Giuseppe Sommarugas faszinierendes architektonisches Erbe

Vor 111 Jahren öffnete das Palace Grand Hotel im oberitalienischen Varese seine Pforten. Seine Architektur und Geschichte sind außergewöhnlich. Es heute zu besuchen, ist eine inspirierende Zeitreise voller Entdeckungen.



Titelbild
Kolonaden im Außenbereich des Palace Grand Hotels im oberitalienischen Varese, erbaut von Giuseppe Sommaruga.Foto: Sabine Weigert
Von 11. September 2024

Es liegt inmitten eines Parks mit altem, majestätischem Baumbestand auf dem Colle Campigli. Serpentine um Serpentine bringt den Besucher auf den Hügel hinauf, der sich unweit des Zentrums der lombardischen Stadt Varese befindet.

Erst auf seiner Kuppe angekommen, taucht das erstaunliche steinerne Gebilde vor den Augen des Reisenden auf. Hoch ragt es empor. Über dem ungewöhnlich gewölbten Dach des Gebäudeturms, der das Bauwerk dominiert, flattert die italienische Fahne vor dem Blau des Himmels.

Blick auf den charakteristischen Gebäudeturm des Palace Grand Hotels, erbaut 1913 im oberitalienischen Varese. Foto: Sabine Weigert

Begegnung mit einer Epoche

Breite Stufen führen zum Eingang. Staunend betritt man die lichte Eingangshalle und mit ihr die Atmosphäre einer anderen Epoche. Wie oft hat die freundliche Rezeptionistin verblüfften Neuankömmlingen schon Fragen zur Geschichte des Hotels beantwortet?

Jedenfalls entnimmt sie – mit einem Lächeln und während sie erste Hinweise gibt – einem Ordner ein Blatt und überreicht es dem interessierten Gast.

In Jahreszahlen, Namen und Stationen zeichnen Daten ein erstes Bild von der Entstehung und Historie dieses ungewöhnlichen Ortes. Ein Bild, das Neugier, Wissensdurst und Fantasie nur noch weiter beflügelt.

Blick in das zentrale Treppenhaus im Inneren des Palace Grand Hotels mit kunstvoll geschmiedeten Geländern. Foto: Sabine Weigert

Seit 2016 ist das Gebäude der Belle Époque im Besitz einer ambitionierten Betreibergesellschaft. Mit dem scheinbaren Paradoxon „Conservare el futuro“ (die Zukunft bewahren) und einem berühmten Zitat Fjodor Dostojewskis beschreibt sie ihre Beweggründe, das in die Jahre gekommene Hotel zu übernehmen und liebevoll zu restaurieren.

„Die Schönheit wird die Welt retten“, notiert der russische Autor 1868 in einem seiner tiefsinnigen Werke, das er in Mailand vollendet.

Großes bahnt sich an

Doch wer zeichnet verantwortlich für Architektur und Atmosphäre dieses erstaunlichen Ortes, den wir auch im Jahr 2024 als schön und in sich stimmig empfinden?

Ein Jahr bevor Dostojewski der Schönheit unermessliche Kräfte zuschreibt, wird in der lombardischen Metropole Giuseppe Sommaruga, der spätere Architekt des Palace Grand Hotels geboren. Giuseppes Eltern sind Handwerker. Mutter Elisa ist Näherin, Vater Giacomo arbeitet als Vergolder.

Aus dem weit kleineren Varese mit seinen gerade einmal 12.000 Einwohnern hat es ihn ins 60 Kilometer südöstlich gelegene großstädtische Mailand gezogen.

In Europa bahnt sich ein goldenes Zeitalter an. Mit den 1870er-Jahren nimmt der technische Fortschritt nie zuvor gesehenes Tempo auf. Wissenschaftliche Forschung, Erfindungen, Innovationen, industrielle Revolution und Gründerzeit, wirtschaftliches Wachstum und steigender Wohlstand prägen den Alltag, vor allem in den Metropolen. Die fulminanten Entwicklungen beeinflussen aber auch Architektur, Kunst und Kultur und führen sie zu neuer Blüte.

Studium an traditionsreicher Akademie

Mitte der 80er-Jahre nimmt Giuseppe das Studium der Architektur in Mailand an der berühmten Accademia di Brera auf. 1776 – noch unter der Herrschaft der Habsburger – von Kaiserin Maria Theresia im Palazzo di Brera gegründet, beherbergt sie seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts die Studien der Architektur, Bildhauerei, Ornamentik und Gravur unter einem Dach.

Ein Umstand, der den Austausch zwischen den gestalterischen Disziplinen und ein inspirierendes künstlerisches Klima besonders fördert.

Giuseppe Sommaruga, um 1900. Foto: Varischi, Artico & C., CC0

Sommaruga schreibt sich in die Klasse des Professors und Architekten Camillo Boito, einem wichtigen Vertreter des florierenden Historizismus, ein. Gleichzeitig ist Boito bedeutender Fürsprecher für eine sorgsame, auf Befunde zurückgreifende Restaurierung historischer Bausubstanz und somit ein früher Wegbereiter von Denkmalschutz und Denkmalpflege.

In den architektonischen Werken Boitos wird sichtbar, wie sehr sie ihre Inspiration aus der bautechnischen und stilistischen Wertschätzung historischer Bauwerke beziehen. Giuseppe Sommaruga wiederum profitiert von der fundierten und vielschichtigen Lehre Boitos.

Eigene Entwürfe, neue Wege

Um 1890 beginnt er, eigene Entwürfe zu realisieren, und bleibt zunächst noch weitgehend dem Ansatz seines Lehrers verpflichtet. Mit Anfang des 20. Jahrhunderts wendet er sich jedoch immer mehr den Strömungen der Art nouveau, der „neuen Kunst“, zu und lässt sie mit historisierenden Stilelementen verschmelzen.

Fassade des Palazzo Castiglioni, Mailand, 1905. Foto: Fot. dello Stabilimento Guigoni e Bossi, Milano, Public Domain

In Mailand entsteht mit dem Palazzo Castiglioni ein erstes großes Meisterwerk. Die klar gegliederte Fassade, die an Renaissance-Palazzi erinnert, lässt Sommaruga mit figürlich dynamischen Skulpturen und floralen Reliefs aus Stein reich ausschmücken.

Das repräsentative Gebäude erhält große öffentliche Aufmerksamkeit. Aufträge für Wohnhäuser, Mausoleen und Villen folgen. Für die Mailänder Weltausstellung des Jahres 1906 entwirft Sommaruga Parkanlagen und einen großen Brunnen.

Bahnbrechende Mailänder Weltausstellung

Die in Italien „Esposizione internazionale del Sempione“ genannte Megaschau mit 27.000 Ausstellern aus 50 Ländern zieht nach zeitgenössischen Berichten bis zu 10 Millionen Besucher an. Sie steht ganz im Zeichen des technischen Fortschritts, des Maschinenbaus und der Mobilität.

Schon allein der Name der Ausstellung ist sprechendes Symbol. Die Eröffnung des Simplontunnels, des 20 Kilometer langen „Traforo del Sempione“, der Alpenmassive zwischen der Schweiz und Oberitalien unterquert, wird am 19. Mai 1906 zum gefeierten Höhepunkt der über sechsmonatigen Präsentation neuzeitlicher Leistungen.

Das sensationelle technische Meisterwerk macht die immense Bedeutung von motoren- und maschinengetriebener Mobilität, allen voran der Eisenbahn, mehr als deutlich. Vor dem Siegeszug des Automobils ist sie es, die Distanzen schrumpfen lässt und Fahrzeiten massiv verringert.

Das ist ein wichtiger Meilenstein für die Entwicklung des Tourismus, der sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wandelt. Nach den sogenannten Kavaliersreisen des Adels im 17. und 18. Jahrhundert können sich nun auch wohlhabende Bürger Bildungs- und Erholungsreisen leisten. Die große Zeit der Grandhotels an den schönsten Orten Europas beginnt.

Die große Zeit der Grandhotels

Und nicht zufällig wird ein Jahr nach der bahnbrechenden Mailänder Weltausstellung am 20. März 1907 die Societá Grandi Alberghi Varesini gegründet. Sie ist es, die Giuseppe Sommaruga in den Jahren 1908 und 1912 mit zwei gigantischen Großprojekten beauftragt: dem Palace Grand Hotel nahe der Innenstadt Vareses und einem weiteren luxuriösen Hotelkomplex hoch über der Stadt in noch größerer Weltentrücktheit, dem Grand Hotel Campo dei Fiori.

Entwurfszeichnung des Grand Hotel Campo dei Fiori auf dem Monte Tre Croci von Giuseppe Sommaruga von 1908. Foto: Public Domain

Beide Hotels werden mit modernster Technik der Zeit ausgestattet und können mit bequemen Schienenwaggons elektrischer Standseilbahnen erreicht werden.

Während neben dem Palace Grand Hotel ein eigenes Theater mit großem Kursaal Aufführungen und Geselligkeit verspricht, lockt das Campo dei Fiori mit der klaren Luft der Berge und seiner exklusiven Abgeschiedenheit.

Baukunst, Ornament und Schönheit

In beiden Hotelanlagen entfaltet Giuseppe Sommaruga im inzwischen als italienisches Liberty bezeichneten Stil alle Facetten seiner Baukunst.

In mutigen Dimensionen und klugen architektonischen Lösungen erschafft er funktionale und zugleich schöne, lichte Raumprogramme, die den Besucher nicht klein machen, sondern erheben.

Blick in Verbindungshalle und Lobby im Eingangsbereich des Palace Grand Hotels. Architektonische Dimensionen, florale und grafische Ornamentik und wertige Materialien schaffen ein besonderes Raumgefühl. Foto: Sabine Weigert

Die Wertigkeit der Materialien und der sichtbare Wunsch, mit floraler und geometrischer Ornamentik Harmonie zu erzeugen, widersprechen bei jedem Schritt des Betrachters der These des Wiener Architekten Adolf Loos vom „Ornament als Verbrechen“, die just im Jahr der Einweihung des Palace Grand Hotels 1913 erstmals veröffentlicht wird.

Eine These, die als Paradigma der Moderne im 20. und 21. Jahrhundert zu einer gestalterischen Verarmung führt, die oft frösteln lässt.

Saal im Palace Grand Hotel mit Originaldekor und Leuchten der Belle Époque. Foto: Sabine Weigert

1914 bereitet der Erste Weltkrieg dem Zeitalter der Belle Époque ein jähes Ende. Giuseppe Sommaruga stirbt 1917 in Mailand als hochgeehrter Architekt, Ehrenmitglied der Accademia di Brera, der Bauhütte des Mailänder Doms und Präsident der Lombardischen Architektenkammer.

In den 1960er-Jahren wird Sommarugas Theater und Kursaal auf dem Colle Campigli abgerissen und beide Standseilbahnen werden stillgelegt und abgebaut. 1968 gibt das Grand Hotel Campo dei Fiori seinen Betrieb auf, während das Palace Grand Hotel nahe der Innenstadt Vareses bis heute staunende Gäste empfängt.

Doch vielleicht wird auch Sommarugas Campo dei Fiori, das verlassen auf dem Monte Tre Croci thront, eines Tages aus seinem tiefen Schlaf geweckt werden und die Besucher Vareses wieder begeistern dürfen.

„L´Architetto Giuseppe Sommaruga a Varese“, 2018 herausgegeben von Marco Tamborini in der Schriftenreihe der Societá Storica Varesina, anlässlich der Konferenz vom 7. Oktober 2017 zum Werk des Architekten im Palace Grand Hotel. ISBN 978-88-943941-0-8, 119 Seiten, mit vielen historischen Abbildungen.



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