Vision – von Josephine von Knorr
Vision
Hier sah man einst empor sie steigen,
Mit ihren dunkelgrünen Zweigen,
Mit ihrem Säulenschaft von Holz.
Genosse früherer Geschlechter,
Von des Jahrhunderts Hauch geweiht,
Des Schlosses vielgetreuer Wächter
Durch meine ganze Jugendzeit!
Wenn ich zum fernen Bergesgipfel
Gft träumerisch durchs Fenster sah,
Stand sie mit ihrem hohen Wipfel,
Den Horizont verdeckend, da.
Harzduftend und von Sommergästen
Umblüht, umsungen und umschwärmt;
Das Eichhorn huschte in den Aesten,
Vom letzten Abendstrahl erwärmt.
Nun ist die langverhüllte Stelle
Am Himmel gegenüber leer;
Die Wolken zieh’n in Sonnenhelle —
Der schatt’ge Baum, er weht nicht mehr.
Ich kann mich noch des Tags erinnnern,
Da er sich bog in Sturmesnot,
Bis ich, erschüttert tief im Innern,
Ihn stürzen sah, gefällt und tot. —
Oft in der Stunde der Gespenster,
Im Dämmerschein der Sommernacht,
Seh‘ ich die Fichte vor dem Fenster
In ihrer alten ernsten Pracht.
Mir ist’s, als höbe sie aufs neue
Den Wipfel hoch und dunkelgrün,
Als ließe wieder die Getreue
Durch ihr Gezweig die Sterne glüh’n.
Bis auf dem nächtigen Gefilde
Die Baumgestalt in Luft zergeht,
Und statt dem hingeträumten Bilde
Der Stern des Nordens vor mir steht.
Josephine von Knorr (1827-1908)
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