Griff in die Geschichte: Das Skandalkonzert in Wien
Es ging als „Watschenkonzert“ oder auch „Skandalkonzert“ in die Wiener Kunstgeschichte ein. Das Publikum konnte es wohl kaum fassen, was es am 31. März 1913 im Wiener Musikvereinssaal zu hören bekam. Was brachte die Menschen derart in Rage, dass es während der Aufführung zu einem einzigartigen Tumult, einer aufsehenerregenden Ohrfeige („Watschen“) und schlussendlich sogar zum vorzeitigen Abbruch des Konzertes kam?
Neue Musik – bewusst gegen die Schönheit
Etwa um die Zeit des Ersten Weltkrieges herum löst die Moderne die Epoche der Romantik ab. In der Musikgeschichte beginnt hier die Strömung der „Neuen Musik“, die im Gegensatz zur klassisch-romantischen Musik den Wunsch nach künstlerischer Freiheit in der Verwendung künstlerischer Mittel anstrebt.
Im Zeitalter der Klassik beinhalteten alle Kunstrichtungen wie Literatur oder Musik Merkmale wie Harmonie, Selbstbestimmung, Menschlichkeit, Toleranz und Schönheit. Im Zentrum steht das Ideal der Harmonie. Vernunft und Gefühle sollen ebenbürtig ausgebildet werden.
Der Satz „Schönheit als Vermittlerin der Wahrheit“ spiegelt wider, wie wichtig es in der Klassik war, sich an Idealen und Gesetzmäßigkeiten zu orientieren. Denn nur das, was schön ist, galt zu dieser Zeit auch als wahr. Der Mensch soll das Beste aus sich machen, sich moralisch korrekt verhalten und auf ein Ziel hinarbeiten.
Der aufkeimende Expressionismus in der Musik äußerte jedoch im Gegensatz dazu das Bestreben, altbewährte Regeln und Techniken zu durchbrechen und sich von vermeintlichen Fesseln zu befreien.
Arnold Schönberg und die Zwölftontechnik
Auch Wien blieb von dem Wandel des Kultur- und Musiklebens nicht verschont. Den stärksten Einfluss übte damals Arnold Schönberg (1874-1951) mit seiner Veränderung der in der Klassik perfektionierten Kompositionslehre aus. Der in Wien geborene Künstler verwirft die Gesetze von Gleichklang und Melodie des traditionellen Tonsystems und entwickelt nach einer Phase der freien atonalen Musik mit der „Zwölftontechnik“ ein neues kompositorisches Regelwerk. Dabei spielt das Orchester zwar auch nach Noten, soll sich aber im Gegensatz zum klassischen Ansatz nicht mehr an Dur, Moll oder der Harmonielehre orientieren.
Bald formte sich ein Komponistenkreis um Schönberg herum – die Zweite Wiener Schule, deren Hauptvertreter Anton Webern, Alban Berg und Egon Wellesz waren. Diese neue Art zu musizieren, wurde nicht von jedermann geschätzt. Es kam immer wieder zu Konflikten zwischen den Vertretern der neuen Moderne und denen, die der Tradition treu blieben. Eine Reihe von „Skandalkonzerten“ sorgte schon vor dem berühmten „Watschenkonzert“ für Aufsehen. Doch am 31. März 1913 gipfelte dies schlussendlich in einem besonders großen Tumult.
Das Watschenkonzert
Arnold Schönberg selbst dirigierte das Orchesterkonzert jenes Abends im Großen Musikvereinssaal in Wien. Auf dem Programm standen Werke von Anton Webern, Alexander Zemlinsky, Alban Berg, Gustav Mahler und Arnold Schönberg selbst. Schönberg hoffte, das Publikum nach dem Erfolg seiner noch klassisch tonal konzipierten „Gurrelieder“ eineinhalb Monate zuvor im selben Saal auch von seinem „neuen Werk“ überzeugen zu können. Ihm war das Risiko der Werkauswahl bewusst und er versuchte, die Zuhörer durch eine durchdachte Mischung der Programmpunkte vorsichtig mit der modernen Musik vertraut zu machen.
Doch es sollte anders kommen. Bereits nach Weberns „Sechs Stücke für Orchester“, die Schönberg dem noch geduldigen Publikum als bewusst schwerste Kost gleich zu Beginn zumutete, kam es im Zuschauerraum zu Gelächter und Zischen. Die immer angeheizter werdende Stimmung beruhigte sich nur kurz während Zemlinskys Zyklus „Vier Orchesterlieder nach Gedichten von Maeterlinck“, um direkt nach Schönbergs „Kammersymphonie op. 9 in einem Satz“ gleich wieder zu eskalieren. Neben wütendem Zischen ließen die erbosten Menschen ihre Hausschlüssel klingeln und benutzten schrille Pfeifen, um ihren Unmut zu äußern. Es kam zu ersten Handgreiflichkeiten auf der zweiten Galerie zwischen Schönbergs Anhängern und seinen Gegnern.
Nach den Werken von Alban Berg gab es für das Publikum kein Halten mehr. Schönberg klopfte ab und rief in die Menge, dass er „jeden Ruhestörer mit Anwendung der öffentlichen Gewalt abführen lassen werde“. Aber dies verschlimmerte die Situation nur noch weiter. Es wurde quer durch den ganzen Saal geschrien und geschimpft, so sehr empörte die Menschen die neue präsentierte Musik. Manche Augenzeugen berichteten sogar, dass Brillengestelle und Zahnprothesen durch den Saal flogen.
Schlussendlich soll es Erhard Buschek, Veranstalter des Konzerts und damaliges leitendes Mitglied des „Akademischen Verbandes für Literatur und Musik“ gewesen sein, dem die Hand gegenüber einem störenden Konzertbesucher ausgekommen war. Liest man aber die unterschiedlichen Berichte über diesen Abend, ist der Austeiler der besagten Ohrfeige jedoch nicht eindeutig identifiziert. Und auch wenn es nicht die einzige „Watschen“ an diesem Abend war, die verteilt wurde, so war es diejenige, die in die Geschichte einging und dem Konzert seinen ungewollten Namen gab. Die Fortsetzung der Aufführung war unmöglich. Der Saal wurde abgedunkelt und musste von der Polizei geräumt werden.
Während der darauffolgenden Gerichtsverhandlung wurde unter anderen auch der Operettenkomponist Oscar Straus als Zeuge befragt, ob er denn die von Buschek ausgeteilte Ohrfeige gehört habe. Daraufhin antwortete er: „Sicher, ich habe sie auch vernommen, denn sie war das weitaus Klangvollste des ganzen Abends!“
Tonale vs. atonale Musik
Zu hören ist der Unterschied von tonaler und atonaler Musik wahrscheinlich für jeden. Nicht nur früher war es vielen Menschen befremdlich, sich die „neue Musik“ anzuhören, auch heute wirkt sie für viele nach wie vor ungewohnt.
Schönbergs Vision, dass man seine Musik in Zukunft auf der Straße pfeifen werde, fand bis heute keine Erfüllung. Eckart Altenmüller von der Hochschule für Musik und Theater in Hannover erklärt das Paradoxon der neuen Musik in der „Zeit“: „Wir können Neue Musik besser verstehen, wenn wir sie häufiger hören – sie ist aber so komponiert, dass sie die meisten Menschen nicht dazu anreizt, sie häufiger zu hören.“
In der tonalen Musik ist ein Ton an eine Tonart gebunden. Die verwendeten Töne gehören immer einer Tonart oder einer verwandten Tonart an. Sie basiert auf bestimmten Harmonien, und Tonabfolgen lassen eine harmonische Melodie erkennen. Ein Grundton bildet den Ruhepol, zu dem alle anderen Töne in Relation stehen. Es ergibt sich auf natürliche Weise und doch fast zwangsweise der nächste Ton.
In der atonalen Musik wird dieser Grundton abgeschafft; alle Töne werden gleich behandelt. Die Töne sind eigenständig und an keine Tonart gebunden. Es klingt, als passe es nicht zusammen, und ist damit eine bewusste Entscheidung gegen die in der Klassik so wichtige Schönheit und Harmonie. Es scheint, dass sich diese Entscheidung gegen die Harmonie auch an jenem Tag im Jahr 1913 im Publikum widerspiegelte und als „Watschenkonzert“ in die Musikgeschichte einging.
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