Ölmalerei in der Natur: Verweile doch! Du bist so schön!
Sie entstanden auf Wanderungen in heimatlichen Gefilden, auf Reisen in den Süden oder beim Blick aus dem Fenster: Naturstudien von großer Unmittelbarkeit und Könnerschaft. Mit Ölfarbe auf Papier, Karton oder kleinformatige Leinwände gemalt, sind sie Zeugen einer leisen, doch umwälzenden Revolution in der Kunst der Landschaftsmalerei, die am Beginn des 19. Jahrhunderts ihren Anfang nahm.
Ein neuer Blick entsteht
Waren es die erstarkten, aufklärerischen Geistesströmungen und die sich intensivierende, naturwissenschaftliche Forschung, die den Blick auf die Natur und ihre Phänomene schärften? War es der Wunsch des neu entstandenen Bürgertums, die Natur mit anderen, einfühlsameren Augen zu betrachten, wie es der Philosoph Jean Jacques Rousseau in seinen Schriften gefordert hatte?
Oder waren es praktische Gesichtspunkte, wie die sich verbessernden Reisemöglichkeiten aus der Stadt hinaus in die Umgebung oder in südliche Sehnsuchtsländer – zuerst mit Postkutschen und ab Mitte des 19. Jahrhunderts immer öfter auch mit Dampfschiffen und der Eisenbahn?
Wie so oft bei unerwarteten Veränderungen hatte auch die Hinwendung des 19. Jahrhunderts zur Natur eine Vielzahl von Gründen.
Das Selbstverständliche wird entdeckt
Um 1800 begannen jedenfalls erstaunlich viele Maler sich für das scheinbar Selbstverständliche, das Natürliche und vermeintlich Beiläufige zu interessieren: für die Schönheit des natürlichen Lichts, für die ungezähmte Natur, für Bäche, Bäume, Gräser, Wolken, Hügel und Felsformationen.
Immer öfter verließen sie ihre Ateliers und ihre schweren, hölzernen Staffeleien und machten sich auf, die Welt und ihre Phänomene, die Verwandlung der Landschaft durch Tages- und Jahreszeiten, das Ziehen der Wolken, das Schimmern der sich wiegenden Gräser, das Rascheln der Blätter in den Baumkronen und das Rauschen von Bächen und Brandungen vor Ort zu betrachten und ihre Eindrücke möglichst realistisch mit malerischen Mitteln festzuhalten.
Zeichnung, Tempera und Aquarell genügen den Malern des 19. Jahrhunderts nicht mehr für ihre einfühlsamen Beobachtungen und Studien. In schneller Alla-prima-Malerei, bei der nicht auf ein Abtrocknen der Farben gewartet wird, nutzen sie nun die wesentlich größere Palette und Leuchtkraft der Ölfarben auch unter freiem Himmel.
Im Atelier frisch angerührt, füllen sie die Farben, um sie mit nach draußen nehmen zu können, in Schweineblasen. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts erleichtert die neu erfundene Metalltube den Transport hinaus in die Landschaft.
Auf der Jagd nach dem flüchtigen Augenblick
Mit Pinsel und Palette, kleinem Malkoffer und leichter Reisestaffelei ausgerüstet, gehen die Maler jetzt gleichsam auf die Pirsch – als Jäger des schönen, flüchtigen Augenblicks.
Die Intensität des Lichts, bis zum Moment, in dem sich die Wolken vor die Sonne schieben, das kurze, glühende Leuchten von Felsen und Ruinen im Morgen- oder Abendrot, der Wolkenbruch, der in der Ferne niedergeht, der Windstoß, der Blätter in flirrende Bewegung versetzt, das Schäumen, Sprudeln und Fließen des Wassers – diese vergänglichen Momente werden in unendlichen Farbschattierungen verewigt.
Nicht für die Öffentlichkeit bestimmt
Für heutige Kunstliebhaber ist es kaum zu glauben: Die Ergebnisse dieser künstlerisch genauen Beobachtungen – oft augenscheinlich rasch, traumwandlerisch sicher und bewegend schön in Malerei umgesetzt – waren zur Zeit ihrer Entstehung nicht für die Öffentlichkeit bestimmt.
Wie Jäger ihre Trophäen, so bewahrten die Künstler des 19. Jahrhunderts die Naturstudien, die sie zurück in ihre heimischen Ateliers brachten, sorgfältig auf. In Fächern und an Wänden warteten diese fixierten Momente darauf, zur Inspirationsquelle und zum Bildelement von Gemälden zu werden, die nach wie vor im Atelier für Auftraggeber und Ausstellungen entstanden.
In Künstlerkreisen wurden die erstaunlichen Studien jedoch als bewundernswerte Beispiele und Beweise von lebhafter Auffassungsgabe und künstlerischem Können betrachtet, diskutiert, getauscht und freundschaftlich verschenkt.
An den Kunstakademien des 19. Jahrhunderts dienten sie schließlich immer öfter als Vorlagen für gemalte Kopien, die den Blick, die Maltechnik und die Kunstfertigkeit der Studenten in der Praxis schulten.
In ihrer fast geheimen Wirkung entfalteten die Ölstudien also eine kaum unterschätzbare Bedeutung für die Entwicklung der Landschaftsmalerei, fristeten in der öffentlichen Wahrnehmung jedoch ein Schattendasein.
Aus dem Schatten ans Licht
Aus diesem Schatten treten sie nun immer mehr hervor. Beginnend mit den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelte sich um die meist kleinen und doch so grandiosen Arbeiten ein stetig wachsendes Sammlerinteresse. Inzwischen öffnen sich ihnen dank ihrer zeitlosen Frische, Präsenz und Schönheit die Türen von Sammlungen und Museen weltweit.
Während im Jahr 1808 Goethes Dr. Faust dem entschwindenden Augenblick noch verzweifelt „Verweile doch! Du bist so schön!“ nachrief, gelang es den Malern der gleichen Epoche, die Zeit in ihren Naturstudien anzuhalten.
Hier lösen sie sich vom Historismus, der Idealisierung und Mythologisierung der Landschaft. Durch ihre völlige Loslösung von kommerziellen Interessen sind die Studien von vermuteten Wünschen und Erwartungen durch Auftraggeber, Sammler und Publikum völlig befreit.
Vielleicht ist es gerade dieser Umstand, der uns heute so berührt.
In den einfühlsamen Naturstudien blicken wir mit den Augen der Maler von damals frei, unverwandt und direkt in die Natur des vorindustriellen Zeitalters; voll Ehrfurcht vor ihren Wundern und Kräften, bewegt, begeistert und beglückt von der Schönheit und Größe der Schöpfung und dem innigen Wunsch, sie zu bewahren.
Weitere Ausstellungsstation:
Kunsthalle St. Annen, Lübeck, organisiert vom Museum
Behnhaus Drägerhaus, Lübeck
vom 14. Juli bis 15. Oktober 2023
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