Was sagt‘ der Herbst der Ros‘ ins Ohr – Von Friedrich Rückert

Aus der Reihe Epoch Times Poesie - Gedichte und Poesie für Liebhaber
Titelbild
Beschämt senkt der Jasmin sein Haupt, weil ihm der Ost die Locken schor. Es streut der Wind mit voller Hand von Bäumen Blättergold empor.Foto: iStock

Was sagt‘ der Herbst der Ros‘ ins Ohr

Was sagt‘ der Herbst der Ros‘ ins Ohr,

daß sie die Munterkeit verlor?

Er mahnt‘ sie an die Nichtigkeit

der Treue, die der Lenz ihr schwor.

Sie reißt entzwei den Schleier, den

sie nahm, als er zur Braut sie kor;

Und wie sie bleich vom Throne sinkt,

erseufzt der Nachtigallen Chor.

Wer brach entzwei das Lilienschwert?

So blank geschliffen war’s zuvor.

Die Tulp‘ entfloh so eilig, daß

den Turban sie am Weg verlor.

Beschämt senkt der Jasmin sein Haupt,

weil ihm der Ost die Locken schor.

Es streut der Wind mit voller Hand

von Bäumen Blättergold empor.

Das dürre Laub schwirrt durch die Luft

wie Fledermäus‘ aus Gräbertor.

Das Totenlied der Schöpfung spielt

der Herbstwind auf geknicktem Rohr.

Die finstre Tanne trägt den Schnee

wie weißen Bund ums Haupt ein Mohr.

Der Berg nahm weißen Hermelin,

weil ihm die nackte Schulter fror.

O sieh des Jahrs Verwüstung an

und hole frischen Wein hervor!

Die Sonne sandt‘ uns, eh sie wich,

den jungen Most ins Haus zuvor,

Daß er uns leucht‘ an ihrer Statt,

wann ihre Kraft dämpft Wolkenflor.

Sieh, wie des Wintergreises Grimm

des Frühlingskindes Hauch beschwor.

Er weckt in Bechertönen ein‘

verzaubert‘ Nachtigallenchor,

Und trunkne Blicke sich ergehn

auf schöner Wangen Rosenflor.

Du trink, und seufz‘ im Winter nicht;

denn auch im Frühling seufzt ein Tor.

Friedrich Rückert (1788 – 1866)

[Am 23. September ist Herbstanfang]



Epoch TV
Epoch Vital
Kommentare
Liebe Leser,

vielen Dank, dass Sie unseren Kommentar-Bereich nutzen.

Bitte verzichten Sie auf Unterstellungen, Schimpfworte, aggressive Formulierungen und Werbe-Links. Solche Kommentare werden wir nicht veröffentlichen. Dies umfasst ebenso abschweifende Kommentare, die keinen konkreten Bezug zum jeweiligen Artikel haben. Viele Kommentare waren bisher schon anregend und auf die Themen bezogen. Wir bitten Sie um eine Qualität, die den Artikeln entspricht, so haben wir alle etwas davon.

Da wir die Verantwortung für jeden veröffentlichten Kommentar tragen, geben wir Kommentare erst nach einer Prüfung frei. Je nach Aufkommen kann es deswegen zu zeitlichen Verzögerungen kommen.


Ihre Epoch Times - Redaktion