Sara berichtet: Sie behandelten uns wie Tiere. Ich wurde vom IS versklavt und misshandelt und habe dennoch überlebt
Gemeinsam mit der Journalistin Célia Mercier dokumentiert die Jesidin Sara, wie sie im August 2014 den Überfall der IS auf ihr Dorf im Irak erlebt hat. Im Namen der Religion ermorden die Gotteskrieger alle Männer, verschleppen die Frauen und Kinder. Mehr als 5000 Frauen und Kinder wurden aus diesen Gebieten gefangen genommen und auf das Unmenschlichste körperlich und seelisch misshandelt. Bis heute sind die meisten von ihnen nicht freigekommen, viele wurden getötet oder gelten noch als vermisst.
Innerhalb weniger Tage verändert sich Saras Leben und sie berichtet in ihrer Biografie „Sie behandelten uns wie Tiere“, wie sie die körperliche und seelische Tortur ihrer Gefangenschaft erlebt, durchlebt und wie sie in einer lebensbedrohlichen Flucht der grausamen Gefangenschaft entkommt.
Gemeinsam mit der Journalistin und Buchautorin Cécile Mercier schreibt sie in Tagebuchform ihre eigenen und die Erlebnisse anderer Opfer auf, und lässt uns so an Unvorstellbarem teilhaben, was wir mit normalem Menschenverstand kaum nachvollziehen mögen. Und Saras Schicksal ist nur eins von Hunderttausenden, die ihre Heimat verlassen müssen, Angehörige verloren haben und in der Fremde nicht willkommen sind. Von den körperlichen Schmerzen abgesehen, sind die seelischen Wunden meist viel größer, da die Angst vor weiteren wie ein Wundmal eingebrannt ist.
Als am 10. Juni 2014 die irakische Stadt Mossul in die Hände der IS-Kämpfer fällt, wurde die Errichtung eines Kalifats ausgerufen. 500.000 Einwohner flüchteten panisch, darunter viele Christen, aber auch Kurden und andere Glaubensrichtungen wurden gnadenlos von dem Daesch, den Dschihadisten, verfolgt und umgebracht.
Saras Familie selbst gehört den Jesiden an, einer der ältesten Religionen der Welt, heute eine religiöse Minderheit in Kurdistan. Die Jesiden verehren Elemente der Natur: Sonne, Mond, Feuer und Luft. Am heiligsten ist ihnen die Sonne, des göttlichen Lichts wegen.
Sobald sich die anderen Religionen etablierten, wurde das Volk der Jesiden verfolgt, versklavt und musste seitdem unzählige Massaker erleiden. Nun auch im 21. Jahrhundert durch die Kämpfer des Daesch, der sich selbst gerne als Islamischer Staat bezeichnet. Mit schmerzhaft sachlichen Sätzen beschreibt Sara den Morgen, als das Martyrium mit voller Wucht zuschlägt.
Am 3. August um 2.30 Uhr morgens reißen uns Schüsse aus dem Schlaf: Um das Nachbardorf wird heftig gekämpft. Entsetzt springen wir aus den Betten. Einer meiner Cousins, der auf dem Hausdach Wache gehalten hat, kommt in den Salon.
„Mein Schwager hat gerade angerufen. Der Daesch greift sein Dorf an und verwüstet alles. Mein Schwager hat keine Munition mehr und rät uns, möglichst schnell zu fliehen.“
Wir stehen alle unter Schock. Unablässig klingeln die Telefone. Meine Tante Kadschal brüllt in ihr Handy: „Packt eure Sachen zusammen, sofort!“
Eine meiner Schwestern, Susan, ruft mich an und fleht mich unter Tränen an: „Ihr müsst fliehen!“ Ihr Mann arbeitet beim kurdischen Militär, sie hat Angst um ihn und ihre Familie.
Seit dem Fall Mossuls herrscht Treibstoffknappheit, doch glücklicherweise hatte Servan ein paar Kanister Benzin in unserer Garage gebunkert. Er tankt das Auto voll, während ich ganz schnell eine Tasche packe, mit Kleidung, Ausweis, Schmuck und den Waffen meines Vaters, einer alten russischen Schnellfeuerpistole, Pistolen und Jagdgewehren. Es fällt mir schwer, alles zusammenzusuchen, so sehr zittere ich vor Furcht. Im Salon schmiegen sich die Kinder an ihre Mütter, die sie zu beruhigen versuchen. Wir stopfen zwei Autos mit unseren Sachen voll. Alles ist bereit.
Doch dann weigert sich mein Vater zu gehen.
(S. 75 –76)
Hier herrscht seit Menschengedenken das patriarchalische System und die ganze Familie muss sich dem Oberhaupt und seinem Willen fügen. Der Vater kann und will nicht glauben, dass der IS sie als ungefährliche Minderheit wirklich aus ihrer Heimat vertreiben will. Als Familienoberhaupt glaubt er, die Männer der IS überzeugen zu können, sie in ihrem Dorf weiter leben zu lassen.
Doch die Männer des Daesch betrachten die Jesiden als Heiden, die nichts Besseres als den Tod verdienen oder der Sklaverei. Sara beobachtet alles sehr genau. Eigentlich war sie inmitten ihrer Hochzeitsvorbereitung, nun scheint sich alles schlagartig zu ändern.
Am nächsten Tag erscheinen die Daesch-Männer wieder beim Bürgermeister. Diesmal fordern sie, dass das gesamte Dorf zum Islam konvertiert. Entsetzt versucht Ahmed Jasso, sie davon abzubringen: „Das wird schwierig. Einige der Alten hier sind noch sehr stark in ihrem jesidischen Glauben verwurzelt. Das könnt ihr nicht von ihnen verlangen.“
Die Männer antworten: „Ihr habt drei Tage Zeit. Wer dann nicht konvertiert, stirbt.“
(S. 80.)
Da sich das gesamte Dorf verweigert zu konvertieren, werden alle Männer umgebracht, die Frauen verschleppt, als Sklavinnen gehalten. Mädchen und Frauen vergewaltigt, behandelt wie Tiere.
Sie bekommen in ihrer Gefangenschaft kaum etwas zu trinken, die hygienischen Bedingen sind mehr als katastrophal. Eine Tatsache allerdings, die die Frauen als einzig brauchbare Waffe nutzen, damit sie den Männern als möglichst unattraktiv und unrein erscheinen. Aber, auch diese Tatsachen sind den Kriegern irgendwann egal. Die Frauen werden verschachert, untereinander ausgetauscht, benutzt und wie Müll wieder abgelegt. Junge, Alte, Jungfrauen, Verheiratete, Mütter – alle werden auf brutale Art und Weise vergewaltigt.
Und plötzlich ist die so hochgepriesene Religion der Eroberer mit bestimmten Richtlinien und Geboten anscheinend nicht wert, eingehalten und gelebt zu werden. Frauen, insbesondere verheiratete Frauen, sind laut dem Koran sehr wohl zu achten und zu respektieren. Nichts von den Sätzen der Suren aus dem Koran wird hier eingehalten. Diesen Widerspruch beschreibt Sara sehr genau, zeigt uns damit, wie austauschbar die Gedanken und Wertvorstellungen der IS eigentlich sind.
Unten herrscht Chaos. Von oben sehe ich, wie Wachen Töchter aus den Armen ihrer brüllenden und sich wild wehrenden Mütter reißen. Die Wachen drohen mit ihren Waffen und verschleppen Jasmin, die kleine Serve und viele mehr. An den Haaren zerren sie die Mädchen nach draußen. Ich erkenne Miriam an ihren braven Zöpfen und ihrem marineblauen Kleid. Sie sieht mich oben an der Treppe stehen und winkt mir zum Abschied. Miriam ist gerade einmal 13 Jahre und wirkt mit ihrem Püppchengesicht und ihrem Kleinmädchenkörper noch jünger.
(S. 99)
Während die Mädchen und Frauen vor allen Dingen den körperlichen Grausamkeiten ausgesetzt sind, versuchen die Männer des IS, die kleinen Söhne der Gefangenen zum Islam zu bekehren. In einem Raum werden die Jungens zusammengepfercht, indoktriniert und sollen den Koran lernen und zitieren. Geplant ist, aus ihnen die zukünftigen Extremisten zu formen.
Der kleine Farhad berichtet, was ihnen widerfahren war:
Die Wachen haben verlangt, dass wir den Koran lernen. Da ist ein Mann auf dem Teppich gesessen und hat gesagt: „Sprecht mir nach. Ihr müsst bestätigen, dass es nur einen Gott gibt und dass Mohammed sein Prophet ist. Ihr werdet gute Muslims und ihr werdet sehen, dass der Islamische Staat das Paradies ist!
Wir wurden gezwungen, das muslimische Glaubensbekenntnis abzulegen, sonst hätten sie uns noch mehr geprügelt. Danach hat uns der Mann Seiten aus dem Koran vorgelesen, die wir auswendig wiederholen mussten. Wer das nicht geschafft hat, wurde mit Stöcken geschlagen. Einige Kinder sind auf dem Boden eingeschlafen, weil sie keine Kraft mehr hatten. Nach einigen Tagen hat der Mann seine Bemühungen aufgegeben, weil wir nichts behalten haben. Doch die Wachen haben uns täglich geprügelt, wenn wir geweint oder nach unseren Müttern gerufen haben.“
(S.121)
Dass Sara während ihrer Gefangenschaft nicht völlig zusammenbrach und sich nicht aufgab, ist sicherlich ihrem starken Lebens- und Überlebenswillen zu verdanken. In einer Nacht entflieht sie mit einigen Frauen und Kindern ihren Peinigern und mit Hilfe ihrer Verwandtschaft gelingt ihnen die spektakuläre Flucht.
Dennoch, sie hat die Angst, die Alpträume, als Gepäck mitgenommen und ist und bleibt eine gezeichnete Frau, die sich in ihrer neuen Heimat Frankreich mehr als fremd fühlt. Sara wartet nach wie vor auf eine Nachricht von ihrem Vater, ihrer Mutter, den Brüdern und anderen Verwandten. Bis zum heutigen Tag weiß sie nicht, was aus ihnen geworden ist.
Amina Saeed, die von 2010 bis 2014 als kurdische Abgeordnete im irakischen Parlament saß, gründete ein Hilfskomitee für Frauen, die dem Daesch entflohen sind. Was auch sie erleben musste, übersteigt jegliche Vorstellungskraft. Interessant ist jedoch, dass, obwohl die Amerikaner genug Koordinaten besaßen, wo über 5000 Menschen, vor allen Frauen und Kinder gefangen gehalten wurden, sie nichts taten, um den Bedrängten zu helfen. Es boten sich wiederholt Gelegenheiten, alle Gefangenen zu befreien.
Amina Saeed hofft, dass eines Tages das Massaker an den Jesiden als Genozid anerkannt wird.
Indessen geht das Morden des IS weiter, alles im Namen ihrer Religion, die sie mehr als verraten und tagtäglich missbrauchen. So brutal und menschenverachtend der IS auch ist, es gilt dennoch klarzustellen, dass die meisten Muslime, die bei uns leben, sich genau wie wir von dieser Terrormiliz distanzieren.
Sara mit Célia Mercier
Sie behandelten uns wie Tiere. Ich wurde vom IS versklavt und misshandelt und habe dennoch überlebt.
TB, 224 Seiten
mvg Verlag (12. Juni 2017)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3868828087
Euro: 19,99