Die Krönung
„Die Krönung“ nennt der amerikanische Buchautor Charles Eisenstein seine Essaysammlung, mit der er auf den besonders wichtigen historischen Moment der Geschichte, in dem wir uns gerade befinden, hinweisen möchte. Das Coronavirus stelle die Gesellschaftsordnung infrage, das sei jedoch auch unsere Chance, die wir nur ergreifen müssten, so das Credo seiner Ausführungen. Das gebundene 264 Seiten-Buch, das am 3. Juni im Europa-Verlag erschienen ist, beleuchtet die Geschehnisse der vergangenen zwei Jahre aus verschiedenen Perspektiven: Für Eisenstein ist Corona kein Phänomen, das sich mit wenigen Worten erklären lässt. Es sei mehr als ein Virus oder eine Pandemie, für ihn ist es eine Kraft, welche die Gesellschaft stärker transformieren werde, als alles, was wir vorher erlebt haben.
Der Philosoph und Mathematiker nimmt uns mit auf eine Reise, bei der, wie er schreibt, „jedes Element der kollektiven Psyche“ in ihm selbst „zum Ausdruck kommt“. Und das spürt man tatsächlich an der Energie, die dieses Buch trägt. Er beginnt mit einem seiner ersten Essays, dass er im März 2020 verfasst hat und wo er die gesellschaftlichen Probleme offen anspricht, damals offenbar noch in der Hoffnung, dass Corona nur eine Pause, eine Unterbrechung der Normalität darstellt, die schon bald wieder behoben sein könnte, sofern jeder die richtigen Entscheidungen trifft. Er schreibt von einem Scheideweg, der längst überfällig gewesen sei und von einer Wahl, die jeder Einzelne jetzt treffen müsse.
Eisenstein: Es gibt eine Alternative zur perfekten Kontrolle, die unsere Zivilisation so lange angestrebt hat und die sich mit jedem Fortschritt wieder ein Stück weit entzieht wie eine Fata Morgana am Horizont. Ja, wir können den bisherigen Weg in Richtung zunehmender Vereinsamung, stärkerer Abschottung, mehr Herrschaft und größerer Getrenntheit fortsetzen. Wir können zulassen, dass mehr Getrenntheit und Kontrolle normal werden, im Glauben, sie seien nötig, um uns Sicherheit zu gewähren, und eine Welt akzeptieren, in der wir uns davor fürchten, einander nah zu kommen. Oder wir können diese Pause, diese Unterbrechung der Normalität zum Anlass nehmen, einen Weg in Richtung Wiedervereinigung, Ganzheitlichkeit, Wiederherstellung von verlorenen Beziehungen und Gemeinschaft und unserer Wiedereingliederung in das Netz des Lebens einzuschlagen.
Im Verlauf des Buches wird deutlich, dass der Prozess, den Corona angestoßen hat, nicht so einfach abgehandelt werden kann. Er ist vielschichtig, tiefgreifend und auch am Ende des Buches längst nicht vorüber. Eisenstein analysiert den Sündenbockmechanismus, die fortschreitende Polarisierung und Spaltung in der Gesellschaft, Angst, ausufernde Kontrolle, Wissenschaft als Religion, medizinischen Totalitarismus sowie einen neuen Faschismus. Welche Extreme sich zeigen und in welche Richtung die verschiedenen Wege führen könnten, beschreibt er unter anderem so:
Eine Million Wege gabeln sich vor uns auf. Das bedingungslose Grundeinkommen könnte der wirtschaftlichen Unsicherheit ein Ende bereiten und die Kreativität aufblühen lassen, indem Millionen Menschen von jener Arbeit befreit werden, die, wie uns das Coronavirus zeigt, weniger notwendig ist als bisher angenommen. Es könnte aber auch angesichts der Schließung kleiner Betriebe dazu kommen, dass die Abhängigkeit von staatlichen Geldern, die an strikte Bedingungen geknüpft sind, zunimmt. Die Krise könnte in den Totalitarismus oder in die Solidarität führen, zu medizinischem Kriegsrecht oder einem Wiedererwachen eines ganzheitlichen Ansatzes, zu einer größeren Furcht vor der Welt der Keime oder höherer Kompetenz im Umgang mit den Mikroorganismen, zu einer neuen, dauerhaften Norm des Abstandhaltens oder zu einem erneuten Wunsch, einander näher zu kommen.
Beziehung zwischen Mensch und Virus
Ich möchte noch etwas verweilen in diesem Essay, das den gleichen Namen wie das Buch trägt, und die Grundlage all dessen trägt, was Eisenstein danach geschrieben und womit er sich weiterhin auseinandergesetzt hat. In seinen Ausführungen geht er gegen Ende auf eine „weitere Dimension der Beziehung zwischen Mensch und Virus“ ein. Er schreibt:
Viren sind wesentlich für die Evolution, nicht nur die der Menschen, sondern aller Eukaryonten. Viren können DNA von einem Organismus zum anderen transportieren, manchmal auch in die Keimbahn (wodurch die Änderung erblich wird). Bekannt unter der Bezeichnung „horizontaler Gentransfer“ ist das ein Grundmechanismus der Evolution, der es dem Leben ermöglicht, gemeinsam viel schneller zu evolvieren, als es durch rein zufällige Mutation möglich wäre.
Und dann kommt er zu höchst interessanten Spekulationen:
Vielleicht haben die großen Krankheiten unserer Zivilisation unsere biologische und kulturelle Evolution beschleunigt, vielleicht verleihen sie uns genetische Schlüsselinformation und ermöglichen uns beides, eine individuelle und eine kollektive Initiation. Könnte die herrschende Pandemie genau das sein? Neue RNA-Codes breiten sich von Mensch zu Mensch aus und versorgen uns mit neuer genetischer Information. Gleichzeitig empfangen wir, gemeinsam mit den biologischen, andere, esoterische „Codes“, die unsere Narrative und Systeme unterbrechen – so wie die Krankheit die Physiologie des Körpers unterbricht. Das Phänomen folgt dem Muster einer Initiation: Eine Unterbrechung der Normalität, gefolgt von einer Zwangslage, einem Zusammenbruch oder einer Feuerprobe, gefolgt von (wenn sie komplett sein soll) der Reintegration und einem Fest.
Jetzt stellt sich die Frage: Eine Initiation in was? Was ist die genaue Natur und der Zweck dieser Initiation? Der Name des Virus gibt einen Hinweis: Coronavirus. Eine Corona ist eine Krone. „Neue Coronavirus-Pandemie“ bedeutet „eine neue Krönung für alle“. Es ist schon zu spüren, welche Macht uns verliehen werden könnte. Ein wahrer Souverän läuft nicht weg aus Angst vor dem Leben oder Angst vor dem Tod. Ein wahrer Souverän beherrscht nicht und unterwirft nicht (das macht sein Schatten-Archetyp, der Tyrann).
Ein wahrer Souverän dient den Menschen, dient dem Leben und respektiert die Souveränität aller Menschen.
Die Krönung markiert das Hervortreten des Unbewussten in das Bewusste, die Kristallisation von Chaos in Ordnung, die Überwindung von Zwang und dessen Umwandlung in eine bewusste Ent-scheidung. Wir werden die Regenten dessen, was uns regiert hat. Die neue Weltordnung, die die Verschwörungstheoretiker fürchten, ist ein Schattenbild der grandiosen Möglichkeit, die souveränen Wesen offensteht. Nicht länger Vasallen der Angst, können wir Ordnung im Königreich machen und eine Gesellschaft aufbauen, die sich auf die Liebe einigt, die schon durch die Ritzen in der Welt der Getrenntheit schimmert.
Verschwörung?
Nach der Veröffentlichung seines Essays „Die Krönung“ im März 2020 warfen ihm Kritiker vor, ein Verschwörungstheoretiker zu sein, was ihn veranlasste, im Mai 2020 das Essay „Der Verschwörungsmythos“ zu schreiben. Interessant ist, dass er all diese Theorien, die in den letzten Jahren aufgepoppt sind, die man auch unter dem Sammelbegriff „Neue Weltordnung“ zusammenfassen könnte, weder als wahr noch als falsch betitelt, sondern schlechthin als Mythos bezeichnet. Doch was ist ein Mythos?
Er schreibt: Ein Mythos unterscheidet sich von einer Fantasie oder einer Wahnvorstellung. Mythen sind Vehikel der Wahrheit, und diese Wahrheit muss nicht wörtlich gemeint sein. Die klassischen Mythen der Griechen beispielsweise scheinen zunächst wie bloße Unterhaltung, bis man verstanden hat, dass jede Gottheit für eine psychosoziale Kraft steht. Auf diese Weise bringen Mythen Licht ins Dunkel und zeigen auf, was unterdrückt war. Sie nehmen eine Wahrheit über die Psyche oder die Gesellschaft aufs Korn und gießen diese in eine Geschichte. Die Wahrheit eines Mythos hängt nicht davon ab, ob er objektiv verifizierbar ist.
Der Verschwörungsmythos bringt demzufolge wichtige Informationen ans Licht, die sonst unter allen Umständen verdrängt worden wären. Bei den Verschwörungsmythen um Corona würden nicht mehr nur einzelne Geschichten von geheimen Absprachen erzählt, sondern jetzt gehe es um das Funktionieren der gesamten Welt, wobei ein erschreckendes Ausmaß der Entfremdung zwischen der Öffentlichkeit und ihren Führern zum Vorschein komme.
In der zweiten Hälfte des Buches greifen seine Essays die Erkenntnisse des Philosophen René Girard auf, der 2015 starb. Der Franzose beschäftigte sich mit den Ursachen von Konflikten und der Bedeutung der Nachahmung für das menschliche Verhalten. Dabei kommt Eisenstein immer wieder auf das Thema Opferkult zurück. Er verfasste sogar eine ganze Reihe von Essays zu diesem Thema, die im Buch erschienen sind. In Teil 4 geht es um „Die Überwindung der erlösenden Gewalt“, in dem er einen Weg aufzeigt, „wie das alte Muster überwunden werden kann, wo die Gesellschaft ihre Wut, ihre Ängste und Rivalitäten an einer entmenschlichten Opfergruppe entlädt.“ Bei Girard auch opferkultische Gewalt genannt.
Am Ende des Buches ist Eisenstein im Jahr 2022 angelangt und die Stimmung des Buches ist eindeutig kämpferischer geworden. Ob so von ihm gewollt oder nicht, die Botschaft ist eindeutig: Jeder Einzelne hat die Macht etwas zu ändern, aber eben nur, wenn er die Herausforderungen der Zeit aktiv annimmt.
„Die Krönung“ ist höchst interessante Lektüre für jeden, der die Zeichen der Zeit verstehen lernen will, der nach Selbsterkenntnis strebt und der gewillt ist, gesellschaftliche Prozesse aktiv in eine positive Richtung zu lenken – nicht zuletzt dadurch, dass er seine eigenen Schattenseiten ans Licht bringt und transformiert.
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