Ernestine Hipper: Zurückhaltende deutsche Reaktionen auf prämiertes Antikriegsdrama „bemerkenswert“
Die Academy Awards, mehr bekannt als die Oscars, sind die größte Ehrung herausragender Leistungen in der Filmindustrie. Am Sonntag, dem 10. März, wird die 96. Oscar-Verleihung der aus dem Dolby Theatre am Hollywood Boulevard in Los Angeles übertragen.
Was bedeutet es, wenn man als Würdigung für seine Arbeit auf der Bühne den dreieinhalb Kilo schweren Goldjungen in die Hand gedrückt bekommt? Ein Jahr nach ihrem Oscar für „Im Westen nichts Neues“ befragen wir Filmausstatterin Ernestine Hipper, was sich durch so einen Preis verändert, wie sie die Verleihung erlebt hat und was sie jedem raten würde, dem diese Ehre zuteilwird.
Von den insgesamt über 3.000 verliehenen Oscars seit dem Bestehen des Preises sind knapp sechzig an deutsche Produktionen gegangen – davon im letzten Jahr vier für das Netflix-Drama „Im Westen nichts Neues“. Das sind mehr der begehrten Trophäen, als jeder andere deutsche Film je bei einer Verleihung gewinnen konnte. Neunmal war letztes Jahr das Antikriegsdrama nach Erich Maria Remarques Buch nominiert gewesen, viermal fiel der Satz: „…and the Oscar goes to: ‚All quiet on the Western front‘.“ In den Kategorien bester internationaler Film, beste Kamera, beste Filmmusik und bestes Szenenbild. Eine der vergoldeten Statuen steht jetzt bei Ernestine Hipper, die Filmausstatterin von „Im Westen nichts Neues“. Den Preis hat sie im Team mit dem Szenenbildner Christian M. Goldbeck gewonnen.
Wo genau steht Ihr Oscar?
„Den habe ich vorerst sicher und gut bei der Verwandtschaft im Keller untergebracht. Auf dem Rückweg von den Oscars hatte ich ihn im Handgepäck und das Sicherheitspersonal am Flughafen konnte es kaum glauben, dass der echt war. Wie ich selbst auch zu diesem Zeitpunkt. Dann gab es einen Auflauf am Band und alle applaudierten mir, das hat mich sehr gerührt. Jetzt ist er zusammen mit anderen Erinnerungen aus diesen verrückten Tagen in Los Angeles in meiner Oscar-Kiste: Das First-Class-Flugticket, mit dem Netflix mich vom damaligen Drehort Thailand einfliegen ließ und danach zurück zu den nächsten Dreharbeiten nach Island. Dann die mit meinem Namen geprägte Johnny-Walker-Flasche von einer der Pre-Oscar-Veranstaltungen und mein Umschlag mit allen Eintrittskarten für das Dolby Theatre und den Events der Oscar-Nacht. In der Oscar-Kiste sind aber auch zum Beispiel meine extra für die Oscars gekauften High Heels. Übrigens, ein im wahrsten Sinne des Wortes blutiger „Anfänger“-Fehler: Jeder, der in so eine Verlegenheit kommt, sollte gut eingelaufene Schuhe anziehen, ansonsten geht es ihm wie mir auf dem gefühlt kilometerlangen roten Teppich hin zum Dolby Theatre. Auf der Vanity-Party im Anschluss trug ich jedenfalls Arbeitsboots unterm Abendkleid.
Mal abgesehen von den richtigen Schuhen, was können Sie noch jemanden raten, der in solch eine Situation kommt, bei den Oscars eingeladen zu sein, möglicherweise sogar als Nominee?
Ich wollte eigentlich nie ins Scheinwerferlicht, habe immer im Hintergrund gearbeitet und war hier mit viel Enthusiasmus, Kreativität und Pragmatismus bei der Sache. Das ist es auch, was man braucht in meinem Job als Set-Dekorateurin. Zuerst waren wir mit „Im Westen nichts Neues“ für den BAFTA Award 14-mal nominiert in 15 Kategorien. Hierfür hatte ich mir zum Glück im Vorfeld Gedanken über eine mögliche 30-Sekunden-Rede oder Danksagung gemacht und diese auch ein paarmal auf irgendwelchen Autofahrten geübt. Mit der Nachricht der Oscar-Nominierung kam die Einladung nach Los Angeles, zu der auch ein Begleitprogramm zur Verleihung dazugehörte. Am Abend vor den Oscars waren wir von der Art Directors Guild eingeladen, zusammen mit allen anderen Nominierten in der Sparte Production Design. Versammelt waren die Meister ihrer Klasse, die Filme Avatar, Babylon oder Elvis und The Fabelmans ausgestattet hatten. Ich spürte nicht nur eine große Wertschätzung und Solidarität unter den Kolleginnen und Kollegen, sondern nach diesem Abend war uns klar: Hiergegen sind wir kleine Lichter, wir werden den Oscar niemals bekommen. Sie werden es nicht glauben, aber das fühlte sich erst einmal an wie eine große Erleichterung, der Druck war weg. Als wir dann bei der Verleihung von Hugh Grant auf die Bühne gerufen wurden, konnte ich es nicht fassen. Ein unbeschreiblicher Moment.
Ansonsten war für mich vorher eines klar, ob ich gewinne oder nicht, ich will mich an dem Tag im Rampenlicht sicher fühlen in meiner Haut und so hatte ich mich auch auf den Abend vorbereitet: Eine Freundin und Maskenbildnerin aus LA präparierte mich für den Abend, im Vorfeld habe ich mir ein Kleid schneidern lassen. Im Nachhinein würde ich noch einen guten Hairstylisten bemühen und mindestens ein bis zwei Interview- oder Kameratrainings absolvieren. Und auch wenn das angesichts der Chance auf einen Oscar banal klingen mag – gut eingelaufene Schuhe nicht vergessen! Ein weiterer Tipp für solche Abende: Nehmt eine Begleitung mit, die sich wirklich mit Euch freut und Euch unterstützt, denn es ist eine emotionale Achterbahnfahrt!
Würden Sie sagen, Sie haben den Oscar verdient?
Ich arbeite seit meinem 18. Lebensjahr in der Branche, zumindest habe ich mir meine Sporen verdient, wenn man so will. Das Filmbusiness, jedenfalls mein Teil davon, hatte kaum etwas mit roten Teppichen zu tun, vielmehr mit harter Arbeit und einem Hangeln von Jobs zu Jobs, von Projekten zu Projekten. Man muss dazu geboren sein oder sich zumindest berufen fühlen. Ich habe lange auch in der Werbung gearbeitet. Nicht nur die Erfindung des Raffaelo-Hutes, auch das rote Rotkäppchen-Kleid geht quasi „auf meine Kappe“. Im Filmalltag war ich in meinem Segment eher mit den alltäglichen Herausforderungen beschäftigt. Bei „Im Westen nichts Neues“ war die größte Herausforderung, in nur zehn Wochen das gesamte Schlachtfeld auszustatten.
Viele Requisiten mussten zum Set bei Prag herangeschafft werden, aber ich durfte nicht reisen durch die Corona-Zeit. Schließlich kam über Umwege ein Lkw mit Requisiten aus London, unter anderem mit 5.000 Metern Spezialstacheldraht mit Gummistacheln, von denen jeder einzelne Stachel angeklebt war. So konnte ich zum künstlerischen Aspekt beitragen, indem mir am Ende auch das logistische Meisterwerk gelang. Wenn ich mich für einen Film entscheide, vertiefe ich mich bis ins Detail, das ist für mich Teil des Kreativprozesses. Deshalb wollte ich auch anfänglich das Angebot für „Im Westen nichts Neues“, einem Film, dessen Haupthandlung im Krieg spielte, nicht annehmen. Denn das macht etwas mit einem. Durch die Corona-Situation, in der es kaum Jobs für Filmschaffende gab, schlug ich dann doch ein. Bei den Dreharbeiten hat mir dann geholfen, dass ich mir gesagt habe, dass ich eine Dokumentation über die Vergangenheit ausstatte. Auch wenn sie das Grauen des Krieges zeigt, das im Grunde zeitlos ist.
Jetzt hatte mit „Im Westen nichts Neues“ vor einem Jahr ein Antikriegsfilm gewonnen. Zu diesem Zeitpunkt lief bereits der Ukraine-Krieg, andere kriegerische Konflikte bahnten sich an. Besteht da aus Ihrer Sicht ein Zusammenhang?
Die Oscars sind der größte Preis und die höchste Ehre für uns Filmschaffende. Seit Jahren verfolge ich die Oscar-Nacht, jeder in der Branche tut das. Nicht nur, dass ich jemals zu den Preisträgern gehöre, erschien mir unvorstellbar, auch, dass in diesen Zeiten ausgerechnet ein Antikriegsfilm abräumt. Allerdings, und das war auffällig, die Reaktionen aus Deutschland waren verhalten. Während viele internationale Kollegen, auch aus den Vereinigten Staaten, mit denen ich irgendwann gearbeitet hatte, überschwänglich und herzlich gratulierten, waren meine deutschen Kollegen eher zurückhaltend. Auch das Presseecho zum Film war sehr verhalten, teilweise wurde der Film von der Presse sogar „schlechtgeschrieben“. Wenn man bedenkt, dass neun Oscar-Nominierungen deutsche Filmgeschichte sind, ist das schon bemerkenswert. Und ernüchternd. Dass das mit der neu aufgeflammten Kriegslust der deutschen Politik und den nach meinem Beobachten kritiklos flankierenden Medien zu tun hat, kann ich an dieser Stelle nur vermuten.
Rennen Ihnen wenigstens die deutschen Filmproduktionen die Tür ein? Oder klingelt jetzt Hollywood regelmäßig bei Ihnen an?
Auch das ist etwas ernüchternd, um ehrlich zu sein. Ich hangele mich nach wie vor von Produktion zu Produktion. Auch wenn die ganze Branche gerade schwächelt, mein Eindruck ist hier, dass von den deutschen Filmproduktionen der Oscar vielleicht sogar möglicherweise als Hemmnis denn als „Buchungsargument“ gesehen wird.
Auch wenn mir das ziemlich deutsch erscheint, ich bin mit Herz und Seele Bayerin und suche im Moment auch wieder eine bezahlbare (lacht) Wohnung in München. Hier bin ich zu Hause. Ebenso denke ich jetzt mit mittlerweile über sechzig daran, meine langjährige Erfahrung und das erworbene Wissen an die Filmschaffenden der Zukunft weiterzuvermitteln. Wer weiß, vielleicht steht ja dann mein Oscar irgendwann in einer Vitrine in der Lobby irgendeiner Uni.
Sonntagnacht ist es wieder so weit, ein Jahr nach Ihrer Oscar-Auszeichnung werden die Awards erneut in Los Angeles verliehen. Haben Sie Tipps für uns?
Inzwischen habe ich sogar aus professionellen Gründen Favoriten. Mit dem Oscar bin ich nun lebenslanges Mitglied der Akademie geworden. Als eines von über 10.000 Mitgliedern aus allen Filmdepartments habe ich die Möglichkeit, selbst zu voten. Darauf bin ich sehr stolz, denn das ist nicht automatisch, sondern die anderen Academy-Mitglieder wählen einen dazu. Das ist eine große Ehre, aber auch eine Verpflichtung.
Ich bin jetzt Teil des Gremiums, das über die Oscar-Vergaben abstimmt. Insofern hat auch für mich der Preis noch einmal eine besondere Bedeutung, denn der Oscar für meine Arbeit wurde mir nicht einfach „zugeteilt“, sondern preisgekrönte Kollegen aus der Branche – die Academy-Mitglieder – haben meine Arbeit beurteilt und für uns abgestimmt. Ganz praktisch heißt das: Ich habe in den letzten Wochen jeden Tag mindestens zwei Filme gesehen und selbst gevotet. Als Academy-Mitglied bin ich in meinem Feld in der Kategorie „Production Design“ stimmberechtigt. Ich bin gespannt, ob ich mit meinem Voting richtigliege.
In diesem Jahr ist unter anderem als beste Hauptdarstellerin die deutsche Schauspielerin Sandra Hüller für ihre Darbietung in „Anatomie eines Falls“ im Rennen. Eine fantastische Leistung, ich wünsche ihr alles Gute und bin gespannt auf die Verleihung. Jedenfalls fiebere ich mit, auch wenn ich in diesem Jahr nur vorm Bildschirm dabei sein kann, wünsche ich den Nominierten einen großartigen, einzigartigen Abend.
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