Ein Märchen: Es ist des Meisters Wunsch, dass Seine Werke dir Freude bereiten
ES WAR EINMAL ein König, der lebte am Rande von Europa. Er besaß ein sehr kleines Königreich, und das meiste davon waren hohe Felsen und undurchdringliche Wälder. Aber im schattigen Garten seiner Burg stand ein Baum, an dem alle sieben Jahre ein goldener Apfel wuchs, und für den war er bekannt in bestimmten Kreisen.
Nun geschah es an einem heißen Nachmittag im Sommer, dass er aus einem hohen Fenster in das Tal tief unten spähte und eine Staubsäule gewahrte. ‚Eine Karawane’, murmelte er da erfreut.
Und etwas später schlug ein Kundschafter mit dem Schwertknauf auf das grosse Tor und schrie: ‚Unsere Prinzessin Diana Aurora kommt zurück von einem Abenteuer im Morgenland. Der Staub ist schlecht für ihren Teint, und ausserdem wünscht sie ein heisses Bad!’
‚Oho’, dachte der König da. ‘Eine Prinzessin!’ Er öffnete das hohe Fenster und rief: ‚Ein heißes Bad sind zwei Goldstücke, Frühstück nicht eingeschlossen!’ Wasser nämlich war rar geworden in diesem heissen Sommer, und er selbst nahm ein Bad nur einmal in der Woche.
Dann putzte er sich die Zähne, zog sein bestes Hemd an und eilte treppabwärts, um seinen Gast zu begrüßen.
Und dabei dachte er: ‚Wenn ihr Vater reich ist und weit weg lebt, nehme ich sie fest und verlange ein Lösegeld. Wenn er in der Nähe wohnt und unangenehm werden könnte, heirate ich sie und verlange eine ordentliche Mitgift. Wenn sie schön aber arm ist, behalte ich sie als Tänzerin. Wenn sie unansehnlich ist und mittellos obendrein, gebe ihr den Kaffee umsonst und lasse sie weiterziehen.’
Derart waren seine Gedanken, denn sein Königreich war klein und seine Untertanen bezahlten Steuern nur mit Murren und oftmals überhaupt nicht. Aber als er ihr gegenüberstand, verflogen diese Pläne wie ein Nebelstreif in der Morgensonne.
Sie war schlank und biegsam und köstlich, und ihre Augen waren herbstfarben und klar wie Wassertropfen und funkelten mit hellem inneren Lachen, etwas, das er an Frauen mehr mochte als alles andere.
Als sie Kaffee tranken, berührten sich ihre Hände, und es war wie eine Entladung elektrischer Energie. Beide waren die ganze Nacht wach, und sie erzählte ihm von ihrer Vorliebe für Märchen, von ihrer Stadt am anderen Ende des Meeres, von den Menschen, Bächen und Gärten, vom Gesang und Gelächter, und der nie ersterbenden Musik.
‚Hier oben ist es still’, flüsterte er. ‚Man hört nichts außer dem Wind, und manchmal den Schrei eines Falken auf der Jagd…’
Und so lauschten sie gemeinsam der Stille des Tals, und die Augen des Mädchens waren wie schimmernde Seen, in denen sich die unendlich langsame Wanderung der Gestirne widerspiegelte, und irgendwann wünschte er sich, dass die Nacht niemals enden möge. Aber er wusste, dass der Hahn im Hof schon die Federn schüttelte, zum Krähen bereit, wenn die ersten rosigen Lichtfinger die Zinnen der Burg berührten.
Als sie gegangen war, fühlte er sich, als wäre der Frühling für nur eine Nacht in sein Land gekommen und danach für immer entflohen. Er rief seinen Zauberer herbei und sagte: ‚In meinem Herzen ist ein maßloses Gefühl der Leere. Heile mich!’
Als die Nacht kam, führte der Zauberer seinen König in den Garten der Burg. Da stand ein mächtiger Kaktus, und zwischen seinen Stacheln war eine große goldene Blume entsprungen. Der Zauberer sagte: ‚Betrachte diese Blume, denn morgen bei Sonnenaufgang wird sie sich schließen und nie wieder öffnen!’
Da betrachtete der König die Blume Stunde um Stunde, und erinnerte sich an ihr Lächeln und ihre Küsse, und fühlte nicht den kühlen Nachttau auf seiner Stirn. Dann schlief er ein, und als er erwachte, stand die Sonne schon hoch im Himmel. Die Blume war längst verwelkt und zusammengefallen, aber ihre Schönheit brannte noch immer in seinem Gedächtnis wie ein Ring aus Feuer.
Er rief seinen Zauberer und fragte: ‚Was bedeutet dies alles?’ ‚Alles ist vergänglich’, sprach der Zauberer. Der König starrte für eine Weile in das weite leere Tal. ‚Es stimmt mich traurig‘, sagte er dann.
Da gab der Zauberer diese Antwort: ‚Es ist des Meisters Wunsch, dass Seine Werke dir Freude bereiten. Aber dorthin ist es ein langer Weg!’
Der König dachte lange über diese Worte nach, und sie erschienen ihm wie jener dichte Nebelstreif, hinter dem sich manchmal die Morgensonne verbirgt.
An einem winddurchtosten Tag im Frühling sattelte er sein Pferd und ritt hinunter zur Küste. In einem alten Hafen erstand er eine kleine Schaluppe und segelte davon, um eine Antwort auf seine Fragen zu finden.
Und während der langen Nachtwachen, als die Wellen sacht gegen den hölzernen Bug schlugen und Delfine im grünlich schimmernden Kielwasser spielten, erdachte er ein Märchen, um es eines Tages in einer Stadt abzuliefern, in der die Musik niemals erstarb.
Aber niemand kann sagen, ob es je dazu gekommen ist, denn alle Spuren hat der Wind längst verweht und viele Wolken sind seitdem über die Meere gezogen. Und wer weiß: vielleicht ist dies nur eine kleine Legende, von Fahrendem Volk erzählt in nächtlicher Stille am Lagerfeuer, um die Schatten zu vertreiben.
vielen Dank, dass Sie unseren Kommentar-Bereich nutzen.
Bitte verzichten Sie auf Unterstellungen, Schimpfworte, aggressive Formulierungen und Werbe-Links. Solche Kommentare werden wir nicht veröffentlichen. Dies umfasst ebenso abschweifende Kommentare, die keinen konkreten Bezug zum jeweiligen Artikel haben. Viele Kommentare waren bisher schon anregend und auf die Themen bezogen. Wir bitten Sie um eine Qualität, die den Artikeln entspricht, so haben wir alle etwas davon.
Da wir die Verantwortung für jeden veröffentlichten Kommentar tragen, geben wir Kommentare erst nach einer Prüfung frei. Je nach Aufkommen kann es deswegen zu zeitlichen Verzögerungen kommen.
Ihre Epoch Times - Redaktion