Durch die Dunkelheit zur Freude des Ostermorgens
Die Mauern des Familienpalastes der Adelsfamilie Scrovegni sind seit Jahrhunderten verschwunden. Nur eine schlichte Backsteinkapelle erinnert noch daran, dass der Bankier Enrico Scrovegni und sein Adelsgeschlecht eine gewichtige Rolle im Padua des frühen 14. Jahrhunderts gespielt hat.
Im letzten Moment gerettet
500 Jahre später, im 19. Jahrhundert, war schließlich auch der Abriss der Scrovegni-Kapelle beschlossene Sache. Nur dem beherzten Eingreifen eines Einzelnen, dem Paduaner Kunsthistoriker Marchese Pietro Selvatico, hat die Menschheit den Erhalt des Schatzes zu verdanken, den diese Kapelle birgt. Ein Schatz, der aus bemaltem Putz auf Ziegelmauerwerk besteht und jedes Jahr Abertausende tief berührt.
In der Betrachtung des raumfüllenden Bilderreigens, den Giotto di Bodone al fresco mit flüssigen Farbpigmenten auf frischem Kalkputz schuf, versinken Betrachter unweigerlich in andächtiges Staunen.
Geniale Meisterschaft
Ein großer Meister und seine Gehilfen waren hier zwischen 1304 und 1306 am Werk. Möglich erscheint sogar, dass Giotto bereits die Baupläne der Kapelle beeinflusst haben könnte. Denn bewundernswert harmonisch ist das Zusammenspiel zwischen architektonischer Gliederung des Bauwerks und dem Bildprogramm, das seine Innenwände über und über bedeckt.
Der Maler und Architekt Giotto di Bodone, geboren um 1270 in der Nähe des kleinen toskanischen Städtchens Vicchio, 30 Kilometer nordöstlich von Florenz, war zum Zeitpunkt der Beauftragung durch Enrico Scrovegni bereits ein hoch angesehener Künstler.
Fresken zum Leben des Heiligen Franziskus für die Basilika San Francesco im umbrischen Assisi und Werke für Papst Bonifatius VIII. und Benedikt XI. in Rom hatten seinen Ruf und Ruhm als führenden Künstler seiner Epoche begründet.
Für Enrico Scrovegni war dies sicher ein wichtiger Grund, gerade Giotto für die Arbeit an der Familienkapelle zu gewinnen. Als erfolgreichem Bankier war es ihm darüber hinaus ein Leichtes, die Kosten zu schultern.
In der siebten Hölle Dante Alighieris
Sorge muss dem gläubigen Christen jedoch der Umstand bereitet haben, dass sein verstorbener Vater und er selbst einen großen Teil des Familienvermögens durch das Verleihen von Geld erworben hatten. Das Zinswesen galt jedoch als kaum vereinbar mit dem Leben eines Christen, insbesondere die Gier des Wucherers zog und zieht nach biblischem Verständnis Höllenqualen nach sich.
Enricos Vater Reginaldo Scrovegni scheint aber in seiner Zeit für sein unlauteres Geschäftsgebaren bekannt gewesen zu sein. In der „Göttlichen Komödie“, die Dante Alighieri ab 1307 verfasste, wird er zwar nicht namentlich genannt, ist aufgrund von Beschreibungen aber zweifelsfrei als einer der unglücklichen Bewohner der siebten Hölle zu identifizieren.
Sohn Enrico, der Jahrzehnte nach seinem Vater um 1336 verstarb, mag zu seinen Lebzeiten deshalb zwei Fresken von Giotto di Bodone besonders bewegt betrachtet haben.
Bild äußerster Verzweiflung
In zwei direkt nebeneinander liegenden Bildern scheinen die vollkommen gegensätzlichen Gefühlsregungen der Ostertage in ergreifender Weise auf. Durch sie wird wunderbar vor Augen geführt, warum gerade Ostern das Fest gläubiger Zuversicht und wahrhafter Freude ist.
Im Fresko der „Beweinung Christi“ kulminiert alles Leid, alle Verzweiflung und alle Hoffnungslosigkeit der Kartage. Jesu blutleerer Leib liegt nun auf dem Schoß und in den Armen seiner Gram gebeugten Mutter. Die fassungslosen Jünger des toten Nazareners stützen liebevoll Kopf, Hände und Füße ihres toten Lehrers. Ihre Gesichter sind von tiefem Schmerz gezeichnet. Worauf sie hofften, woran sie glaubten, hat ihnen der Tod entrissen.
Wie einst, als sie aus tiefster Dankbarkeit Jesu Füße wusch und trocknete, ist Maria Magdalenas offenes Haar dem Gottessohn ganz nah. Wie sie kauern die Frauen in sich zusammengesunken um den Leichnam. Johannes beugt sich fassungslos zum geliebten Meister herab. Petrus und sein Bruder Andreas versuchen, Fassung zu bewahren.
Über ihnen allen klagen die Engel. Durch das sphärische Blau des Himmels sind sie in das Trauertal der Erde gelangt. Selbst sie erfasst das Gefühl grenzenloser Ohnmacht mit ganzer Wucht.
Kaum fassbare Wende
Im zweiten Fresko ist der Ostermorgen angebrochen. Alles ist verwandelt. Christus lebt. Er ist wahrhaft auferstanden. Siegreich trägt er die Fahne des Kreuzes, das nun zum Symbol der Hoffnung geworden ist.
Leid, Tod und Dunkelheit hat Jesus aus Liebe für die Menschheit durchschritten und überwunden. Jetzt ist es an den Menschen, ihn als ihren liebenden Herrn und Gott zu erkennen.
In heiterer Gelassenheit sitzen zwei Engel auf dem Rand des geöffneten steinernen Sarkophags. Ihre Gewänder sind festlich, innere Freude strahlt aus ihren Gesichtern. Zu ihren Füßen schlafen die Wachen den tiefen Schlaf der Unwissenheit. Maria Magdalena jedoch wird zur wahrhaft Sehenden.
Vor wenigen Sekunden hat sie am leeren Grab noch verzweifelt nach Jesus gesucht. Ohne erfassen zu können, was geschehen ist, hat sie flehentlich nach ihm gefragt – ihn selbst. Er gibt ihr keine Antwort. Stattdessen nennt er sie bei ihrem Namen. Sie erkennt ihn, sinkt auf die Knie, streckt ihre Hände zu ihm aus und sagt nur ein einziges Wort: Rabbuni. Meister.
Seine Handbewegung ist Gruß, Segen und sanftes Sich-Entziehen zugleich. Er ist auf dem Weg zu den Jüngern. Auch ihnen wird er erscheinen und neue – nun unerschütterliche – Hoffnung schenken.
Unerschütterliche Zuversicht
Diesen schier unfassbaren Wandel von tiefster Verzweiflung zur österlichen Freude erzählt Giotto di Bodone in der Scrovegni-Kapelle unvergleichlich bildmächtig und berührend.
Auch Enrico Scrovegni und seine Familie mögen für ihre Ahnen und sich selbst immer wieder Hoffnung und Zuversicht aus Giottos tief religiösen Gemälden geschöpft haben.
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