„Wohlfühl-Pädagogik schadet unseren Kindern“ – Wie man eine Bildungsnation an die Wand fährt
Es ist nicht das Erste von Josef Kraus‘ Büchern über die Bildung. Manche kennen vielleicht seine Vorgänger wie „Helikopter-Eltern: Schluss mit Förderwahn und Verwöhnung“ oder „Ist die Bildung noch zu retten: Eine Streitschrift“.
In seinem neuesten Werk geht der erst kürzlich ausgeschiedene Präsident des Deutschen Lehrerverbandes mit der deutschen Schulpolitik erneut hart ins Gericht. Ein großes und zukunftsträchtiges Problem sieht Kraus hierbei in einer Ideologie, die alles gleich gültig machen wolle.
Denn „dies ergibt Gleichgültigkeit und das sei wiederum das Gefährlichste überhaupt, was Deutschland weiter nach unten durchreichen wird“. Es sei auch eine Ideologie, die unterschiedliche Begabungen negiere und keine bestimmten Werte fokussiere – verstärkt durch eine Hybris, die vor allem dem Marxismus geschuldet sei.
Durch eine Art Spaßpädagogik, bei der Kinder nicht mehr Sitzen bleiben dürften, Noten und Zeugnisse abgeschafft werden müssten, der Frontalunterricht als veraltet eingeschätzt wird und Auswendiglernen als überflüssig gilt, könne man sich nur allzu gut vorstellen, dass Individualität, Leistung und Anstrengungsbereitschaft, sowie andere wichtige entwicklungsrelevante Faktoren auf der Strecke blieben.
„Die um sich greifende Wohlfühl-, Gute-Laune-, Spaß- und Gefälligkeitspädagogik schadet unseren Kindern“
Die um sich greifende Wohlfühl-, Gute-Laune-, Spaß- und Gefälligkeitspädagogik schadet unseren Kindern, meint Kraus. Je niedriger die Hürden in der Schule, desto schwerer fällt es den jungen Leuten, die Hürden im späteren Leben zu überwinden.
Statt den Kindern wieder mehr zuzutrauen und auch mehr zuzumuten, greift in Deutschland indes seit einigen Jahrzehnten eine Erleichterungspädagogik um sich. Schuld sei dabei die Behauptung, dass Deutschlands Schüler doch sehr unter schulischer Belastung leiden würden. Was im internationalen Vergleich aber nicht stimmt, wie Kraus mit Zahlen aus anderen Ländern belegt.
Dass diese pseudopädagogische Erleichterungsattitüde falsch sei, wüssten Generationen von Eltern und Lehrern seit der Antike. Kraus zitiert dazu den großen Schriftsteller der Weltliteratur und gewiss einer der größten Analytiker menschlicher Psyche, Fjodor Michailowitsch Dostojewskij: „Es ist bedauerlich, dass man den Kindern heute alles erleichtern will …. Die ganze Pädagogik kennt jetzt nur noch die Sorge um die Erleichterung. Erleichterung ist aber keineswegs eine Förderung der Entwicklung, sondern im Gegenteil ein Verleiten zu Oberflächlichkeit.“
Der heutige Pädagoge denke nicht mehr darüber nach, wie er den Kindern Schwieriges erfolgversprechend beibringen könne, sondern schaffe Schwieriges ab. Damit erziehe er zur Oberflächlichkeit. Leistung und Anstrengung seien vor allem bei einer 68er geprägten Pädagogik zu Missgunst-Vokabeln geworden.
Dabei bedenke man offenbar kaum, dass auch der Sozialstaat nur dann funktioniert, wenn er von der Leistung von Millionen von Menschen getragen wird, so Kraus. Deshalb könne das Sozialprinzip nicht über das Leistungsprinzip gestellt werden.
Frontalunterricht eines kompetenten Lehrers ist wirksamer als wenig strukturierte Gruppenarbeit
„Frontalunterricht“ brauche man eigentlich nicht mehr abzuschaffen, da das Bild vom Lehrer, der die Schüler pro forma ein Buch aufschlagen lasse und sie dann mit Monologen zuschüttet, längst überholt sei. Doch dann sei die Wende gekommen, mit der das Kind mit dem Bade ausgeschüttet wurde. Der Lehrer sollte zum Edutainer und Animateur werden, zum „Moderator“, Lern- und Projekt-„Manager“ und „Lernprozessorganisator“.
Eine Evaluation dieser Unterrichtsformen habe es allerdings nie gegeben, obwohl namhafte Studien schon in den 1990er Jahren die reformpädagogischen Erwartungen an einen hauptsächlich schülerzentrierten Unterricht widerlegt haben sollen.
„Demnach ist ein besonders leistungsförderlicher Unterricht dadurch charakterisiert, dass der Lehrer hohe Anforderungen stellt, die Schüler auch individuell intensiv berät und unterstützt, einen klaren und verständlichen Unterricht abhält und wenig Zeit in nicht-fachliche Aktivitäten investiert, Geduld bei Langsamkeit von Schülern hat und die Klasse effizient führt, so dass nur wenige Störungen und Unterbrechungen resultieren“, so Kraus.
Über den in gewissen Kreisen polemisch diskreditierten „Frontalunterricht“ schrieb Gerhard Roth, einer der führenden deutschen Hirnforscher bereits 2011: „Der Frontalunterricht eines kompetenten, einfühlsamen und begeisternden Lehrers ist allemal wirksamer als eine wenig strukturierte Gruppenarbeit und ein nicht überwachtes Einzellernen.“ Das ist richtig, weiß Kraus, und jeder Schulerfahrene wisse: Kinder ziehen begeistert mit und lassen jede Animation beiseite liegen, wenn ein Lehrer von einer Sache spannend und mitreißend zu erzählen weiß…
Nach Roths Analyse sei das „selbstbestimmte“ Lernen nur für eine „sehr kleine Gruppe hochbegabter Schüler sinnvoll, aber nicht für die Mehrzahl der Schülerinnen und Schüler.“
Und was ist mit Noten und Zeugnissen?
Der Glaubenskrieg um Schulnoten sei schon ein Politikum geworden, meint Kraus. Dabei kämen leibhaftige Pädagogik-Professoren und Schul-MinisterInnen, etwa aus NRW oder Niedersachsen, tendenziell zu Ergebnissen wie: Noten seien eine ständige Bedrohung des kindlichen Selbstwertgefühls.
Doch die Hoffnung, mit der Abschaffung von Noten zugleich schlechte Schulleistungen abschaffen zu können, sei ähnlich dem Bemühen, das Fieber aus der Welt zu bannen, indem man das Fieberthermometer abschafft.
Mit einer notenfreien und vereinheitlichenden Schule sorge man für ein Stück entindividualisierter Gesellschaft, so Kraus. Und weiter: Notenzeugnisse, so unvollkommen sie sein mögen, geben eindeutig Rückmeldung über Gelerntes; sie signalisieren zusätzlichen Förderbedarf; sie erleichtern eine individuell optimale Wahl der Schullaufbahn, und sie sind Anreiz zu unverminderter oder vermehrter Anstrengung …
Sprachbeherrschung zum Erleben und Verantworten von Freiheit
Ein ganzes Kapitel widmet der Autor dem falschen Gebrauch der Sprache und zeigt hierbei die Wichtigkeit eines unterschätzten Kulturguts auf. In dem Unterkapitel „Rechtschreibung – Schlechtschreibung“ bemerkt Kraus, dass die Liebe zur eigenen Sprache eine patriotische Selbstverständlichkeit sein sollte. Die Muttersprache sei wichtig für den Zusammenhalt eines Gemeinwesens. Sie habe zudem viel mit nationaler und kultureller Identität zu tun. Die Deutschen hätten hier leider immer noch ein Problem.
Und: Wer die Sprache beherrsche, durchschaue schneller den Missbrauch von Sprache in Reklame und Propaganda. Zudem sei Sprachbeherrschung Grundlage für das Erleben und Verantworten von Freiheit, sei Voraussetzung von Selbtstbewusstsein.
Gründe für den „jammervollen Zustand des Bildungssystems“
Josef Kraus identifiziert in seinem neuesten Buch viele Punkte, die den Boden für den „jammervollen Zustand des Bildungssystems“ bereiten. Dabei erkennt er eine Selbstvergessenheit der Deutschen, die sich permanent vor ein Weltgericht zerrten. Jeder kulturelle Abstieg beginne mit der Selbstverleugnung und der Überangepasstheit.
Weiter würden die Deutschen als Gesinnungsethiker den zentralen Aspekt der Verantwortungsethik vergessen. Die ganze Welt solle Gleichheit, Gerechtigkeit und Kuscheligkeit erlangen. Und – egalitäres, sozialistisches Denken führe zu Durch-Ökonomisierung und Überakademisierung der Bildung.
Und auch die Ansicht, dass man den Kindern nichts mehr zumuten könne, ist verwerflich. Alle Pädagogik soll offenbar vom zerbrechlichen Kind, dessen permanenter Traumatisierbarkeit und dessen unmittelbaren Bedürfnissen her gedacht werden. Dadurch geschehe eine Infantilisierung durch Psychologisierung.
Zuletzt ist das Buch nicht nur Analyse sondern auch Handlungshilfe für Eltern, die alledem nicht nur phlegmatisch zuschauen wollen. Er gibt Tipps wie:
- Misstrauen Sie der Schulpolitik. Inszenieren Sie notfalls Revolten.
- Seien Sie Ihren Kindern in puncto Neugier und Lesen ein Vorbild!
- Fragen Sie nicht nur, was Kinder krank macht, sondern fragen Sie, was Kinder stark macht!
- Lassen Sie Ihre Kinder gelegentlich warten.
Dreißig Jahre war Josef Kraus ehrenamtlicher Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, ändern konnte er offenbar nichts.
Erschienen ist das Buch am 16. März 2016, hat 272 Seiten und kostet 22 Euro.
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