Selma Lagerlöf: „Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen“

Aus ihrer Feder stammt Nils Holgersson: Vor 115 Jahren, im Jahr 1909, wurde die große schwedische Dichterin Selma Lagerlöf als erste Frau mit dem Nobelpreis für Literatur geehrt. Ihre warmherzigen, klugen Geschichten berühren auch heute.
Titelbild
Frühling im ländlichen Südschweden – hier kam Nils Holgersson möglicherweise vorbei.Foto: Rolf_52/iStock
Von 23. November 2024

Am 20. November 1858 wird Selma Ottilia Lovisa Lagerlöf als das fünfte von sechs Kindern auf dem elterlichen Gut Mårbacka im Südwesten Schwedens geboren. Ein angeborenes Hüftleiden beeinträchtigt das Mädchen stark, macht es jedoch weder traurig noch bitter.

Freude am Lauschen, Lesen, Spielen und Lernen

Vielleicht ist die starke motorische Einschränkung sogar einer der Gründe, warum sich das Kind ganz besonders freudig in die fantastische Welt der Geschichten und Sagen ihrer Heimat versenkt, die vor allem Vater und Großmutter in abendlichen Stunden gerne erzählen.

Bald schon ist Selma darüber hinaus auch leidenschaftliche Leserin. Und: Sie erweckt Handlungen und Personen eigener Geschichten bei improvisierten Aufführungen auf dem Dachboden des kleinen Herrenhauses mit Puppen zum Leben.

Auch die Ruhe des Landlebens, seine innere Verwobenheit mit dem jahreszeitlichen Wandel der Natur, die aufmerksame Beobachtung von Tieren und Menschen in ihrer Umgebung prägen Selma sehr.

Porträt der 23-jährigen Selma Lagerlöf aus dem Jahr 1881. Foto: Anna Ollson, gemeinfrei

Unterrichtet werden ihre Schwestern und sie im Gegensatz zu den Brüdern zu Hause. Nur im Jahr vor ihrer Abschlussprüfung im Jahr 1882 besucht Selma eine staatliche Schule in Stockholm. Im Anschluss beginnt sie die Ausbildung zur Volksschullehrerin und tritt 1885 eine Stelle in der südlichsten Provinz Schwedens, in Schonen, an.

Schicksalsschläge und erste Erfolge

Im selben Jahr stirbt Selma Lagerlöfs Vater. Fünf Jahre später folgt ein weiterer schwerer Schlag für die Familie Lagerlöf. Obwohl sich der wirtschaftliche Niedergang schon seit Jahren abzeichnet, ist es ein schmerzlicher Schock, dass Gut Mårbacka, Familienheimat und Ort glücklicher Kindertage nun verkauft werden muss.

Das Jahr dieses Abschieds hält jedoch auch Selma Lagerlöfs ersten kleinen literarischen Erfolg bereit. Neben ihrer pädagogischen Arbeit hat sie seit Jahren Gedichte und Erzählungen geschrieben. Mit Kapiteln ihres später veröffentlichten Erstlingswerks gewinnt sie nun den ersten Preis eines Kurzgeschichtenwettbewerbs.

Als schließlich der Roman „Gösta Berling“ im Jahr 1891 erscheint, ist dem Buch zunächst kein Erfolg beschieden. Erst zwei Jahre später bringt die begeisterte Rezension eines bekannten Literaturkritikers die glückliche Wende.

Der langersehnte Erfolg macht es Selma Lagerlöf nun möglich, sich für das Leben einer freischaffenden Schriftstellerin zu entscheiden. Ihre ganze Energie und Beobachtungsgabe widmet sie ihrer schriftstellerischen Berufung.

Ob sie ausgedehnte Reisen durch Südeuropa unternimmt oder zu ihrer jüngeren Schwester in das mittelschwedische Falun in der Provinz Dalarna zieht – immer schlagen sich Erlebnisse und Erkundungen der jungen Autorin in neuen Romanen nieder.

Genaue Recherchen und einfühlsame Erzählweise

So ist kurz vor Lagerlöfs Ankunft in der Provinz Dalarna eine Gruppe von christlichen Bauern nach Jerusalem ausgewandert, um sich in Palästina einer frommen amerikanisch christlichen Gemeinde anzuschließen.

Im Roman „Jerusalem“ verarbeitet Lagerlöf eigene Nachforschungen und Eindrücke von Land und Leuten in Dalarna. Sie reist nach Jerusalem und spricht mit den Ausgewanderten, um authentisch und aufrichtig Zeugnis von deren Geschichte abgeben zu können.

Die bewegenden Ereignisse und Erlebnisse der schwedischen Bauernfamilien verdichtet sie in einzelnen Erzählungen, die sich untereinander zu einem großen Handlungsstrang verweben.

Ein Auswandererepos entfaltet sich und beleuchtet poetisch und tiefgründig die geistig religiösen Hintergründe und Lebenswege der Emigranten in der Fremde ebenso wie die ihrer daheimgebliebenen Angehörigen.

Porträt aus dem Jahr 1902 von Carl Larsson. Foto: unbekannt, gemeinfrei

Das zweibändige Epos führt den Zeitgenossen nun endgültig Lagerlöfs literarische Bedeutung vor Augen. Und: Schon kurz nach dem Erscheinen der Originalausgabe im Jahr 1902, liegt „Jerusalem“ auch als deutsche Übersetzung vor, wodurch
 Lagerlöfs unvergleichliche Erzählkunst auch in Deutschland großen Widerhall erfährt.

Lesebuch für die Kinder Schwedens – ein Welterfolg

Auch der Verband schwedischer Volksschullehrer wird auf die einstige Kollegin aufmerksam und beauftragt sie mit einem Lesebuch ganz besonderer Art.

Es soll schwedischen Kindern die eigene Heimat, ihre Landschaften, Leute und Bräuche nahebringen. Selma Lagerlöf ist begeistert und macht sich gleich nach Vollendung ihres Epos über die Bauern von Dalarna mit großem Elan ans Werk.

Das Meisterwerk, das seitdem unauflöslich mit ihrem Namen verbunden ist, wird den Titel
 „Die wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen“ tragen und 1906 erscheinen.

Umschlag zu „Wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen“ von Wilhelm Schulz, 1923. Foto: Kuwimuc, gemeinfrei

Selma Lagerlöfs atemberaubend schöne Idee ist es, die Leser zusammen mit dem Helden des Buches in die Lüfte zu erheben. Gemeinsam mit dem Jungen Nils Holgersson fliegen sie im Geiste über Schweden dahin.

Zusammen mit Nils und den Wildgänsen erleben sie so die archaische Schönheit, Rauheit und Ursprünglichkeit des Landes. Jede Landung auf der Erde wiederum zeigt die Vielfalt und Einzigartigkeit der einzelnen Landschaften, ihrer Menschen, Bauwerke und Bräuche, der Flora und Fauna.

Kraftvoll und märchenhaft beginnt das Buch und wird diesen eindrucksvollen Grundton bis zum letzten und 55. Kapitel nicht verlieren. Vom ersten Moment an zieht die Erzählung und jede einzelne ihrer poetischen Episoden in den Bann.

Die wundersame Geschichte des Nils Holgersson

Der 14-jährige Nils wohnt mit seinen Eltern auf einem einfachen kleinen Bauernhof im Süden Schwedens. Sein egoistisch, faules und missgünstiges Wesen bereitet Vater und Mutter großen Kummer. Eines Tages, allein auf dem Hof, begegnet ihm ein Wichtelmann, dem er sogleich übel mitspielen möchte.

Doch die Folgen für Nils sind verheerend. Der Wichtelmann rächt sich für die Boshaftigkeit des Jungen. Nils ist nun selbst ein winziger Wicht, den die Tiere des Hofes, die er bisher nur zu gerne quälte, angreifen und verspotten.

Nur der Gänserich Martin verteidigt ihn, ist aber vom Ruf der Wildgänse, die über den Hof ziehen, betört und will mit ihnen in die Freiheit fliegen. Nils versucht ihn verzweifelt zurückzuhalten, überschätzt aber seine Kräfte und wird von Martin mit in die Lüfte gezogen.

Als die Eltern auf ihren Hof zurückkehren, ist und bleibt ihr Sohn zu ihrer großen Erschütterung spurlos verschwunden. Sein Schicksal ist es nun, sich auf der langen Reise mit den Wildgänsen in vielen Abenteuern und Gefahren als treuer und mutiger Reisegefährte zu bewähren.

Briefmarke der Deutschen Post zum 150. Geburtstag. November 2008 von Wilhelm Schulz. Foto: Deutsche Post AG, gemeinfrei

Zu Beginn sind es Wut und Scham über das eigene Los, die den Jungen begleiten. Bewegende Erlebnisse, Erfahrungen und Gespräche lassen in ihm aber immer mehr den innigen Wunsch zu innerer Umkehr und Neubeginn reifen. Die Schönheit von echter und treuer Freundschaft, von Hilfsbereitschaft und wahrer, aufopfernder Liebe werden Nils Holgersson immer stärker bewusst.

Als er sich schließlich mit seiner Wichtsgestalt abgefunden hat und trotz seiner körperlichen Schwäche für seinen treuen Freund, den Gänserich Martin alles riskiert, wandelt er sich in den Menschenjungen zurück, der er einst war. Innerlich ist er jedoch ein anderer geworden.

Von Generationen geliebt

Generationen haben Selma Lagerlöfs einfühlsame, warmherzige und spannende Geschichte der abenteuerlichen Reise durch Schweden mit tiefer Freude und innerer Anteilnahme gelesen oder vorgelesen. Filme wurden gedreht, Cartoonserien produziert. Doch nichts kann an die eigene Lektüre oder das abendliche Vorlesen der Abenteuer des Nils Holgersson heranreichen.

In den grandiosen Beschreibungen schwedischer Landschaften, in den berührenden Dialogen zwischen Tier und Mensch, den Erzählungen aus der Historie Schwedens und seiner beginnenden Industrialisierung, in der Zartheit liebevoller Gedanken, Erinnerungen und Hoffnungen, bewegt sich die Phantasie des Lesers wie auf Flügeln.

Sie fliegt durch die Bilder einer wunderbar poetischen und gleichzeitig unprätentiösen Sprache einer Autorin, die die Vorstellungskraft ihrer Leser wunderbar weckt und weitet.

Portät von Selma Lagerlöf (1858–1940) von Carl Larsson im Jahr 1908, ein Jahr vor der Verleihung des Nobelpreises an die Dichterin. Foto: Carl Larsson, gemeinfrei



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