„Ungläubiges Staunen“: Islamwissenschaftler Kermani versenkt sich in die christliche Bilderwelt

Islamwissenschaftler und Autor Navid Kermani wird am 18. Oktober mit dem 66. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet
Titelbild
Von 25. September 2015

Er ist eine der wichtigsten Stimmen in unsere Gesellschaft: Vor einer Woche ist das aktuellste Buch  von Navid Kermani „Ungläubiges Staunen – Über das Christentum“ im Münchner C.H. Beck Verlag erscheinen. Ein Islam-Gläubiger versenkt sich in die christliche Bilderwelt und beschreibt staunend eine Religion voller Opfer und Klage, Liebe und Wunder, unvernünftig und abgründig, zutiefst menschlich und göttlich – ein Christentum, von dem Christen in dieser Ernsthaftigkeit, Kühnheit und auch Begeisterung nur noch selten sprechen.

Als man Navid Kermani zum diesjährigen Träger des Friedenspreises  des Deutschen Buchhandels  am 18. Juni 2015 gewählt hatte, konnte noch niemand ahnen, dass nur wenige Wochen später eine der größten Flüchtlingswellen auf Deutschland zuströmen würde, die von vielen als islamische Bedrohung und Unterwanderung betrachtet wird. Am 18. Oktober 2015 findet in der Frankfurter Paulskirche die Preisverleihung an Navid Kermani statt. Möglicherweise ein prophetisches Zeichen, das unsere Gesellschaft zur Neuorientierung veranlasst?

In der Begründung des Stiftungsrats heißt es:

„Den mit 25.000 Euro dotierten Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verleiht der Börsenverein im Jahr 2015 an Navid Kermani. Der deutsche Schriftsteller, Orientalist und Essayist ist eine der wichtigsten Stimmen in unserer Gesellschaft, die sich mehr denn je den Erfahrungswelten von Menschen unterschiedlichster nationaler und religiöser Herkunft stellen muss, um ein friedliches, an den Menschenrechten orientiertes Zusammenleben zu ermöglichen.

Seine wissenschaftlichen Arbeiten, in denen er Fragen der Mystik, der Ästhetik und der Theodizee insbesondere im Raum des Islam nachgeht, weisen Navid Kermani als Autoren aus, der mit großer Sachkenntnis in die theologischen und gesellschaftlichen Diskurse einzugreifen vermag. Die Romane und Essays von Navid Kermani, insbesondere aber auch seine Reportagen aus Krisengebieten zeigen, wie sehr er sich der Würde des einzelnen Menschen und dem Respekt für die verschiedenen Kulturen und Religionen verpflichtet weiß, und wie sehr er sich für eine offene europäische Gesellschaft einsetzt, die Flüchtlingen Schutz bietet und der Menschlichkeit Raum gibt.“

Navid Kermani, der am 27. November 1967 in Siegen als vierter Sohn iranischer Einwanderer geboren wurde, ist ein westlicher Intellektueller, der religiös hochmusikalisch ist. In seiner Dissertation ging er der Frage nach der Schönheit des Islams nach. Als gläubiger Muslim verbindet er ein unbedingtes Engagement für die Universalität der Menschenrechte mit einer starken Neigung zu den islamischen Mystikern. Kermani beschreibt dabei das Sublime, das Ekstatische und das  Transzendente.

Die Mystik ist ja gerade die Vorstellung, dass durch spirituelle Übung Körper, Seele und Geist, das Hohe und das Niedrige, das Ewige und das Zeitliche in eine vorübergehende Übereinstimmung gebracht werden können. Kermanis Kombinationen aus Ost und West sind oft unnachahmlich. Und sie zeigen, dass die doppelte Staatsbürgerschaft kein Loyalitätsproblem darstellt, sondern kulturelle Identität durch Interdependenz gleichzeitig vertieft und über sich selbst aufklärt.

Er ist mit der in Hamburg lehrenden  Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur verheiratet, hat zwei Töchter und lebt in Köln.  Sein Vater ist Arzt und hatte im Iran in einem christlichen Krankenhaus gearbeitet, Kermanis drei ältere Brüder sind ebenfalls praktizierende Ärzte. Im Alter von fünfzehn Jahren arbeitete Kermani als Lokaljournalist für die Westfälische Rundschau.  Während des Studiums schrieb er für überregionale deutsche Zeitungen und von 1996 bis 2000 war er fester Autor im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

Kermani studierte Orientalistik, Philosophie und Theaterwissenschaften in Köln, Kairo und Bonn. Unterstützt von der Studienstiftung des deutschen Volkes verfasste er eine Dissertation mit dem Titel „Gott ist schön. Das ästhetische Erleben des Koran“. Damit wurde er 1998 im Fach Islamwissenschaft an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn promoviert. 2006 habilitierte er sich im Fach Orientalistik mit der grundlegenden Studie „Der Schrecken Gottes – Attar, Hiob und die metaphysische Revolte“.

In den Themen seiner literarischen Arbeit kreist Kermani um menschliche Grenzerfahrungen angesichts des Todes, im Alltag, der Erfahrung der Musik oder der Sexualität. Seine wissenschaftlichen Schwerpunkte liegen in der Koranforschung und der islamischen Mystik. Kermani ist auch als Reporter aus den Krisengebieten der Welt bekannt geworden und berichtete zuletzt im September 2014 für das Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL aus dem Irak.

Seit Oktober 2007 ist Kermani Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, von 2009 bis 2012 war er Senior Fellow am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen. 2009 wurde Navid Kermani außerdem zum Korrespondierenden Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Hamburg ernannt. Er war von 2006 bis 2009 Mitglied der Deutschen Islamkonferenz. Im Frühjahr 2014 lehrte er als Max Kade Distinguished Visiting Professor deutsche Literatur am Dartmouth College in den Vereinigten Staaten.

Auf Einladung von Bundestagspräsident Norbert Lammert hielt Navid Kermani am 23. Mai 2014 die Festrede anlässlich der Feierstunde des Deutschen Bundestags zum 65. Jahrestag des Grundgesetzes.

Für sein Werk und das gesellschaftliche Engagement hat Navid Kermani viele Preise erhalten, darunter Hessischer Kulturpreis (2009), Hannah-Arendt-Preis (2011), Buber-Rosenzweig-Medaille (2011), Heinrich-von-Kleist-Preis (2012), Kölner Kulturpreis (2012), Cicero-Rednerpreis (2012) sowie den Gerty-Spies-Literaturpreis (2014).

Der protestantische Theologe Friedrich Wilhelm Graf schreibt über das aktuelle Buch „Ungläubiges Staunen“: „Kermani ist ein moderner Mystiker“. Und Martin Krumbholz kommentiert im Bayerischen Rundfunk: „Ein großes Geschenk für Christen und Nicht-Christen“.

Offenen Herzens, mit einer geradezu kindlichen Neugier steht Navid Kermani vor den großen und vor unbekannten Werken der christlichen Kunst. Seine großartig geschriebenen Meditationen geben dem Christentum den Schrecken und die Schönheit zurück. Kermani hadert mit dem Kreuz, verliebt sich in den Blick der Maria, erlebt die orthodoxe Messe und ermisst die Größe des heiligen Franziskus. Er lehrt uns, in den Bildern alter Meister wie Botticelli, Caravaggio oder Rembrandt auch die Fragen unserer heutigen Existenz zu erkennen – mit klarem Blick für die wesentlichen Details und die unter-gründigen Bezüge auch zu entfernt scheinenden Welten, zur deutschen Literatur, zum mystischen Islam und selbst zur modernen Heilgymnastik. Eine faszinierende poetische Schule des Sehens.

Navid Kermani

Ungläubiges Staunen Über das Christentum

Gebundene Ausgabe: 303 Seiten

Verlag: C.H.Beck; Auflage: 2 (17. September 2015)

24,95 Euro

ISBN-10: 3406683371



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