem Auftakt oder einer Überleitung sowie Beschleunigungen zu einer beschwingten, rauschhaften Folge und ein leicht zuckriges, aber nie überzuckertes Schwelgen in den Violinen, ob nun im „Lagunen-Walzer“, der „Annen-Polka“ oder in den „Dorfschwalben aus Österreich“, reizvoll durchsetzt von naturalistischen Vogelstimmen.
Dass Orchester und Dirigent mit leichtem Augenzwinkern miteinander musizieren, voller spürbarer Freude und einem gewissen Schalk, bewirkt bei alledem das gewisse Etwas.
Eigenes Profil
Anders als in anderen Spitzenorchestern, die sich im Zuge der Globalisierung stark internationalisiert haben, wie beispielsweise die Berliner Philharmoniker, rekrutieren sich die Wiener Philharmoniker überwiegend aus österreichischen Mitgliedern und pflegen damit ihr ganz eigenes Profil. Von Generation zu Generation haben sie ihre spezifische Tradition immer weitergegeben und bewahrt.
Dabei begleiten Vater Johann Strauß und Sohn, dessen 200. Geburtstag die Musikwelt 2025 feiert, die Wiener Philharmoniker keineswegs vom Beginn ihrer Geschichte an. So wie deren Walzer, Polkas und Märsche im ausgehenden 19. Jahrhundert abschätzig als „Unterhaltungsmusik“ eingestuft wurden, fürchtete das Orchester damals wohl einen sozialen Abstieg. Jedenfalls brauchte es seine Zeit, bis sich die leichte Musik im Repertoire des Orchesters durchsetzte.
Im Zuge persönlicher Begegnungen mit Johann Strauß Sohn änderte sich die Einstellung allmählich. Gleichwohl avancierten die Wiener Philharmoniker auch nach dem Tod des „Walzerkönigs“ noch nicht zu seinen überzeugten Interpreten. Eine Wende zeichnete sich erst 1921 ab, als Arthur Nikisch anlässlich der Enthüllung des Johann-Strauß-Denkmals im Wiener Stadtpark die Walzer „Künstlerleben“, „An der schönen blauen Donau“ sowie „Wein, Weib und Gesang“ dirigierte.
Es war dann vor allem aber der Strauß-Fan Clemens Krauss, der die Wiener Philharmoniker näher an Strauß heranführte, als er in den 1920er-Jahren sein Amt bei ihnen antrat.
Glanzreiche Ära
Vier Monate nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, also in dem dunkelsten Kapitel der Orchestergeschichte, am 31. Dezember 1939, sollten muntere Walzermelodien die Sorge um kämpfende Familienmitglieder an der Front verdrängen. Die Einnahmen des Konzerts gingen an das von Adolf Hitler initiierte „Winterhilfswerk“.
1948, nach seiner Entnazifizierung, kehrte Krauss ans Pult für die Neujahrskonzerte zurück; in einem zweijährigen Intermezzo während seines Dirigierverbots durch die Alliierten nach Kriegsende sprang Josef Krips für ihn ein.
Nach Krauss’ Tod verzeichnet die Chronik Willi Boskovsky als einen neuen und bedeutenden künstlerischen Leiter in der Geschichte des Wiener Neujahrskonzerts. Der Mann begründete eine glanzreiche Ära. Mit insgesamt 25 Dirigaten des Traditionskonzerts in Folge von 1955 bis 1979 stellte er einen bis heute unübertroffenen Rekord auf. Lorin Maazel, der den Stab am 1. Januar 1980 von ihm übernahm, war der letzte, der das Konzert in Folge bis 1986 leitete. Seit 1987 wechseln sich die Dirigenten jährlich ab.
Seither zählt Riccardo Muti mit seinem nunmehr siebten Einsatz zu den Spitzenreitern. Außer ihm und Maazel kommt nur noch der indische Stardirigent Zubin Mehta auf immerhin fünf Einsätze, Daniel Barenboim und Mariss Jansons standen dreimal am Pult zur Jahreswende, alle anderen Dirigenten maximal zweimal.
„Beste Medizin“
Muti war es auch, der das Neujahrskonzert 2021 vor einem leeren Saal dirigierte. „Dieses Konzert konnte überhaupt nur deshalb so gut über die Bühne gehen, ohne den erfahrenen Muti wäre das nicht gut gegangen“, ist sich Daniel Froschauer, Vorstand des Orchesters, sicher.
Auch Muti erinnerte sich auf der Pressekonferenz wenige Tage vor dem jüngsten Event an die seltsame Stille im Corona-Jahr. Zwar sei Stille etwas sehr Wichtiges in der Musik selbst, aber im Musikverein, bedingt durch die Abwesenheit von Publikum, sei sie doch schon sehr speziell gewesen, sagte der 83-Jährige.
Polkas, Walzer und Märsche würden ja doch den Enthusiasmus des Publikums befeuern, der auf die Musizierenden zurückstrahlt. Infolgedessen könne man es sich nicht vorstellen, wie „schwierig es war, diese Musik ohne Publikum mit Intensität aufzuladen“.
Entschieden wie kein Zweiter – dies auch immer wieder gegenüber der Politik – macht sich Muti für Musik als unverzichtbare „beste Medizin“ für die Seele stark und dafür, dass nicht ausgerechnet an ihr gespart oder sie wie in Zeiten von Corona in den digitalen Raum verlegt werden sollte.
„Wir brauchen mehr Musik und nicht weniger“, lautet seine stete Rede. Gerade in Krisenzeiten wie den heutigen stehe die Musik für „Schönheit, Freude und Frieden“. Und als eine Friedensbotschaft wollte Muti sein siebtes, letztes Neujahrskonzert auch verstanden wissen.
„Vivace con fuoco“
Das geht noch aus einem anderen Grund in die Annalen ein: Erstmals spielten die Wiener ein Stück von einer Komponistin. Sie heißt Constanze Geiger und war bis dato überregional nahezu unbekannt. Wiederentdeckt und ausgegraben wurde die Künstlerin von der österreichischen Musikwissenschaftlerin Irene Suchy, die am 1. Januar 2024 erstmals in Wien Walzerkomponistinnen auf einem besonderen Wiener Neujahrskonzert vorstellte.
Raimund Lissy, Geiger bei den Wiener Philharmonikern, hatte dieses Konzert verfolgt, sich daraufhin näher mit Constanze Geiger befasst und kürzlich eine Biografie über das vielseitig auch als Pianistin und Schauspielerin begabte Wunderkind vorgelegt.
Insbesondere ihre Berührungspunkte mit der Strauß-Familie weckten die Faszination des Autors und der Umstand, dass ihre Walzer von Johann Strauß Vater und Sohn bereits aufgeführt worden waren, als sie noch ein Kind war.
Die Aufführung ihres „Ferdinandus“-Walzers beim jüngsten Neujahrskonzert fördert tatsächlich eine bemerkenswerte Komposition zutage, die Geiger im Alter von zwölf Jahren schrieb und schon eine eigene Handschrift erkennen lässt, wie ihr auch Maestro Muti attestiert: Selbstbewusst beginne der Walzer mit einem „Vivace con fuoco“, sagt er, und das bedeute so viel wie: „Hier bin ich“.
Im weiteren Verlauf finden sich dann aber auch sehr lyrische Strecken voller Anmut und Grazie in diesem Walzer, unter dessen Oberfläche wie nahezu in allen Werken der Strauß-Familie Melancholie zum Vorschein kommt.
Wäre das nicht ein so „tolles Stück“, würde ich es nicht dirigieren, versicherte Muti, den immer nur die Qualität eines Stückes interessiert, weniger, ob es von einem Mann oder einer Frau geschrieben wurde.
Nachfolger offen
Die Balance zwischen den unterschiedlichen Ausdrucksstimmungen herzustellen, ist eine der größten Schwierigkeiten bei einem Wiener Neujahrskonzert, und das kann aktuell kaum ein anderer Dirigent so gut wie der Italiener.
Insofern stehen die Wiener Philharmoniker vor einer großen Herausforderung, in den kommenden Jahren Dirigenten zu finden, die auf diesem hohen Niveau die Geschichte dieses Konzerts fortsetzen. Das wird nicht einfach.
Die Reihen der Altmeister, zu denen in früheren Jahren Zubin Mehta oder Daniel Barenboim zählten, die aus gesundheitlichen Gründen wohl nicht mehr antreten werden, lichten sich. Außer Christian Thielemann und Franz Welser-Möst bleiben nicht mehr viele übrig. Dann müssen Jüngere ran.
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