Abendlied – Von Friedrich Rückert
Aus der Reihe Epoch Times Poesie - Gedichte und Poesie für Liebhaber
Abendlied
Ich stand auf Berges Halde,
Und sah, wie überm Walde
Des Abends Goldnetz hing.
Des Himmels Wolken tauten
Der Erde Frieden zu,
Bei Abendglockenlauten
Ging die Natur zur Ruh‘.
Ich sprach: O Herz, empfinde
Der Schöpfung Stille nun
Und schick‘ mit jedem Kinde
Der Flur dich auch, zu ruhn.
Die Blumen alle schließen
Die Augen allgemach,
Und alle Wellen fließen
Besänftiget im Bach.
Nun hat der müde Sylphe
Sich unters Blatt gesetzt,
Und die Libell‘ am Schilfe
Entschlummert taubenetzt.
Es ward dem goldnen Käfer
Zur Wieg‘ ein Rosenblatt;
Die Herde mit dem Schäfer
Sucht ihre Lagerstatt.
Die Lerche sucht aus Lüften
Ihr feuchtes Nest im Klee,
Und in des Waldes Schlüften
Ihr Lager Hirsch und Reh.
Wer sein ein Hüttchen nennet,
Ruht nun darin sich aus;
Und wen die Fremde trennet,
Den trägt ein Traum nach Haus.
Mich fasset ein Verlangen,
Daß ich zu dieser Frist
Hinauf nicht kann gelangen,
Wo meine Heimat ist.
Friedrich Rückert (1788 – 1866)
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