„Anne auf Green Gables“: Wie Literatur unsere Vorstellungskraft prägen kann
Im vergangenen Monat gingen mir die Worte aus „Anne auf Green Gables“ (1908) durch den Kopf: „Es war November – der Monat der karmesinroten Sonnenuntergänge, der scheidenden Vögel, der tiefen, traurigen Hymnen des Meeres, der leidenschaftlichen Windgesänge in den Kiefern. Anne streifte durch die Kiefernalleen im Park und ließ sich, wie sie sagte, den Nebel aus der Seele pusten.“
Diese Wahrnehmung der Realität durch die Literatur ist die Art und Weise, wie Anne Shirley, die Hauptfigur aus „Anne auf Green Gables“, die Welt sieht. Diese Buchreihe stammt aus der Feder der kanadischen Autorin Lucy Maud Montgomery und wurde 1985 verfilmt.
In ihrem Werk schildert Montgomery das Leben von Anne Shirley, einem Waisenkind, das für ihr rotes Haar und ihre nicht minder farbenfrohe Fantasie bekannt ist. Obwohl ihre Geschichte zunächst unscheinbar ist, beginnt für sie mit ihrer Adoption durch die Geschwister Matthew und Marilla Cuthbert eine Reise, auf der sie in jeder Hinsicht um Höheres bemüht ist.
Anne zeigt, wie die Klassiker der Literatur ihre Fantasie formen und beflügeln. Poesie und klassische Romane durchziehen die Seiten von Anne auf Green Gables. Diese häufige Bezugnahme auf frühere Autoren schmälert nicht Annes Originalität. Im Gegenteil, es erweitert ihre Kreativität und Fantasie. Anne inspiriert auch alle um sie herum, sowohl die Freunde, die durch ihre Erziehung weniger inspiriert wurden, als auch diejenigen, die ihre Begeisterung teilen.
Die Vorstellungskraft kultivieren
Während eines Großteils ihrer Schulzeit hat Anne eine Lehrerin, die ihren Beruf mit Herz und Seele ausfüllt. Montgomery schreibt: „Miss Stacy war eine kluge, sympathische junge Frau mit der glücklichen Gabe, die Zuneigung ihrer Schüler zu gewinnen und zu halten und das Beste, was geistig und moralisch in ihnen war, hervorzubringen.“
Klassischen Erziehungsmethoden folgend, lässt Miss Stacy ihre Schüler große Werke auswendig lernen und rezitieren. In ihren eigenen Texten haben die Schüler dann die Möglichkeit, dies Verinnerlichte nachzuempfinden. Sie lehrt ihnen auch, die Welt zu beobachten, indem sie in die Natur gehen. Diese Eindrücke sollen die Kinder ebenfalls in ihre Texte einfließen lassen. Das inspiriert die Kinder, ihre eigenen Visionen zu entwickeln und diese anderen weiterzuvermitteln.
Miss Stacy weiß, dass es einen richtigen und einen falschen Weg gibt, die Fantasie zu kultivieren. Wie Anne sagt: „Du solltest deine Vorstellungskraft kultivieren, weißt du. Miss Stacy sagt das. Wir müssen nur den richtigen Weg einschlagen.“
Fantasie, aber mit Vernunft
Der richtige Weg besteht darin, die Fantasie nicht so weit mit sich durchgehen zu lassen, dass sie die Vernunft verdrängt. Früher hat Anne ihrer Fantasie freien Lauf gelassen und sich sogar Dinge ausgedacht, vor denen sie sich fürchtete, wenn sie ihre Umgebung zu alltäglich fand.
Eines Tages beschließt sie, dass es im Wald spukt, und Montgomery schreibt: „Ihre Fantasie war mit ihr durchgegangen, und der Fichtenhain hielt sie nach Einbruch der Dunkelheit in Todesangst.“
Unter dem Einfluss von Miss Stacy setzt Anne ihre Vorstellungskraft besser ein und inspiriert ihre Freunde, es ihr gleichzutun. Sie gründet einen Geschichtenclub für eine kleine Gruppe von Menschen, „die das Gefühl haben, dass ihre Vorstellungskraft kultiviert werden muss“.
Jedes Mitglied erklärt sich bereit, eine Geschichte pro Woche zu schreiben. Anne bietet ihren Freunden an, ihnen dabei zu helfen und gibt ihnen Ideen, bis sie selbst weitermachen können. Außerdem müsse jeder Geschichte eine Moral zugrunde liegen.
Anne setzt so ihre disziplinierte Vorstellungskraft ein, um Kunst zu schaffen, die die Welt verschönert. Ihre Vorstellungskraft strebt nach dem Guten, anstatt nur nach Unterhaltung zu suchen.
Aristoteles und die Nachahmung
In seinem Werk „Poetik“ vertritt Aristoteles die Ansicht, dass die Nachahmung ein Instinkt unserer Natur ist und gleichzeitig der Prozess, durch den wir lernen. „Der Instinkt der Nachahmung ist dem Menschen von Kindheit an eingepflanzt. Ein Unterschied zwischen ihm und den anderen Tieren besteht darin, dass er das nachahmungsfreudigste aller Lebewesen ist und dadurch seine ersten Lektionen lernt – und nicht minder allgemein ist das Vergnügen, das er an den nachgeahmten Dingen empfindet“, so Aristoteles.
Von frühester Kindheit an imitieren wir unsere Vorfahren in Lauten und Verhaltensweisen. Die Kunst selbst ist in ihrer traditionellen Form eine Nachahmung der Dinge, wie sie waren, wie sie sind oder wie sie sein sollten oder könnten.
Annes Geschichten in „Anne in Kingsport“ imitieren die vornehme und elegante Sprache von einst. Ihre Art zu sprechen ahmt die geliebten Werke nach, die sie in der Schule studierte, aber auf falsche Art und Weise. Obwohl ihr Freund Mr. Harrison ihr rät, ihre eigenen Figuren in Alltagsenglisch sprechen zu lassen, helfen ihr ihre anfänglichen Imitationen, als Schriftstellerin zu wachsen.
Kinder auf dem Weg zu ihrer Identität
Die Literatur hilft Anne, ihre eigene Identität zu finden. Im Laufe der Serie vollzieht sich eine spürbare Veränderung in Anne. Anfangs sehnte sie sich noch danach, ein viel schöneres Mädchen zu sein, Cordelia zu heißen und ein anderes Leben und andere Abenteuer zu erleben.
Am Ende des dritten Buches, nachdem sie bei einem Konzert ein Gedicht vorgetragen hat, bemerkt Anne: „Ich möchte niemand anderes sein als ich selbst, auch wenn ich mein ganzes Leben lang von Diamanten unbehelligt bleibe. Ich bin ganz zufrieden damit, Anne von Green Gables zu sein, mit meiner Perlenkette. Ich weiß, dass Matthew mir mit ihnen so viel Liebe geschenkt hat wie die Darsteller in ‚The Pink Lady‘.“
Auch die deutsche Sachbuchautorin Susanne Gaschke plädiert in ihrem Buch „Die Erziehungskatastrophe. Kinder brauchen starke Eltern“, dass Bücher für Kinder wichtig sind. „Das Lesen fördert die Identitätsentwicklung des Kindes. Es hilft ihm, die Sichtweisen anderer zu verstehen, es lehrt den spielerischen Umgang mit Sprache, es eröffnet die Möglichkeit, in der Parallelwelt des Buches Prüfungen zu bestehen, die man auch in der wirklichen Welt fürchtet.“
Vorstellungskraft statt Leistung
Im modernen Bildungswesen wird der Erfolg der Schüler größtenteils anhand von quantifizierbaren Ergebnissen in Form von Standardtests und Noten gemessen. Im Gegensatz dazu erweist sich eine Bildung, die die Vorstellungskraft fördert und danach strebt, vielseitige, tugendhafte Individuen auszubilden, als weitaus humanisierender, auch wenn sich ihr Erfolg nicht so leicht messen lässt. Der Schwerpunkt liegt auf der Vorbereitung des Menschen auf ein gutes Leben und nicht auf der Arbeit, die er leisten kann.
Unabhängig davon, welchen Beruf sie später ausüben werden, sind Schüler mit einer solchen Ausbildung später nicht benachteiligt. So studiert Annes Klassenkamerad und Freund Gilbert schließlich Medizin – vergisst aber nicht, was er im Literaturunterricht gelernt hat. Stattdessen hat er es verinnerlicht und zitiert Gedichte, genauso wie Anne im Verlauf des Romans.
Der gemeinsame Bezug zur Literatur ermöglicht es beiden, auf bekannte Werke anzuspielen und sofort verstanden zu werden. Wobei eine beiläufige Anspielung eine ganze Welt an Bedeutung vermittelt.
Am Ende des dritten Bandes lernt Anne auch, dass der Zweck der Fantasie nicht darin besteht, der Realität zu entfliehen, sondern sie zu verbessern. Sie klammert sich nicht an Ideale von „diamantenen Sonnenschirmen und Marmorsälen“. Auch denkt sie nicht, dass sie in der Realität nur dann zufrieden sein kann, wenn sie das Beste erreicht, was sie sich vorstellen kann.
Stattdessen verwandelt ihre Vorstellungskraft ihre gegenwärtigen Umstände. Zu Beginn des dritten Bandes schreibt Montgomery: „In ihrer Fantasie segelte sie über sagenumwobene Meere, die die fernen, leuchtenden Ufer der ‚verlorenen Feenländer‘ umspülen. In diesen Träumen war sie reicher als in der Wirklichkeit – denn was man sieht, vergeht, aber das, was man nicht sieht, ist ewig.“
Das Land, in dem Träume wahr werden
Am Ende des Buches, als Anne die Landschaft vor sich sieht, schreibt Montgomery: „Ich glaube, dass das Land, in dem Träume wahr werden, in dem blauen Dunst dort drüben liegt über dem kleinen Tal.“
Anne sucht nicht mehr in fernen, imaginären Welten nach Erfüllung und Glück. Jetzt finden ihre Träume in ihrer eigenen Welt statt und indem sie ihre Wahrnehmung von Schönheit mit anderen teilt, bereichert sie diese.
So wie Gilbert hofft, „ein wenig zur Summe des menschlichen Wissens beizutragen“, strebt Anne danach, „dem Leben ein wenig Schönheit hinzuzufügen, eine kleine Freude oder einen glücklichen Gedanken zu haben, den es nie gegeben hätte, wenn ich nicht geboren worden wäre“. In beiden Fällen dient die Vorstellungskraft dazu, neue Wege zum Wissen zu eröffnen und mit neuen Sichtweisen Schönheit zu entdecken.
„Anne von Green Gables“ ist alles in allem ein humorvolles, freches und liebenswertes Mädchen, das hierzulande mit den literarischen Figuren Pippi Langstrumpf oder Madita von Astrid Lindgren vergleichbar ist. Von ihnen können sogar Erwachsene noch lernen, was es heißt, glücklich und man selbst zu sein. Jeder, der Anne noch nicht kennt, sie aber gern kennenlernen will, sollte die Bücher von L. M. Montgomery (1908) lesen oder die Fernsehserie „Anne auf Green Gables“ (1985) von Kevin Sullivan ansehen – denn dort sind Charme, Freude und die Liebe zum Leben zu finden.
Dieser Artikel erschien im Original auf theepochtimes.com unter dem Titel: „‚Anne of Green Gables‘: How Literature Can Shape Our Imaginations“ (redaktionelle Bearbeitung kms).
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