Die Ameise – Von Barthold Hinrich Brockes

Aus der Reihe Epoch Times Poesie - Gedichte und Poesie für Liebhaber
Titelbild
Ich sah Verwund'rungs-voll dies kleine Tier, mit unverdross'nem Fleiß und eifriger Begier, sich stets bewegen, rennen, laufen.Foto: iStock

Die Ameise

In dieser holden Frühlings-Zeit,

Da alles voller Glanz und neuer Herrlichkeit,
Trat ich, gerührt durch solchen Schein,
In Frommholds schönen Garten ein,
Woselbst in reinem Schmuck die saft’gen Bäume blühten,
Woselbst in bunter Glut der Floren Kinder glüh’ten.

Ein jeder Vorwurf war recht unvergleichlich schön,
Recht herrlich anzusehn.
Ein Balsam-reicher Duft
Erfüllete die laue Luft.
Das Wasser schien bemüht, mit tausend bunten Bildern
Die glatte Fläche zu beschildern.
Man sah mit Lust die schattigten Alleen
Im gelblich-grünen Schmuck der jungen Blätter stehen.

Auf manchem Pomeranzen-Baum
Fand ich mit ungemeinem Prangen
Bei Silber-weisser Blüht fast güld’ne Äpfel hangen,
Und kurz, mein Auge konnte kaum
Sich satt an solcher Schönheit sehen.

In diesem holden Ort‘ und schönen Lust-Revier
Erblickt‘ ich einen Ameis-Haufen.
Ich sah Verwund’rungs-voll dies kleine Tier,
Mit unverdross’nem Fleiß und eifriger Begier,
Sich stets bewegen, rennen, laufen.

Es eilte sonder Ruh‘, und hatte keine Zeit,
Die ungemeine Pracht, die holde Zierlichkeit,
Veränd’rung, Farben, Glanz, Schmuck, Ordnung, Seltenheit
Des Gartens anzusehn. Ach! rief ich überlaut:
Du scheinst, wie sehr mir auch vor der Vergleichung graut
Uns zum belehrenden Exempel vorgestell’t.
Die Ameis‘ ist der Mensch, der Garten ist die Welt.

Barthold Hinrich Brockes  (1680 – 1747)



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