Im Luther-Shitstorm – Reformation und Medien
Martin Luther war seiner Zeit voraus – ganz besonders im Diffamieren. Keiner schimpfte wie er. Der Reformator war von unerschöpflicher Kreativität, wenn es darum ging, seine Gegner mit Kraftausdrücken zu bedenken.
Der Papst etwa war für ihn „der höllisch Vater“, „der Spitzbube zu Rom“, „das unverschampte Lügenmaul“, „das verblendete Teufelskind“, „des Teufels Sau“ und vieles mehr. Es gibt inzwischen eine Website, auf der man sich per Knopfdruck auf immer neue Weise von Luther beleidigen lassen kann – leider nur in englischer Übersetzung: „ergofabulous.org/luther/“.
Die von ihm entfachte Debatte ließ aber erstmals auch so etwas wie Öffentlichkeit entstehen. „Martin Luther war ja ein Bestsellerautor“, erläutert Tillmann Bendikowski, Autor des Buches „Der deutsche Glaubenskrieg: Martin Luther, der Papst und die Folgen“. Luther brachte seine Meinungen in Flugschriften mit – für damalige Verhältnisse – gewaltigen Auflagen unter die Leute.
Die neue Informationstechnologie des Buchdrucks veränderte das Leben der Menschen in ähnlicher Weise wie heute das Internet: Das gesammelte Wissen war nicht mehr länger einer kleinen Elite von Wissenschaftlern und Mönchen vorbehalten, sondern grundsätzlich verfügbar für jeden.
Man musste nur lesen können – oder jemanden kennen, der es konnte. Erfunden worden war der Druck mit beweglichen Lettern zwar schon um 1450, aber erst mit der Reformation wurden Bücher, Flugschriften und Grafiken wirklich zum Massenmedium. Denn erst jetzt gab es ein Ereignis, das alle Menschen brennend interessierte und bei dem fundamental unterschiedliche Meinungen aufeinanderprallten. Die Reformation mobilisierte und spaltete die öffentliche Meinung.
Luthers Thesen verbreiteten sich in den sozialen Netzwerken ihrer Zeit: Sie wurden geteilt – nämlich als Flugschrift von Hand zu Hand gereicht – und kommentiert – in Wirtshäusern, auf Dorfplätzen und in neuen Pamphleten. Der Ton der öffentlichen Debatte wurde dabei immer schärfer. Da konnte der Humanist Erasmus von Rotterdam – eine echte Berühmtheit, die auf der Straße erkannt wurde – noch so viel mahnen, dass man doch ein gewisses Niveau einhalten und die theologische Auseinandersetzung nicht auf die Straße tragen solle: Luther dachte gar nicht daran.
Seine Zielgruppe war „die Mutter im Haus, die Kinder auf der Gassen, den gemeinen Mann auf dem Markt“. Und dabei scheute er vor keiner Polemik, keinem Shitstorm zurück.
„Die Entstehung einer Öffentlichkeit war durchaus ein wesentlicher Faktor bei der Geburt der Moderne“, erläutert der Luther-Biograf und Reformationsexperte Heinz Schilling im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur. „Aber es war nicht Luther allein, der das zuwege gebracht hat, es waren genauso seine Gegner von der katholischen Seite. Nicht die Reformation als solche, sondern der Disput darüber hat eine Öffentlichkeit entstehen lassen. Auch wenn man das heute nicht mehr so gern hört: Es war gerade die Konflikthaftigkeit, die das Neue hervorgebracht hat.“
Es war für die Menschen des 16. Jahrhunderts eine ungeheure Erfahrung, die Bibel dank Luthers deutscher Übersetzung selbst lesen zu können. Plötzlich hatten sie direkten Zugang zum „Wort Gottes“, das ihnen die Priester bis dahin immer nur sehr gefiltert und indirekt vermittelt hatten.
„Nunmehr kann jedermann von den Sachen reden und urteilen, da man zuvor nichts hat wissen können“, hieß es in einer zeitgenössischen Schrift. „Fraglos leistete Luther einen entscheidenden Impuls für die Etablierung einer neuen, einer zunehmend lesefähigen Öffentlichkeit“, betont Historiker Bendikowski. Allerdings wurde der Alphabetisierungsprozess im 17. Jahrhundert durch den Dreißigjährigen Krieg brutal unterbrochen.
Wenn Luther die Kirche auch keineswegs abschaffen wollte, so war sie doch als Vermittler zwischen Gott und dem Menschen nach seiner Meinung nicht mehr unbedingt nötig. „Mit Luther begann recht eigentlich die Geschichte des modernen Subjekts“, sagt der Publizist Ulrich Greiner.
„Jetzt war der Mensch unmittelbar zu Gott. Jetzt konnte und durfte er „Ich“ sagen.“
Das veränderte das Selbstbild des Menschen. Historiker Schilling schränkt allerdings ein: „Individualisierung und Säkularisierung waren langfristige Prozesse, die mit Beginn der Renaissance schon lange vor Luther eingesetzt hatten. So bedeutend Luther war: Man muss sich davor hüten, hier einen neuen Mythos zu begründen.“
Bendikowski warnt ebenfalls davor, Luther zu überhöhen und zum Reformationsjubiläum nur das Positive zu sehen. Die „schauerlichen“ Folgen der Kirchenspaltung dürften nicht verschwiegen werden: „Dieser neue Konfessionalismus innerhalb des Christentums ist doch eine Geißel der Neuzeit und nicht in erster Linie ein Gewinn.“ (dpa)
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